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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 81 - No. 90 (7. April - 18. April)
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Verkündigungsblatt und Anzeiger

Die Würger,eitnng"
"Vkint täglich mit Ausnahme von
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l^mngsblatt, „Der Erzähler", mit dem
»Nivr. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei.


Expedition:
Hauptstraße SS.

Heidelberg, Mittwoch, 12. April

Expedition:
Hauptstraße SS.

18S3.

Böse Beispiele ver-crbcn Wte Sitten.
>. Es ist bekanntlich bei Stichwahlen Brauch, das kleinere
zu wählen und dem Candidaten die Stimme zu
h en, der uns zunächst steht mit seinen Parteiansichten.
Zubers verhält es sich aber in der Regel bei den Haupt-
Men und den ihnen vorangehenden Wahlkämpfen.
M diesen Letzteren zumal kann man stets beobachten,
M sich gerade die Parteien am heftigsten befehden, die
Anzahl gemeinsamer Programmpunkte neben einer
fiteren Zahl trennender haben; das Gemeinsame tritt
fr deri Hintergrund und das Trennende wird immer und
?ftall ganz besonders betont. Wir haben im deutschen
^ich nicht wie manche andere Staaten einige große
»Meien mit Anhängseln, sondern eine ganze Anzahl
^Neien und die Mehrheiten, die die Regierung braucht,
Akn sich skts aus mehreren Parteien zusammen. Unter
^Marcks Regiment gab es bald Mehrheiten aus Liberalen
Conservativen, gegen Centrum, Demokratie und
^cialdemokratie; bald war die Mehrheit aus Conservativen
Centrum gebildet. Je nachdem es dieser Staats-
xu brauchte, nutzte er die Parteivcrbrüderung aus, schuf
^Iturkampfgesetze gegen das Centrum; aber Zoll- und
j.Mergesetze mit Hilfe dieses gleichen Centrums, dem er
seine Hilfe wieder Zugeständnisse machte. So wurden
diese Art der Geschäftsführung, der Geschäfte könnte
auch sagen, oft das Trennende zwischen den Parteien
Hessen, die sich gerade bei den Wahlen so heftig bekämpften
es lernten die in Bismarcks Schule so gelehrig
pachten Nationalliberalcn sogar mit Conservativen und
Edtrum gemeinsam für Zollschranken und Zollerhöhungen
treten, die sie ganz kurze Zeit vorher noch entschieden
^«mmt batten; lernten es, weil sie kein Nein fanden
Mn den Wunsch des Angebeteten, der sie nach jeweiligem
,^in ftüber mehrfach so schlecht behandelt hatte und sie
Z^tcn es gern, weil es ihr Prinzip war, wo etwas
^etzgeberisches geschaffen wurde, dabei mitgewirkt zu
Meu. Aas diese Weise haben sich die liberalen Parteien
Mer weiter von einander entfernt und sind bei Wahlen
a. zu Gunsten der äußersten Rechten oder der äußersten
?^ken allzuhcftig gegeneinander ausgetreten. Sie haben
. den ertremen Parteien cmporgeholfen, ja Muth
Macht, extreme Parteien zu bilden. Und obgleich Libcra-
hMus rechts und links sowie bürgerliche Demokratie so
Zles Gemeinsame auf Grund der ihnen gemeinsamen
xMalen Weltanschauung haben, befehden sie sich bis zur
unde in den meisten Bezirken auf's Heftigste.
^Ein Ereigniß aber hat ganz besonders beigetragen

An einem Kcrcrr-.
Eriminalgcschichte von Jenny Hirsch.
z IN größter Aufregung wanderte eine junge Dame
ihr elegant ausgestattetes Zimmer; von Zeit zu
warf sie einen flüchtigen Blick auf einen Brief, den
in ihrer Hand hielt, dann knitterte sie ihn mit einer
-^'illflM Bewegung zusammen und murmelte zwischen
feinen weißen Zähnen: „Der Unselige, wann werde
endlich Ruhe vor ibm haben?"
h Tie warf einen Blick auf die kleine goldene Uhr,
an jhrem Gürtel hing, und fuhr vor Zorn und
cMfk beinahe weinend fort: „Er muß es genau berechnet
c ,en, daß ich den Brief erst im letzten Augenblicke er-
?Mn kannte, so daß mir gar kein Ausweg bleibt, als
sogleich nach dem. von ihm angegebenen Orte zu
MUgen, will ich nicht Gefahr laufen, ihn hier das größte
anrichtcn zu sehen I Ich muß fort, und doch läge
* alles daran, mich nicht aus dem Hause zu entfernen."
Tie schellte und sagte zu der eintretenden Zofe in
^glichst gelassenem Tone: „Ich möchte vor Einbruch der
s^kelheit noch einige Einkäufe besorgen, geben Sie mir
Mell Hut und Mantel, Susanna, und sagen Sie Friedrich,
Clle mir eine Droschke holen."
»Wollen das gnädige Fräulein nicht anspannen lassen?"
agtc das Kammermädchen.
a. "Aein", webrte das Fräulein, „Sie wissen, der Onkel
os nicht gern, wenn die Pferde um diese Zeit in
^Mgung gesetzt werden, auch möchte ich nicht, daß ihm
Asisgang auffiele; um die Weihnachtszeit hat man

die Fehde zu verstärken: das war der Anschluß des
Nationalliberalismus an die Conservativen, das sogenannte
Kartell, das einem Schachzug des großen Diplomaten
entsprang, dessen er nach dem Gang der Ereignisse nicht
für den Zweck bedurfte, für welchen es ausgedacht war;
das ihm aber mit den Melinitbomben von 1887, nicht
nur die damalige, gegen spätere und die neueste Militär-
vorlage harmlose Septenatsfrage, durchbringen half, sondern
noch viel Schlimmeres schaffen ließ, wie die fünfjährige
Legislatusperiode und die Zoll- und Steucrerhöhungen.
Jenes Kartell ist nun zwar noch unter Bismarcks
Regiment durch den Spruch des Volkes bei den Wahlen
1890 zerstört worden, aber seine übelen Nachwirkungen
spüren wir noch heute und in neuester Zeit sind sie
bemerkbarer als in den letzten Jahren.
Nicht nur daß die Gemeinsamkeit, welche zwischen
den, jedem, auch dem lauesten, Liberalismus schroff ent-
gegenstehenden Conservativen und Nationalliberalen herrschte,
die Begriffe so verwirrte, daß man' schon viele fahnen-
flüchtige Nationalliberale unter den von Conservativen
großgezogenen Antisemiten bemerkte und der politisch Un-
geschulte nicht mehr zu unterscheiden vermochte, was liberal
und was konservativ ist; selbst die politisirenden
Bürger und die mehr oder weniger berufsmäßigen Politiker
hatten vergessen, wo der Grenzpfahl zwischen den Parteien
steht und so hat sich sehr oft ein Nationalliberaler zu
Conservativen verirrt.
Wenn wir sagten, es zeige sich das in neuester Zeit
besonders deutlich, so meinen wir nicht das Liebäugeln
der Nationalliberalen mit der Militärvorlage, denn in
Militärsachen war man immer bcwilligungseifrig und
bewilligungsfreudig in der Partei, die die Freiheit hinter
der Macht allmählich ganz vergaß und es bleibt nur das
auffallend, daß Bismarck ein Gegner der Militärvorlage
ist und zwar, weil er sie für unnöthig hält und weil er
dem Volk auch die Kosten nicht zumuthen will; die
Nationalliberalen aber diesmal ihm nicht folgen und für
eine Bewilligung eintreten, die nicht erheblich abweicht
von dem, was die Regierungen überhaupt verlangen.
Die Nachwirkung des Kartells und der Freundschaft mit
den Conservativen äußert sich vielmehr in einer Beschützung
der Agrarier, ihres neuen „Bundes der Landwirthe", ibrer
Ablehnung eines Vertragsabschlusses mit Rußland, ihrer
Zollforderungen überhaupt und ihrer bimetallistischen
(geldverschlechternden) Wünsche. Ist auch offenbar die
nationalliberale Presse sowohl als auch mancher Redner
der Meinung, damit unseren Bauern ein Entgegenkommen
zu erweisen und will sich Mancher die Freundschaft der

seine kleinen Heimlichkeiten, fügte sie mit vertraulichem
Lächeln hinzu.
Das Mädchen ging, um den erhaltenen Auftrag aus-
zurichten, und kehrte nach kurzer Zeit mit den verlangten
Sachen und dem Bescheide zurück, die Droschke stehe vor
der Thür.
Es war einer jener Tage zu Anfang des Dezember,
die sich nur aus Morgen- und Abenddämmerung zusammen-
zusetzen scheinen; kaum 3 Uhr Nachmittags war vorüber
und schon wurden die ersten Gaslaternen angezündet.
Fräulein Lina von Mörner trat, gefolgt von dem Diener,
der ihr eine Tasche trug, aus dem Hause und befahl,
während dieser den Schlag der.vor der Thür haltenden
Droschke öffnete, dem Kutscher kurz und vernehmlich:
„Breitcstraße 20."
Es war die Nummer eines dem Diener sehr wohl
bekannten Tapisseriegeschäftes, das im Mittelpunkt der
Stadt und in nicht unbeträchtlicher Entfernung von der
Villa in der fashionablen Vorstadt gelegen war, in welcher
Lina bei ihrem Onkel, dem Baron von Böhlendorf wohnte.
Der Wagen fuhr in langsamem Tempo, öfter auf-
gehalten durch die sich im Straßengewirr der inneren
Stadt kreuzenden und drängenden Fuhrwerke aller Art,
und setzte die Geduld der jungen Dame auf eine harte
Probe. Ihre kleinen Füße stampften mehrmals heftig
gegen den Rücksitz der Droschke, sie bemühte sich, durch
die dicht angelaufenen Scheiben zu blicken, um zu erspähen,
ob das Ziel ihrer Fahrt noch nicht erreicht sei; als der
Wagen dielt, stieg sie mit einem halblaut geseufzten
„Endlich!" aus, verabschiedete den Kutscher und trat in
das Geschäft. Hier ließ sie sich Muster und Material

Landwirthe erwerben, indem er das Berechtigte in de»
Forderungen ostelbischer Großgrundbesitzer anerkennt, so
ist er aber doch damit auf einem Holzwege und muß sich
das bei einigem Erwägen selbst sagen.
Die Forderungen jener ostelbischen Großgrundbesitzer
dürften erfüllt werden, sie brächten unseren Bauern keinen
Vortheil; aber durch die Schädigung der Industrie wobl
großen Nachtheil. Unsere Bäuerlein brauchen keine Zölle
auf Korn, da nur ein winziger Bruchtheil unserer Land-
wirthe in Baden, nach unparteiischen ministeriellen Fest-
stellungen Vortheil von Kornzöllen haben kann und eben-
sowenig hätten unsere verschuldeten Bauern Vortheil von
der Geldverschlechterung, die sich jene Großgrundbesitzer
zur Verbesserung ihrer Lage wünschen.
Wie unsere Brennerei keinen Vortheil vom Brannt-
weinsteuergesetz hatte — wenn auch die Staatskasse durch
Herauszahlungen Vortheil hat und man auch gegen diese
Vortheile die Reservatrechte aufgab — während Vierzig
Millionen Liebesgabe an die Großbrenner im Osten
gegeben werden, die der Branntweintrinker aufbringt, die
aber dem Brenner auch nicht zum Nutzen gereichen, weil
er durch Unterbieten im Preis und durch Ueberproduction
andrerseits wieder Nachtheile hat und abgehalten wird auf
bessere Bodenverwerthung zu sinnen; so würde die Er-
füllung aller Wünsche des Bundes der Landwirthe, alle
Wünsche der conservativen Zünftler ohne Vortheil für
unser: Bevölkerung in Stadt und Land bleiben. Und
doch giebt sich die nationalliberale Presse unseres Landes
dazu her, den Helfershelfer der Conservativen zu machen,
der Conservativen, die von allen Liberalen und weiter
links stehenden Parteien gemeinsam zu bekämpfen wären.
Sie sind unser schlimmster Feind, denn sie sind sehr
mächtig ohne zahlreich zu sein und im Reich und in
Preußen ist Militär und Verwaltung in erster Reihe in
den Händen der Conservativen.
Daß man für die Conservativen und gegen die nächst-
stehenden Liberalen auftritt, zeigte am deutlichsten die
Parteinahme der nationalliberalen Presse für Herrn ».Horn-
stein, und wenn die Führung nicht ganz alles Liberalismus
bar geworden, müßte sie ihrer Presse die rechten Winke
ertheilen. Thut sie das nicht, so wächst nicht nur den
Conservativen und den durch viele Programmpunkte mit
ihnen verwandten Antisemiten der Muth, es wird auch
in den Reihen der Wähler noch größere Verwirrung ein-
treten und zwar auf Kosten der Rechtsliberalen und nicht
zu ihrem Vortheil; aber im Ganzen doch zum Nachtheil
res Liberalismus überhaupt.
Die Conservativen und gerade der von der national-

zu einer Stickerei vorlegen, und wer sic dabei prüfen und
wählne gesehen, würde schwerlich auf die Vermuthung ge-
kommen sein, daß in diesem Augenblicke ganz andere
Sorgen das Herz der jungen Dame erfüllten und der
Besuch der Tapisseriehandlung nur ein Vorwand sei, um
einen anderen Ausgang dahinter zu verstecken.
Während sie ihre Auswahl traf, war es draußen ganz
dunkel geworden, und ein feiner Nebel fiel erkältend und
durchnässend zu Boden. Lina schlüpfte, als sie aus dem
Laden trat, in einen dicht daneben befindlichen Hausflur
und entnahm ihrer Tasche ein schwarzes Tuch, das sie
dergestalt über den Kopf warf, daß es nicht nur den
Hut und die darunter tzervorquellenden röthlich blonden
Locken, sondern auch das Gesicht und den Oberkörper
verhüllte. Kleid und Mantel waren ebenfalls von schwarzer
Farbe, und so sah sie mit der Tasche am Arm unschein-
bar genug aus, um ohne Furcht vor sonderlichen Anfecht-
ungen sich ein Stück Wegs zu Fuß wagen zu können.
Mit schnellen, zierlichen Schritten eilte sie den die Stadt
durchschneidenden Fluß entlang, über Brücken und Plätze,
durch verschiedene Straßen, einem Parke zu, der ein in-
mitten der Stadt belegenes, unbewohntes, königliches
Schloß umgab, und bei Tage und schönem Wetter der
Sammelplatz der spielenden Kinder aus den umliegenden
Straßen war. Jetzt lag er still, schweigend, beängstigend
im grauen Herbstnebel da; Lina zögerte einen Augen-
blick/ dann setzte sie die Spitzen ihrer zierlichen Stiesel
wie im plötzlichen Entschluß fester auf und schlüpfte hinein.
Nur wenige Schritte war sie gegangen, da löste sich
aus der Dunkelheit eine Gestalt ab, die aus einem der
alten Bäume emporzusteigen schien, und eine Männer-
 
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