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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 91 - No. 100 (19. April - 29. April)
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Die »^Bürgerzeitung"
erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Unter-
haltungsblatt, „Der Erzähler", mit dem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei.

Verkündigungsblatt und Anzeiger
für Stadt und Land.

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S1. »SS.-6. Heidelberg, Mittwoch, IS. April 1«S3.

Der „Bmi> der Lanlmrthc."
Mit Recht hat man den sog. Bund der Landwirthe
als einen Bund für Lebensmittelvertheuerung bezeichnet.
Es ist die roheste und nackteste Vertretung egoistischer
Interessen auf Kosten des allgemeinen Wohles, welche sich
je zusammengeschlossen hat. Sie findet augenblicklich einen
Nährboden in den gewöhnlich niedrigen Lebensmittelpreisen,
welche die in der ganzen Welt so außerordentlich günstige
Ernte von 1892 zur Folge gehabt hat. Der Bund sucht
in den Landleuten die Wahnvorstellung hervorzubringen,
als ob die Staatsgewalt und noch dazu ein einzelner
Staat die Preise machen könne.
In dieser Richtung ist der Bund um so bedeutungs-
loser als bis 1904 die landwirthschaftlichcn Zölle ver-
tragsmäßig nicht erhöht werden dürfen. Die Hälfte der
Conservativen, welche jetzt an der Spitze des Bundes stehen,
hat noch vor kurzem mit den Handelsverträgen der Herab-
setzung der Zölle zugestimmt. Wäre der Handelsvertrag
mit Rußland zum Abschluß reif, so würde der Bund über-
haupt innerhalb seines Programms kein unmittelbar prac-
tisches Agitationsziel haben. Der Abschluß eines solchen
Vertrages hat aber weit mehr Bedeutung in allgemein
Politischer Beziehung und in industrieller Beziehung als
für die Landwirthschaft. Denn das Getreide, was nicht
aus Rußland kommt, wird aus den anderen Vertrags-
staaten eingeführt; der Handelsvertrag mit Rußland ver-
hindert nur eine künstliche Verschiebung des Bezuges,
welcher gerade dem Osten Deutschlands zum Nachtheil
gereichen müßte.
Was sonstige landwirthschaftspolitische Tagesfragen
anbetrifft, so sind die Interessen des Ostens und des
Westens und somit auch der geographischen Gruppen der
Landwirthschaft gerade entgegengesetzt in den Fragen der
Aufhebung des Identitätsnachweises bei der Getreideeinfuhr
und der Staffeltarife der Staatseisenbahnen. Alle andere
Puncte des Bundesprogramms, wie die Erschwerung des
Fvrtwanderns der ländlichen Arbeiter interessieren nur
den ostelbischen Großgrundbesitz. Die Währungsfragc
aber eignet sich überhaupt nicht zur Agitation für die
Waffen.
Die Zuggraft des „Bundes" beschränkt sich dabcr
auf den formalen Appell an die landwirtbschaftlichen Be-
rufsgenossen und auf die Erweckung einer dunklen Vor-
stellung,, als ob durch Agitation die Lebensmittelpreise
N die Höhe getrieben werden könnten. Früher hat man
in dem „Bauernbund" mit einem Appell an die Klein-
grundbesitzer versucht; jetzt wird dieselbe Sache von den-

selben Personen an der Spitze für dieselben Zwecke unter
anderem Namen betrieben, und zwar jetzt wie vordem im
Interesse einer Stärkung der conservativen Partei. Das
-konservative Programm und der conservative Name an sich
ziehen nicht mehr, darum sucht man andere Zugkräfte
vorzuspannen, den Antisemitismus und den „Bund der
Landwirthe."
Im Großen und Ganzen hat die Agitation nur dort
einen erheblichen Boden gewonnen, wo der Großgrund-
besitz entweder vorherrscht oder in erheblichem Umfange
vertreten ist, also in dem ostelbischen Preußen, theilweise
in Mecklenburg und in dem östlichen Theile von Holstein.
Die Agrarier des Königreichs Sachsen hatten sich von
vornherein ablehnend verhalten. Wo der kleinbäuerliche
Besitz vorwiegt, sind die Bestrebungen des Bundes völlig
aussichtslos. In Hessen sind die antisemitischen Bauern-
vereine Böckel'scher Richtung in heftigen Gegensatz zu den
Bundesbestrebungen gerathen.
Bei Neuwahlen zum Reichstag wirb der Bund aus-
schließlich im conservativen Interesse arbeiten, sei es zur
Wahrung des conservativen Besitzstandes, sei es zur Ver-
drängung anderer, namentlich freisinniger Abgeordneten.
Insbesondere in Niederschlesien und Mittelschlesien ent-
faltet der Bund in dieser Richtung eine sehr lebhafte
Tdätigkeit und sucht auf dem Lande die freisinnigen Ver-
trauensmänner in seine Netze zu ziehen. In der Haupt-
sache aber bleiben die Conservativen unter neuem Namen
lediglich unter sich. In Schlesien komnit es auch für
den Ausfall der Wahlen weit mehr aus die Centrums-
partei und die Sccialdemokraten an, als aus die Con-
servativen. Bei den» Reichstagswahlrecht stehen die Guts-
leute der Agrarier ohnehin unter der Botmäßigkeit ihrer
Herren; in den freien Dörfern aber reicht die Verbindung
des Bundes nicht in die für die Stimmenmehrheit maß-
gebenden Schichten herab. Immerhin verdient die unter
der Bundesfirma gesteigerte agitatorische Thätigkeit der
Conservativen auch hier volle Beachtung, zumal sie mit
der antisemitischen Agitation Hand in Hand geht.
Die dauernde Wirkung des Bundes wird bestehen in
ber Sprengung der Schutzzollpartei, der bisherigen Coalition
der landwirtbschaftlichen und industriellen Schutzzöllner.
Denn je rücksichtsloser die Agrarier in dem Bunde
eifern gegen Handelsverträge, gegen den Abzug der
Arbeiter in industrielle Gebiete, überhaupt gegen die Ent-
wickelung der Industrie, desto schroffer werden auch die
schutzzöllnerischen Handelskammern und sonstige Interessen-
vereinigungen herausgefordert, gegen das agrarische Treiben
energisch Front zu machen.

Deutsches Reich.
OHcidelberg, 18.April. UebcrdieVersa m m lung
des Ausschusses der freisinnigen Partei
fürSüdwestdeutschland, die vorgestern dahier im
Grand Hotel tagte, und über die wir in voriger Nummer
bereits einen Bericht brachten, werden uns aus gut unter-
richteter Quelle noch folgende specialisirtere Mittheilungen
gemacht. Erschienen waren zu der Versammlung Ver-
treter aus Frankfurt, Marburg und Wiesbaden für die
preußische Provinz Hessen-Nassau, aus Mainz für das
Großherzogthum Hessen, aus Oberstein für Oldenburg-
Birkenfeld, aus Neustadt a. H., Frankenthal und Ludwigs-
hafen für Rheinbayern und aus Karlsruhe, Pforzheim,
Mannheim, Mosbach und Heidelberg für Baden. Von
Heidelberger Parteiführern nahmen die Herren Professoren
Osthoff und Bütschli Theil. Den Vorsitz führte
Herr Emil Ma gen au-Mannheim. Unter den zur
Verhandlung kommenden Gegenständen beanspruchte das
hervorragendste Interesse die Berichterstattung der
einzelnen Delegierten über den Stand und
die Fortschritte der freisinnigen Partei-
organisation und -Agitation in ihren Bezirken
mit Rücksicht auf die voraussichtliche Reichstagsauflösung
und Neuwahl. Es ergab sich zur allgemeinen Befriedigung
der Anwesenden, daß es damit, wie auch mit der ge-
sammten Stimmung in Wählerkreisen, fast durchweg gut
für die freisinnige Sache und ihre Wahlaussichten steht.
Die Partei geht allerwärts in Südwestdeutschland wohl-
gerüstet dem Wahlkampfe entgegen. Sie darf zuversicht-
lich hoffen, ihren bisherigen Besitzstand an Reichstags-
mandaten nicht nur im wesentlichen zu behaupten, sondern
hie und da selbst zu vergrößern; das letztere besonders
in unserem Baden, wo Dank dem engen Zu-
sammenschluß mit der befreundeten Volkspartei die Or-
ganisation eine der vollkommensten und darum auch lohn-
verheißendsten ist. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch
das die ganze Krisis veranlassende Karnickel, die so vielen
Staub aufwirbelnde Militärvorlage, in der Aus-
schußsitzung zur Sprache kam. Und dabei zeigte es sich,
wie entschieden fest und cinmüthig die süd-
westdeutschen Führer des Freisinns zu dem von der frei-
sinnigen Reichstagsfraction officiell inne gehaltenen und
vornehmlich von dem Abgeordneten Eugen Richter in
Schrift und Wort energisch und unentwegt vertretenen
Standpunkte der gesetzlichen Durchführung der zweijährigen
Dienstzeit im Rahmen der bisherigen Friedenspräsenzstärke
zu bekennen; man will von der Aufstellung keiner anderen
Candidaten wissen, als lediglich solcher, die Gewähr geben,

8)

freilich

An einem Kcrcrv.
Criminalgeschichte von Jenny Hirsch.
(Forschung.)
Mit dieser Liebe für die eine Nichte wuchs s
fln gleichem Maaße die Entfremdung zwischen ihm und
anderen. Je mehr Lina sich um den Baron bemühte,
-Esto mehr hielt es Johanna unter ihrer Würde, ein
Meiches zu thun; absichtlich zeigte sie Trotz und frostige
Meichgültigkeit, wo jene von Wärme und Zärtlichkeit
Zerfloß.
s. Von diesen beiden Empfindungen bestimmt, von un-
fichtbaren Fäden geleitet, hatte der Baron sich entschlossen,
Testament zu machen, das, wie Lina nicht zweifeln
.Urfte, sie zur Universalerbin seines Vermögens ein-
"hen würde.
Und in diesem wichtigen, kritischen Augenblicke kehrte
vans zurück und drohte die Frucht ihrer unablässigen
(-Emühungen zu zerstören. War es ihr zu verdenken, daß
'E Liebe zu dem Unseligen, die doch schon beträchtlich
^gekühlt war, sich in Haß zu verkehren drohte? Aber
leicht ließ sie sich nicht werfen; schon hatte ihr er-
??derisches Köpfchen einen Plan ausgesonnen, dem Bruder
s'c geforderte Geldsumme zu verschaffen, ihn fort zu
pediren, ohne daß der Onkel von seiner Anwesenheit
^as merkte. Nur einige Tage Zeit brauchte sie.
v In welcher fieberhaften Aufregung befand sie sich, als
an jenem Abend den Saal betrat; nicht nur die
n?bschaft stand auf dem Spiele; war Johanna in der
Unst des Onkels glücklich beseitigt, so drohte sie ihr auf
anderen Felde gefährlich zu werden.

Lina hatte fast vom ersten Augenblicke an, wo Wer-
denfeld in das Haus ihres Onkels gekommen und da-
selbst als Sohn eines Jugendfreundes des Barons sehr
wohl ausgenommen worden war, ein lebhaftes Wohlge-
fallen für ihn empfunden, das sich bald zu einer leiden-
schaftlichen Liebe gesteigert hatte, trotzdem oder vielleicht
gerade weil der Assessor, ungleich den meisten anderen
jungen Leuten ihres Kreises, seine Aufmerksamkeit nicht
ihr, sondern Johanna zugewendet hatte. Mit den durch
Eifersucht geschärften Augen erkannte sie trotz Johanna's
herb verschlossenem Wesen deren aufkeimende Neigung
für den Assessor, und nun ging ihr Sinnen und Trachten
darauf, die Beiden so wenig als möglich mit einander
verkehren zu lassen und jede Annäherung durch ein ge-
schicktes Dazwischenkommen abzuschneiden.
Und auch diesen Feldzugsplan hatte ihr Hans durch
seine unglückliche Botschaft beinahe vereitelt; sie hatte
Werdenfeld und Johanna in sehr angelegentlichem Gespräch
gefunden, aber sie sah auch die Cousine sofort wieder in
ihre Schweigsamkeit verfallen, und als sie aus dem Musik-
zimmer zurückkehrte und Johanna's Platz am Kamin
leer fand, zuckte ein Lächeln des Triumphes um ihre
blühenden Lippen; die Cousine hatte ihr das Feld geräumt.
„Wo ist Johanna?" fragte sie harmlos.
„Sie hat wieder einmal ihre Laune," entgegnete der
Baron unwirsch, „es ist am Ende noch besser, sie geht,
als daß sie uns mit ihrem mürrischen Gesichte das Be-
hagen stört. Aus der Prinzessin werde ein Anderer klug."
„Fräulein Johanna ist keine gewöhnliche Natur," be-
merkte der Assessor.
„Wie richtig sic es zu beurtheilen verstehen.!" rief

Lina mit leuchtenden Blicken, „Du wirst sie auch noch
besser kennen lernen, Onkel."
Sie giebt sich verdammt wenig Mühe darum,"
brummte der Baron.
„Sie hat so ideale Auffassungen vom Leben, von der
Gesellschaft —"
Der Baron unterbrach sie, indem er ungeduldig mit
dem Fuße stampfte. „Fange Du mir nicht auch noch
mit dem hirnverbrannten Zeuge an, Lina," rief er ärgerlich,
„schwatzt das immer von Humanität und legt die Hände
in den Schooß, während Du Dir für Arme d>e Finger
wund strickst. Wohin, Werdenfeld?" fragte, er als der
Assessor aufstand.
„Meine Zeit ist abgelaufen," entgegnete dieser mit
einem Blicke auf die Uhr.
„Wahrhaftig schon so spät," nickte der Baron, „das
war heute eine gestörte Kaffeestunde; wenn Sie wieder-
kommen, so schenken Sie uns den Abend. Jetzt will ich
auch noch auf eine Stunde in meinen Elub."
Während dieses Gespräch im Salon stattfand, hatte
sich Johanna auf ihr Zimmer geflüchtet. Das Gesicht
in die Kissen des Sophas gedrückt, schluchzte sie heftig.
„Warum muß ich hier sein, hier in diesem Hause,
wo kein Raum für mich ist?" murmelte sie. „Warum
läßt mich der Onkel nicht fort, es ist so drückend, seine
Wohlthaten anzunehmen, da er kein Herz für mich hat!
Wie gern möchte ich mir als Erzieherin oder Gesell-
schafterin mein Brod verdienen! Aber ich darf nicht, die
Vorurtheilc des Onkels halten mich in meinem Banne;
er steht es für schimpflich an, daß seine Nichte Anderen
diene."
 
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