Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Zeitung — 1899 (Januar bis Juni)

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.39312#0560

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vor Kurzem sind wieder mehrere größere Grundstücke in
der Chinesenstadt versteigert worden. Zwei von ihnen
gingen in die Hände bekannter deutscher Geschäftsleute in
Schanghai über, die daraus billige Wohnungen für Chi-
nesen errichten wollen. Ein Holzlagerplatz, den eine Firma
in Tsintau auf ein paar Jahre pachtete, brachte einen
2'/zMal so hohen Pachtzins, als der Anschlag gewesen
war. Das sind zweifellos deutliche Zeichen eines wachsen-
den wirthschaftlichen Aufschwunges.
Baden. Weinheim, 29. Mai. Die Sozial-
demokraten stellten Herrn Lithograph Sommer hier
als Kandidaten für die Landtagswahlen auf.
Mccklenburg-Strelitz. Neustrelitz, 27. Mai. Der
Mecklenburg-Strelitzer Landeszeitung zufolge hat die ge-
sammte Geistlichkeit des Landes eine Erklärung an den
Grobherzog verfaßt, die das tiefste Bedauern über den be-
vorstehenden Confessionswechsel der Herzogin
Jutta anläßlich ihrer Vermählung mit dem Erbprinzen
von Montenegro und den Wunsch ausspricht, der Uebertritt
möge sich noch verhindern lassen._
Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben de"
nachstehenden Offizieren, Beamten und Unteroffizieren des König-
lich Preußischen Garde-Kiirassier-Regiments in Berlin folgende
Auszeichnungen verliehen: s. das Ritterkreuz des Ordens Berthold
des Ersten: dem Kommandeur Oberstleutnant Grafen von
Hohenau, Flügeladjutanten Seiner Majestät des Kaisers und
Königs; b. das Ritterkreuz 1. Klasse des Zähringer Löwen-
Ordens: dem Major Grafen von Schwerin beim Stabe des
Regiments; o. das Ritterkreuz 2. Klasse desselben Ordens: den
Oberleutnants von Lepel und Freiherrn von Für st e ri-
tz erg, den Leutnants Grafen zu Eulen bürg und von
Fle Mining (Heino) und dem Zahlmeister Korn; ä. das
Verdienstkreuz vom Zähringer Löwen: dem Büchsenmacher Wil>
Helm Greifeld und dem Regimentssattlermeister Ferdinand
Haase; s. die silberne Verdienstmedaille: dem Wachtmeister
Wilhelm Zybell, dem Wachtmeister und Zahlmeister-Aspiranten
Franz Kohl, dem Vice-Wachtmeister und Regimentsschreiber
Karl Seifert und dem Vice-Wachtmeister Alexander Reinke.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben dem
Kammerherrn und Hofjägermeister Freiherrn Schilling von
Canstatt in Karlsruhe die Erlaubniß zur Annahme und zum
Tragen des ihm verliehenen Königlich Preußischen Kronen-Ordens
zweiter Klasse erlheilt, dem Kammerherrn und Geheimen
Legationsrath Freiherrn Marschall von Bieber st ein in
Karlsruhe die Erlaubniß zur Annahme und zum Tragen des
ihm von dem Sultan verliehenen Kaiserlich Türkischen Osmanie-
Ordens zweiter Klasse erthetlt.
Karlsruhe, 29. Mai. Der Großherzog empfing
heute Vormittag den Staatsminister Dr. Nokk und dar-
nach den Präsidenten des Finanzministeriums, Geheimerath
Dr. Buchenberger, welcher gestern von Berlin wieder hier
eingetroffen ist, zur Vortragserstattung. Morgen Mittag
reisen der Kronprinz, die Kronprinzessin und Prinz Gustav
von Schweden und Norwegen nach Koblenz zum Besuch
der erbgroßherzoglichcn Herrschaften und gedenken von
dort aus die Königin von Schweden und Norwegen in
Honeff zu besuchen. Die Rückkehr nach Karlsruhe ist für
den 2. Juni in Aussicht genommen. Der Großherzog
und die Großherzogin werden morgen, den 30. ds., Abends
nach Kiel reisen. Dieselben folgen einer Einladung des
Kaisers zur Feier des Stapellaufes des Linienschiffs „Er-
satz König Wilhelm", welcher am 1. Juni stattfindet.
Ihre Königlichen Hoheiten beabsichtigen, am 31. Vormit-
tags in Kiel einzutreffen und am 1. Juni Abends die
Heimreise wieder anzutreten. Der Kaiser und die Kaiserin
treffen am 31. Abends in Kiel ein und werden am 1. Juni
Abends von dort wieder abreisen.

Ausland.
Frankreich. Paris, 29. Mai. General Gallieni ist
außer der Reihe zum Divisionskvmmandcur ernannt worden.
— Der Berichterstatter des Figaro meldet, die französischen
Aerzte, die zur Theilnahme an dem Tuberkulosen-Kongreß
in Berlin anwesend find, seien über die ihnen in der
deutschen Hauptstadt zucheil gewordene Aufnahme geradezu
entzückt.
Paris, 29. Mai. Vor dem Schwurgericht begann
heute der Prozeß gegen Döroulsde und Hadert,
die am 23. Februar nach dem Leichenbegängniß Faures
den General Roget hatten verleiten wollen, nach dem
Elysöe zu marschiren. Der Vorsitzende verhört zunächst
Dsroulade. Dieser bekämpft in seinen Aussagen die
Parlamentarier und die Juden und erklärt, sein Vorgehen
sei reiflich überlegt gewesen. Daroulsde sucht in weit-
schweifigen Ausführungen nachzuweisen, daß der Panama-
handel, der Fall Dreyfus und der Parlamentarismus
Frankreich aufzehren, und spricht gegen die Wahl Loubets
und für eine plebiscitäre Republik. Er habe nicht beab-
sichtigt, die Soldaten von ihrer Pflicht abspenstig zu
machen, sondern habe nur General Roget mit sich fort-
reitzen wollen. Nach dieser Rede wird die Sitzung unter-
brochen. Nach ihrer Wiederaufnahme wird Habert befragt.
Er gibt zu, daß er eine Revolution habe herbeiführen
wollen, bestreitet aber, die Soldaten zum Ungehorsam auf-
gereizt zu haben, da er immer nur den General Roget
habe fortreißen wollen.
Afrika. Kapstadt, 29. Mai. Der Gouverneur der
Kapcolonie, Sir Alfred Mi ln er, ist heute Morgen zur
Conferenz mit Krüger nach Bloemfontein abgereisr.

Bon der Friedenskonferenz.
Am Freitag hat der russische Delegirte Raffolowitsch
der dritten Kommission der Konferenz Material vorgelegt,
das den Vorschlag eines Schiedsgerichtes enthält für
den Fall, daß zwei Mächte in Streit gerathen und diesen
durch ein Schiedsgericht beilegen wollen. In drei Ab-
theilungen werden in seinem Vorschlag „gute Dienste und
Vermittlung", dann „das Schiedsgericht" selbst und end-
lich eine „Internationale Prüfungs-Kommission" behandelt.
In der ersten Abtheilung wird vorgeschlagen: Die auf
der Konferenz vertretenen Mächte sollen erklären,
daß sie bei vorkommenden Streitigkeiten nicht zur Kriegs-
erklärung schreiten, ohne zuvor die guten Dienste

einer neutralen Macht in Anspruch genommen zu
haben, und daß in jedem Falle die Neutralen berechtigt
ind, nöthigenfalls die Initiative zu ergreifen und den
Streitenden ihre Dienste anzubieten. Die zweite Ab-
theilung handelt dann vom Schiedsgericht; sie schlägt vor,
diesem alle Fragen zu unterbreiten, welche nicht die nationale
Ehre oder die Lebensintercssen der Nationen berühren.
Für eine gewisse Anzahl von Fragen soll das Schiedsgericht
obligatorisch gemacht werden. Die Mächte sollen sich nicht
ür alle Fälle binden, sondern unter einander so rasch als
möglich Schiedsgerichts-Verträge schließen. Schiedsgerichts-
Gegenstände sollen sein: Alle Münzfragen, die Auslegung
von Verträgen über Ströme, Kanäle, Kabel, geistiges
Eigenthum, Nachdruck, sowie alle Grenzstreitigkeiten, soweit
ie technischner und unpolitischer Natur sind. Schließlich
oll erklärt werden, daß auch in den nicht obligatorischen
Fällen das Schiedsgericht zu versuchen sei, jedoch nicht
ohne die Initiative des einen streitenden Theils und nicht
ohne die Zustimmung des andern. Die dritte Abtheilung
ieht die Errichtung einer Internationalen Prüfungskommis-
sion vor, die Streitigkeiten untersuchen und praktische aber
nicht obligatorische Vorschläge zur Beilegung derselben
machen soll.
Sobald die Mitglieder der Kommission von diesen Vor-
schlägen Kenntniß genomnien hatten, erhob sich Sir Julian
Pauncefote und sprach seine rückhaltlose Zustimmung
zu den russischen Vorschlägen aus. Er fügte bei, es wäre
sehr bedauerlich, wenn die Konferenz auseinanderginge,
ohne den Grundsatz des Schiedsgerichts in permanenter
Form ausgesprochen zu haben; man müsse dies thun, um,
soweit dies gegenwärtig möglich, den Krieg zu einem
Anachronismus zu machen. Dann fuhr er fort: „Ich
bitte nun, in aller Förmlichkeit die Errichtung eines
permanenten Schiedsgerichts Vorschlägen zu dür-
fen, das sich mit allen Streitigkeiten zu beschäftigen hat,
welche Gegenstand eines Schiedsspruchs sein können. Mit
den Einzelheiten und dem Mechanismus eines solchen
Schiedsgerichts will ich Sie jetzt nicht befassen, denn es
handelt sich zunächst um das Prinzip. Ich habe also die
Ehre, Sie zu bitten, ein permanentes Schiedsgericht im
Prinzip anzuerkennen."
Als Sir Julian Pauncefote geendet hatte, erhob sich
Herr von Staal und sagte: „Nachdem Sir Julian
Pauncefote diesen Vorschlag gemacht hat, sind wir in der
Lage, das Ihnen vorgelcgte Material durch weitere Vor-
schläge zu ergänzen, welche die Errichtung eines perma-
nenten Schiedsgerichtshofs zum Zwecke haben." Herr
von Staal zog hierauf einige Aktenstücke aus der Brust«
tasche und vcrtheilte sie; sie enthalten die Vorschläge zur
Errichtung eines ständigen Schiedsgerichts und schlagen
eine Anzahl neuer Bestimmungen zu den bereits bekannten
vor. Dann wurde eine Unterkommission zur Prüfung der
Vorschläge ernannt.
Neben dem russischen Schiedsgerichtsantrag sind bei der
dritten Kommission drei die gleiche Materie betreffende
Vorschläge von England, den Vereinigten Staaten und
Italien eingelaufen. Die mit Prüfung derselben betraute
Spezialkommission setzt sich zusammen aus den Herren
Asser, Descamps, Baron d'Estournelles, Holls, Lammasch,
Martens, Odier und Zorn.
Im Hinblick auf die völlig unzureichenden offiziellen
Mittheilungen aus den Berathungen der Konferenz hat der
Haager Journalistenverein Namens der gesummten Presse
neuerdings Schritte bei dem holländischen Delegirten Karne-
beek gethan, um eine Besserung dieser Verhältnisse herbei-
zuführen. Das gleiche Vorgehen wird von den englischen
Journalisten bei den Delegirten ihres Landes berichtet.

Aus Stadt und Land.
Heidelberg, 80. Mai.
Hl ViSmarcksäulen. Der Plan, Bismarcksäulen allenthalben
auf den Höhen des deutschen Vaterlandes zu errichten, von denen
an festlichen Tagen weithin leuchtende Flammen auflodern sollen,
ist nun soweit gediehen, daß ein Aufruf -an die Bürgerschaft
Heidelbergs erlassen werden konnte, der zu Beiträgen auf-
fordert. 317 Entwürfe für eine zweckmäßige und eigenartige
Gestalt einer solchen Säule waren bei dem Preisgericht, das am
21. April in Eisenach zusammcntrat, eingegangen. Als die besten
Vorlagen wurden bekanntlich die des Architekten W. Kreis in
Dresden anerkannt, der vor einigen Jahren in dem Wettbewerb
um das Völkerschlachtdenkmal den ersten Preis erhalten hat.
Nun gilt es, die Mittel herbeizuschaffen, um den Entwurf in
möglichst großartigen, des großen Knnzlers würdigen Maßen
auszuführen. Der Aufruf spricht in begeisterten Worten aus,
was die Herzen der akademischen Jugend bewegte, als sie zu
diesem patriotischen Gedanken die erste Anregung gab; er wird
sicher in unserer nationalgesinnten Bürgerschaft, die im Neckar-
thal wie in der Rheinebene die unvergessenen Denkmäler deutscher
Ohnmacht und fremden Uebermuths vor Augen hat, den lebhaf-
testen Widerhall finden. Schon schmückt unsere städtischen An-
lagen die mächtige Büste unseres gewaltigen Bismarck, vom Ab-
hang des Königsstuhls grüßt die Bismarckhütte, möge bald an
anderer bedeutsamer Stelle die Säule sich erheben, die mit
Flammenzeichen über die Rheincbenc hin von der deutschen Ein-
heit redet, die Bismarcks Kraft uns erringen half. Darum laßt
uns nicht gleichmüthig hinter der begeisterten Freudigkeit der
akademischen Bürger Zurückbleiben, möge jeder nach seinen Mit-
teln beisteuern, damit das geplante Werk in herrlicher Weise
ersteht, uns selber zur Freude, und auch für die kommenden
Jahrhunderte ein ragendes Denkmal der stolzen nationalen
Gesinnung, mit der wir Bismarck und sein Werk im Herzen
tragen.
O Ueber de» Staffettenla»f von Frankfurt nach Heidelberg
am letzten Sonntag wird noch berichtet: Ein Staffettenlauf in
dieser Ausführung ist in Deutschland noch nicht durchgeführt
worden. In Abständen von je 500 Metern war eine Relatskette
aus einzelnen Staffettenläufern gebildet. Am Start nahm der
erste Läufer, der früh 7 Uhr von der Jsenburger Warte in
Frankfurt a. M. abging, die zu überbringende Depesche, mit der
linken Hand ab, nahm den Gegenstand während des Laufens in
die rechte Hand und gab ihn am Ziele vorsichtig dem folgenden
Läufer. Es wurde tüchtig gelaufen. Im Durchschnitt wurde
die einzelne 500-Meter-Strecke in 90 Sekunden durchmessen. Weg
und Wetter waren allerdings sehr günstig gewesen.
Konzert der Vanda-Municipale aus Solmona. Die weithin
berühmte und beliebte italienische Kapelle „Banda-
Municipale" wird nächsten Samstag Abend in der Schloß-
Restauration ein Konzert (mit italienischer Nacht) geben. Auf
ihrer letzten Reise durch Deutschland hat die Kapelle überall die
größten Erfolge erzielt und reichen Beifall geerntet; so schreibt ein

NürnbergerBlatt über ein dort veranstaltetes Konzert u. A.:
„Es war ein schöner Abend!" Das war das übereinstimmende
Urtheil aller Besucher des Konzertes der solmonesischen Munizipal-
kapelle im Etablissement „Rosenau". Das eigentliche Wesen der
Kunst der Italiener, die Seele derselben ist das Temperament,
ein ursprüngliches musikalisches Empfinden. Sie verleugnen das
auch nicht in Tonschöpfungen nichtitalienischer Meister und
drücken diesen gewissermaßen ihren nationalen Stempel auf.
Elementar kommt das zum Ausdruck in den Weisen ihrer Heimath
und sie reißen damit auch den Hörer fort; die Begeisterung, mit
der sie diese spielen, geht unwillkürlich auf das Auditorium über.
Daher der große Erfolg.
— Polizeibericht. Ein Dienstmädchen, das seiner Dienst-
herrin eine goldene Brosche im Werth von 25 Mark entwendet
hatte, wurde verhaftet; sechs Personen kamen in vergangener
Nacht wegen Unfugs und Ruhestörung zur Anzeige.
Mannheim, 29. Mai. Der Chef des hiesigen Laufsport-Clubs,
Herr Peter Schimpf, früher Turnwart des Turnvereins Hoff-
nung aus Mülhausen i. Elf-, vollführte am letzten Samstag eine
großartige Leistung. Er umlief nämlich die hiesige Rennbahn
außerhalb (510) Meter) 80 mal in einer stunde, hat somit
16 Kilometer 500 Meter in der Stunde zurückgelegt. Für diese
Leistung erhielt er vom Loufsport-Club eine goldene Medaille
nebst Diplom. Schimpf ist im Besitze von 8 ersten Preisen und
hat mehrere hervorragende Läufer verschiedener Länder besiegt. —
Am Sonntag, den 4 Juni, Rachmittags 4 Uhr, findet auf der
Rennbahn ein Wettlauf statt zwischen Herrn Schimpf und Herrn
Arnold aus Mannheim (letzterer ebenfalls tüchtiger Läufer). Die
Bedingungen lauten: 30 Runden außerhalb der Rennbahn, wer
die kürzeste Zeit zu diesen Runden gebraucht, ist Sieger.
Pforzheim, 29. Mai. Nach einer Meldung der Bas. Land-
post soll das Leiden des Herrn Reichstagsabgeordneten Agster
„Verfolgungswahn", tbatsächltch ein sehr vorgeschrittenes sein.
8.L. Konstanz, 20. Mai. Der Schlittenfahrerprozeß wurde heute'
beendigt. Das Urtheil lautete gegen Ern auf 5 Jahre
Zuchthaus, 8 Jahre Ehrverlust und 3150 Mark Geldstrafe.
Aus Baden. Wie erst jetzt bekannt wird, wurde vor einigen
Tagen im Walde zwischen Einbach und Waldhausen von
einem etwa 40 Jahre alten, dem Namen nach bis jetzt unbekannten
Radfahrer an einem Mädchen von 11 Jahren ein Sittlichkeits-
Verbrechen im Sinne des Z176 Abs. 3 R.-St.-G.-B. verübt. Der
Wüstling kam von Würzburg und wollte angeblich nach Heidel-
berg und Mannheim fahren. Die Gendarmerie und die Kriminal-
polizei fahnden eifrig nach dem rohen Menschen.

Bom Kongreß zur Bekämpfung der
Tuberkulose.
iv.
Berlin, 27. Mai.
Vormittags-Sitzung.
Der Verhandlungsgegenstand des letzten Kongreßtages war,
wie schon kurz mitgetheilt, das H e i l st ä t t e n w e? e u. Der
Reichstagssaal war dicht gefüllt. Zahlreicher als an den vorher-
gehenden Tagen waren die Vertreter der Krankenkassen er-
schienen. Geheimrath Fränkel macht die Mittheilung, daß der
Kongreßpreis für die beste Arbeit zur Bekämpfung der Tuber-
kulose von 3000 Mk. auf 4000 Mk. erhöht sei.
Darauf spricht Geheimrath vonLeyden über diegeschicht-
liche Entwicklung der Heilstättenbestrebung.
Er rühmte zunächst den Antheil Englands an der Heilstätten-
bewegung. Die Zahl der Betten für Tuberkulose sei dort größer
als in irgend einem anderen Lande. Auch in Oesterreich, Frank-
reich, Rußland, Amerika, Spanien, der Schweiz und Schweden
ist viel auf diesem Gebiete geschehen, wie im Einzelnen ans-
geführt wurde. Die erste Anregung zur Gründung von Heil-
stätten ging von Aerzten aus. Als erste große That ist die
Eröffnung der Dettweiler - Volksheilstätte in Falkenstein im
Jahre 1892 zu erwähnen. Im gleichen Jahre machte Direktor
Gebhardt-Lübeck den Vorschlag, daß tuberkulöse Versicherte in
Heilstätten ausgenommen werden sollten. Das Reichsversicherungs-
amt nahm diesen Vorschlag auf. Die erste selbständige Anstalt
wurde im Jahre 1897 in Andreasberg im Harz errichtet. Leydens
Vortrag auf dem Kongreß in Budapest im Jahre 1894 gab für
die Bewegung weitere Anregung. Das unter dem Vorsitz des
Reichskanzlers Fürsten zu Hohenlohe begründete Centralkomitee
für die Errichtung von Lungenheilstätten hat in fruchtbarster
Weise zur Centralisirung und Zusammenfassung der ausgebreiteten
Bestrebungen beigetragen. 33 Volksheilstätten sind jetzt in Deutsch-
land theils im Betriebe, theils in der Errichtung begriffen. Be-
sonders die Provinz Sachsen ist dank dem energischen Wirken des
Oberpräsidenten von Bötticher und seiner Gemahlin auf diesem
Gebiete in eifrigster Thättgkeit.
Nach v. Leyden sprach Landesrath Meyer über die finan-
ziellen und rechtlichen Träger der Heilstätten-
unter nehmungen. Nachdem einmal nach dem heutigen
Stande der Wissenschaft die hygienisch-diätetische Methode als
wirksames Heilmittel gegen die Tuberkulose erkannt ist, gilt es,
unbekümmert um die Möglichkeit anderer Behandlungsmethoden
und die Hoffnungen, die sich hieran knüpfen, ungesäumt derartige
Hilfsmittel in's Leben zu rufen. Um für alle Tuberkulösen zu
sorgen, müßten 25000 Betten geschaffen werden, die eine Baar-
summe von rund 100 Millionen erfordern. Eine solche Aufgabe
kann nicht dem aufopferungsvollen Bemühen Einzelner und der
Liebesthätigkeit freier Vereinigungen überlassen bleiben. Ihre
Lösung ist nur möglich durch finanzielle Unterstützung der staat-
lichen und behördlichen krankenfürsorgepflichtigen
Organe. Ein besonders wesentliches Interesse daran, ihren
Kranken Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu verschaffen, haben vor
Allem die Arbeitgeber, die sich geschickte und tüchtige Arbeitskräfte
sichern und erhalten wollen, die Krankenkassen, die durch gebotene
Abwehr wiederholter, langdauernder Krankheiten sich zu entlasten
bestrebt sind, die Jnvaliditäts- und AUersocrsicherungsanstalteN
und Berufsgenossenschaften, die darauf bedacht sein müssen, daß
die Krankqeit nicht zu dauernder Erwerbsunfähigkeit und damit
zur Rentenzahlung führt, oder daß diese Folge doch, soweit als
möglich, htnausgeschoben wird. In erster Linie aber ist der
Staat selbst au der Herstellung gesundheitsmäßiger und der Be-
seitigung gesundheitswidriger Verhältnisse interessirt behuft
Sicherung und Erhaltung der Volksgesundheit, Mehrung der
Volkswehrkraft und des Volkswohlstandes. Ebenso wie der
Staat bet der Bekämpfung der Lepra, der Granulöse mitwirkt-
so muß er auch zur Bekämpfung der Tuberkulose in seines
Etat dauernd Zuschüsse bewilligen.
Dr. Friedeberg, der Vertrauensarzt der Centralkommissiott
der Krankenkassen Berlins, spricht sodann über die Mitwirkung
der Krankenkassen und Krankenkassenärzte bei der Heilstätten.-
fürsorge. Die bisherigen Verhandlungen haben erwiesen, daß
die Tuberkulose heilbar ist, daß auf die Entstehung dieser
Krankheit soziale und wirthschaftliche Verhältnisse, sowie d>f
Berufsthätigkeit den allergrößten Einstich hat. Die Arbeiter
glauben zwar, daß ohne Koalitionsfreiheit eine Ueberwinduns
der Tuberkulosegefahr unmöglich ist, nichtsdestoweniger erkennen
sie an, was die Regierung, wie auch das Centralcomitä des
Vereins zur Bekämpfung der Tuberkulose geleistet hat. ,D>
Krankenkassen haben an der Hetlstättenfürsorge das allergrößt-
Interesse, weil unter keiner Schicht der Bevölkerung die Tuberkulin
solche Verheerungen anrichtet, wie unter der in den Krankenkalftu
organisirten Jndustriearbeiterschaft. Fast die Hälfte aller Tode^
fälle derselben werden durch Schwindsucht verursacht, ebenso m
überwiegende Theil der Jnvaliditätsfälle. Die Krankenkasft'
haben daher nicht nur humane, sondern auch materielle Jnteresfthi
Vor Einführung der hygienisch-diätetischen Methode beliefen
die Kosten jedes Schwindsuchtfalles im Laufe der Jahre au
700—2400, ohne daß damit Hilfe geschaffen werden kam'
Eine rationelle Schwindsuchtsbekämpfung durchzuführen, sind r>
Krankenkassen finanziell nicht in der Lage. Die Jnvaliditäts- ^
Altersversicherungs-Anstalten könne» mit ihren reicheren Mit»
 
Annotationen