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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 141 - No. 150 (17. Juni - 28. Juni)
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Arger- K Zeitung

BerkLndigrmgsblatt «ird Anzeiger

Die,^-ürgerztitung"
erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummcr liegt ein Unter-
haltungsblatt, „Der Erzähler", mit dem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
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143. s,WL°. Heidelberg, Dienstag, 20. Juni

Expedition:
H»nptstraße28.

1«93.

Nord und Süd.
Eine Wahlbetrachtung.
Die bis jetzt vorliegenden Wahlresultatc vertiefen den
Eindruck des Gegensatzes von Süd u. N or d, der
dem aufmerksamen Beobachter der Wahlbewegung vermuth-
lich weniger überraschend sein wird, als den maßgebenden
Stellen in Berlin. Im Süden scheint die Wahl aus-
gefallen zu sein, wie es die oft unvermittelt und mit
elementarer Gewalt hervorbrechende Volksstimmung an-
gekündigt batte: Die entschiedenen Parteien links und
rechts haben Erfolge erzielt, deren Kosten die Mittelpar-
teien und mit ihnen die durch sie repräsentirte Regierung
zu bezahlen haben. Am schärfsten ausgeprägt ist dabei
der „Zug nach links," der gerade in einer politisch so
regen Bevölkerung, wie eS die württem bergische ist,
zur alles Andere zurückdrängenden Alleinherrschaft ge-
langte. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die
Steigerung des Militarismus in allen Formen, über die
Gefahren einer möglichen Reaction, über die Verlängerung
der Legislaturperioden und die Bedrohung des allgemeinen,
gleichen und geheimen Wahlrechtes, über den wirthschaft-
lichen Niedergang, wie über absolutistisch gefärbte Aeuße-
rungen und über die Versuche, von oben herab in die
freie Ausübung des Wahlrechtes bestimmend einzugreifen,
sie ist hier mit voller Bestimmtheit in Erscheinung ge-
treten. Wir haben es hier mit einer so energischen und
elementaren Bewegung zu thun, daß sie mit dem 15.
Juni noch nicht zum Abschluß gelangt ist. Denn viel-
fach fehlte es nur an den Organisationen und Kräften,
um weitere Erorberungen für die freitheitlichen Richtungen
zu machen, ein Umstand, der gerade für Bayern gilt.
Deßhalb legt der Wahlausfall neue Pflichten auf, die
gebieterisch ihr Recht verlangen werden.
Wer Gelegenheit hatte, in der jetzigen Wahlbewegung
süddeutsche Wahlkreise zu durchstreifen, der wird mit
wenigen Ausnahmen eine Uebersättigungam Mi-
litarismus gefunden haben, wie sie intensiver kaum
gedacht werden kann. Es sind in gleicher Weise die
wirthschaftlichen Folgen der schweren Rüstung, die wir
zu tragen haben, wie die geistigen Einflüsse der mili-
tärischen Machtstellung im Staate, die diese Übersättigung
erzeugt haben. Das Verhalten der Reichsregierung, die
den Militärforderungen des Volkes jedes Entgegenkommen
versagte, die sich ebenso zu einer zeitgemäßen Revision des
Militär-Straf-ProcesseS, wie zu einer Erleichterung des
Beschwerdewesens, ebenso wenig zu einer Aenderung des
Penstonirungs-Systems, wie des Einjährig-Freiwilligen-Jn-
stituts bereit finden ließ, hat sehr wesentlich beigetragen,
die Mißstimmung im Süden zu verstärken. Hierzu

Im WurgVerkieß.
Erzählung von Wilhelm Appelt.
2,1 18ci (Fortsetzung.)
Ein gemeiner Verbrecher war also sein Bundesgenosse auf
dem Wege zur Flucht! Dieser verstand gut in der Seele des
Grafen zu lesen, denn mit tiefer Bitterkeit begann er, wobei
seine Stimme wie das wilde Brummen eines Bären klang:
„Nur keine Angst, auf dem Spielberge ist in den letzten
zehn Jahren aus dem ehemaligen Tiger ein sanftes Lamm
geworden! Mein Herz war überhaupt wohl nie ganz schlecht,
aber ich wurde von meinen Eltern zum Verbrecher erzogen ;
bevor ich noch lesen und schreiben lernte, unterrichtete mich
meine Mutter bereits ini Stehlen. Als mir endlich das
eifrige Nachspüren der Polizei zu gefährlich wurde, beschloß
ich; mir durch einen letzten Gewättstreich die Mittel zu ver-
schaffen, uni damit in Amerika ein neues Leben zu beginnen,
denn das Alte hatte ich gründlich satt bekommen. Als ich
bgld darauf in stiller Nacht eben an der Kasse eines reichen
Kaufmanns herumfeilte, überraschte mich derselbe mitten in
der Arbeit. Nun begann ein hartes Ringen zwischen uns
Beiden, dem .mein blitzendes Messer, daß ich meinem Gegner
tief in die Brust bohrte, bald ein Ende machte."
„Der Lärm hatte jedoch die Häscher herbeigezogen," fuhr
Riedmüller nach einer Pause fort, „deren ltebermacht ich trotz
des verzweiflungsvollsten Kampfes erliegen mußte, nachdem
ich früher noch zwei derselben schwer verwundet hatte. Das
Schicksal war mir aber noch gnädig gewesen, denn der Kauf-
mann genas, wenn auch sehr langsam, trotzdem der Stich
rin lebensgefährlicher gewesen, weshalb nur der Galgen er-
spart blieb. In An betracht der vielen erschwerenden Um-
stände wurde ich jedoch zu lebenslänglichem Kerker verur-
Iheilt. — Ein Mörder bin ich also doch nicht ganz, wenn ich
auch damals den Versuch gemacht, es zu werden!"
Der Gefangene hielt eine Weile erregt inne, während der

kommen die wirthschaftspolitischen Bedenken gegen die aber-
malige Heercsvermehrung, denen die Regierung am besten
zu begegnen hoffte, indem sie ihre Decküngsabsichten völlig
im Dunkeln ließ. Die Regierungsparteien haben dieses
Dunkel zwar nach Kräften ausgenützt, indem sie eine
Aufbringung der Kosten der Militärvorlage versprechen,
die den „kleinen Mann" unberührt lasse, allein ihre
Versprechungen fanden nach den Erfahrungen von 1887
nicht mehr allgemeinen Glauben. Wo die reactionären
Richtungen im Süden gesiegt haben, da erklärt sich ihr
Erfolg aus der gleichen allgemeinen Unzufriedenheit; sie
benützen die Ideen von 1879 und den durch sie hervor-
gerufenen Geist, der die Abhilfe wirthschaftlicher ' Nebel
allein durch die Allmacht des Staates erwartet, um die
noch schwankenden Massen zu sich hinüber zu zieben.
Ihr Erfolg erklärt sich ausschließlich aus wirthschaftlichen
Gesichtspunkten, da für eine politische Reaction im Süden
kein fruchtbarer Boden vorhanden ist. Diese Natur ihres
Einflusses gibt auch den Fingerzeig, in welcher Weise sie
mit Aussicht auf kommende Siege zu bekämpfen sind; eS
muß weit mehr als bisher auf die Verbreitung ge-
sunder wirthschaftlicher Ideen Bedacht 'ge-
nommen werden.

Deutsches Reich.
Karlsruhe, 17. Juni. Freiherr von d. Reck wurde
zum Vorsitzenden Rath und Oberamtmann Dr. Kuehn
zum Collegialmitglied mit dem Titel Legationsratk im
Ministerium des großherzoglichen Hauses ernannt.
Berlin, 17. Juni. Das Kais er paar reist morgen
Abend nach Kiel ab.
Berlin, 17. Juni. Die „Nordd. Allg. Ztg." meldet,
das S ta ats m i nist erum sei um 2 Uhr Nachmittags
zu einer Sitzung zusammengetreten.
Berlin, 17. Juni. So wenig auch die endgiltige Zu-
sammensetzung des Reichstags bis jetzt übersehbar ist,
rechnen die Blätter doch mit der Möglichkeit, daß die
Militärvorlage eine Mehrheit finde. Die National-
zeitung" gründet diese Ansicht auf die totale Niederlage
der freisinnigen Volkspartei, von der im alten Reichstage
der Widerstand gegen die Militärvorlage ausging. Die
Verfassung, in der diese Partei mit Hilfe anderer Parteien
in der Stichwahl im Reichstage erscheinen werde, schließe
es aus, daß sie nochmals die Ablehnung der Vorlage und
eine unausbleibliche Auflösung des Reichstags riskiren
werde. Auch das Eentrum werde dazu geringe Neigung
haben.
Berlin, 17. Juni. Der Finanzminister Dr. Miquel so-
wie andere vonAhlwardt angegriffene Personen haben den„H.
N." zufolge diesen wegen Beleidigung u.Verläum düng verklagt.

Graf Tarloni ihn noch immer scheu betrachtete, endlich fuhr
er fort:
„Was einst gewesen, das ist vorüber; sollte die Flucht
gelingen, so will ich fortan so leben, daß ich würdig bin, die
freie Luft zu athmen! — Wie ist es, sind Sie noch immer
geneigt, mit mir, dem gemeinen Verbrecher, den Fluchtver-
such zu wagen?!"
Da faßte Graf Tarloni rasch die Hand seines Genossen,
indem er ernst und feierlich begann:
„In Gefahr und Tod wollen wir unzertrennlich an ein-
ander halten!"
Nachdem die stürmische Erregung der Beiden sich etwas
gelegt, begann der Verbündete des Grasen, welcher Ried-
müller hieß und ein geborener Wiener war, zu erzählen,
daß er vor ungefähr einem Jahre, nachdem der Gefangen-
wärter ihn kaum verlassen hatte, eine Ratte ini Winkel
seiner Zelle sitzen sah, die mit diesem unbemerkt hereinge-
schlnpst sein mußte.
Auch Riedmüller war beim Anblicke eines lebenden Wesens
das Herz aufgegaugen und er hatte Alles anfgeboten, die
Ratte zutraulich zu machen, was ihm in kurzer Zeit gelang.
Eines Tages siel es ihm auf, daß sie stets in den Fugen
ein und derselben Steinquader der einen Seiteuwand herum-
knusperte und die losgelösten Thcilchen gierig verzehrte. Um
sich Klarheit darübcr'zu verschaffen, nahm er eine eingehende
Untersuchung vor, wobei er fand, daß die Fugen nicht aus
Mörtel, sondern aus Brod bestanden, womit mau sie, nach-
dem man es zu Teig geknetet, gleich wie nut Glaserkitt ver-
schmiert. Rach dieser Entdeckung ging er rasch daran, die
vertrocknete Blasse heranszubröckelu, was keine allzuschwere
Arbeit war. In Kurzem bemerkte er, daß die Steinquader
sich gleich einer Schublade ans der Mauer ziehen lasse, was
ihm ohne allzugroße Mühe auch gelang. Nachdem es ge-
schehen, sah er hinter derselben eine weite, höhlenartige Oeff-
nung, welche mit den verschiedensten Sachen ««gefüllt war,

Frankreich.
Paris, 17. Juni. Zahlreiche hiesige Blätter bringen
falsche Wahlresultate aus Elsaß-Lotbringen und feiern,
indem sie von den glänzenden Erfolgen der Protestler sprechen,
die Haltung der Elsaß-Lothringer. „La Justiee" sagt dies-
bezüglich: JedcSmal betonen unsere Brüder da drüben,
unser Herz bleibt dasselbe, unsere Wunde ist immer offen,
Familienbande bleiben uns heilig.
Paris, 17. Juni. Fast alle Blätter sprechen heute
von den deutschen Wahlen und stellen sie beinahe sämmt-
lich als eine Niederlage des Kaisers dar, indem sie hin-
zufügen, in Deutschland krache alles. Der „Figaro" und
andere betrachten den Wahlausfall als gefährlich, da er
den Kaiser zwingen könne, eine Ableitung nach irgend
einer anderen Seite zu suchen.
Paris, 17. Juni. Der „Temps" sagt: Aus den
Resultaten der deutschen Rei chs tags wählen gehe
hervor, daß die Auflösung nicht die Früchte getragen habe,
die die Regierung sich versprach, daß sich aber auch die
Hoffnungen dcS Staatsmannes nicht verwirklicht haben,
der der eigentliche verantwortliche Urheber der Auflösung
war. Auch der nächste Reichstag werde eine dem Militär-
gesetz feindliche Majorität aufweisen, nur werde diese durch
das Verschwinden der Fortschrittler und die Zunahme der
Socialisten radicaler werden; ein Resultat, das die Re-
gierung gewiß nicht angestrebt habe.
Serbien.
Belgrad, 17. Juni. Die Bildung des gestern be-
bereits festgcstandenen neuen Kabinets ist in Folge
des Wunsches des Königs und der Mehrheit der radikalen
Partei, daß Vüitch die Finanzen beibehalte, auf Schwierig-
keiten gestoßen. In Folge dessen bestätigte der König so-
eben das alte Kabinet. Nur ist der Kriegsminister Franosso-
vitsch, an dessen Stelle General Gruics trat, ausgeschieden.
Der Fürst von Bulgarien ist niit einem Separatzuge zur
Beisetzung nach München abgereist.
Belgrad, 17. Juni. Die Skupschtina wählte
ihre Ausschüsse, darunter einen vierzehngliedrigen Finanz-
und Handelsvertrags Ausschuß. Der Vorsitzende der
Skupschtina ordnete an, daß die Ausschüsse nach spätestens
2 bis 3 Tagen über die Vorlagen referiren.
England.
London, 17. Juni. Der „Times" wird aus Auck-
land telegraphirt, daß Baron Senfft-Pilsach dort auf der
Reise von Samoa nach Deutschland eingetroffen sei. Der-
selbe habe einem Interviewer erklärt, daß der Handel auf
Samoo stocke und in dieser Beziehung werde sich nichts
ändern, solange die inneren Zwistigkeiten andauern. Die
Eingeborenen seien durch die Kriegsrüstungen zu sehr auf-

bei deren Schauen ihm vor Aufregung ein Fieberfrost über-
fiel, er sah doch bereits den Weg zur Freiheit offen vor sich
liegen, denn Alles, was zu einem Fluchtversuche nöthig war,
fand er vor; ja selbst Waffen, Kleider und eine Strickleiter
fehlten nicht, sowie ein Fläschchen mit längst vertrockneter
Tinte, nebst Federn und Papier. Besondersuahm ein offenes
Schreiben und ein Plan des Spielberges feine Aufmerksam-
keit in Anspruch. Er mußte sich jedoch gestehen, daß sein
Wissen nicht zureiche, um aus Letzterem Nutzen zu ziehen,
was auch mit den, vorgefundenen Schreiben der Fall, da es
in einer fremden, ihm unverständlichen Sprache abgefaßt
war. Er war überzeugt, daß es wichtige Aufklärungen em-
haltR
Da er kein Kopfhänger und Träumer war, so ging er
rasch daran, feine Ketten zu durchfeilen. Als es ihm mit
schwerer Mühe gelungen, war er im Stande, dieselben nach
Belieben abzustreifen. Daun begann er in einem Winkel
seiner Zelle zu proben und zwar nach aufwärts zu. Da er
daselbst jedoch nur eine doppelte Ziegelschicht vorfand und
hinter derselben festgestampfte Erde, so schloß er ganz richtig
daraus, daß dies unmöglich der Weg zur Freiheit sein könne.
Er ließ deshalb an dieser Stelle von seiner Arbeit ab, setzte
die Ziegel wieder ein, bis auf einen, der gleichsam als Thür
dienen mußte, da er die gegrabene-Oesfnung der Ratte zum
Aufenthalte anwies, nm sie vor dem Gefaugenwärter zu ver-
bergen; wenn keine Neberraschnng durch denselben drohte,
konnte sie nach Belieben aus-und eingehe». In der Oeff-
nung weiter grabend, war sie endlich bis in die Zelle des
Grafen Tarloni gerathen und somit die Ursache davon,
daß die beiden Gefangenen nun gemeinsam auf dem faulen
Stroh beisamu.cn saßen, den festen Entschluß fassend, durch
gemeinschaftliche Arbeit sich den Weg zur Flucht zu bahnen.
Bor allem begehrte Graf Tarloni in die bei den anderen
Sachen gefundenen Schriften Einficht zu nehmen, da er
meinte, daß er die Sprache, in welcher sie abgcfaßt, fchon
 
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