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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 141 - No. 150 (17. Juni - 28. Juni)
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Arger- G Zeitung

Verkündigungsblatt und Anzeiger

Die,^Vürg«rzettung"
erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Unter-
haltungsblatt, „Der Erzähler", mit dem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei.

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vierteljährl. Mk. 1. ohne Zustellgeb.
Infertionspreis: 10 Pf. für die 1-spalt.
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M 144. Heidelberg, Mittwoch, 21. Juni

Expedition:
Hauptstraße 25.

18S3.

Z«r Lage der Parteien
schreibt Eugen Richter in seiner „Freis. Z.:" Bisher konnte
es noch scheinen, als ob der Verlust an Mandaten der
freisinnigen Volkspartei und der freisinnigen Vereinigung
ausgeglichen werden würde durch eine Vermehrung der
socialvemokratischen Mandate. Inzwischen hat sich das
Bild der Wahlergebnisse sehr zu Ungunsten verschoben.
Die freisinnige Volkspartei und die freis. Vereinigung
haben von ihren bisherigen 67 Mandaten 31 verloren,
theils dadurch, daß Gegner obsiegten, theils dadurch, daß
die Kandidaten der freisinnigen Volkspartei und der freis.
Vereinigung in ihren bisherigen Wahlkreisen nicht in
Stichwahl gelangten. Von denjenigen Wahlkreisen, in
welchen die Gegner obsiegten, sind drei an die Socialisten
gefallen. Wieweit die Socialisten sich behaupten können
bei den Stichwahlen in denjenigen 15 Wahlkreisen, aus
denen sie die Freisinnigen verdrängten, ist sehr zweifel-
haft. Auch sonst erscheint es sehr fraglich, wie weit eine
Vermehrung der socialistischen Mandate durch die Stich-
wahlen den Ausfall auf der linken Seite des Reichstags
auszugleichen vermag. Die Centrumspartei hat die Pa-
role ausgegeben, bei den Stichwahlen unter allen Um-
ständen gegen die Socialisten zu stimmen.
In der CentrumSpartei sind zwar bis jetzt nur zwei
ausgesprochene Anhänger der Militärvorlage wiedergewählt
worden, indeß ist auch mehreren schlesischen gewählten
Abgeordneten ausdrücklich freie Hand gelassen worden, die
Militärvorlage anzunehmen. Unter den gewählten Elsässern
sollen sich diesmal fünf erklärte Anhänger der Militär-
vorlage befinden; zwei andere befinden sich noch in
Stichwahl.
Unter diesen Umständen ist nicht nur die unveränderte
Annahme der Militärvorlage sehr nahe in den Bereich
der Möglichkeit gerückt, sondern auch die Gefahr einer
neuen Kartell m ehrh eit im Reichstag vorhanden.
Mag dieselbe in Folge der Erhaltung des Besitz-
standes auf Seiten der süddeutschen Volkspartei und in
Folge der größeren Zahl von socialistischen Abgeordneten
nicht die Stärke der Kartellmchrheit in den Jahren
1887—9Ü..erreichen können, wenn überhaupt nur wieder
eine Mehrheit aus den Kartellparteien, das heißt aus den
konservativen, Freiconservativen, Nationallibcralen und
ihren Anhängseln möglich wird. Neben einer solchen
Kartellmehrheit würde auch fernerhin wie bisher eine con-
servativ-klerikale Mehrheit bestehen bleiben. Die Regierung
würde alsdann in der Lage sein, gleichwie in den Zeiten des
Fürsten Bismarck ihre Gesetze mit derjenigen Mehrheit
durchzubringen, welche ihr ani weitesten entgegenkommt.
Unter einer Kartellmehrheit würden wir mit der Be-

Im Murg verlies:.
Erzählung von Wilhelm Äppelt.
8,2 18ci (Fortsetzung.)
Es dauerte eine lauge Weile, bevor die Beiden sich so
weit gesammelt hatten, um nur einigermaßen ruhig wieder
an ihre Aufgabe schreiten zu können. Es war ihnen fort und
fort, als drängen die leeren Augenhöhlen des Leichnams
finster drohend auf sie ein. Plötzlich entdeckten sie eine Fall-
thür, welche in einen kellerartigenRanm führte. Als sie
hinabstiegcn, gab es erneutes Grausen, denn es befand sich
daselbst ein wirrer Leichenhaufcn, aus welchem die ausge-
rcnkten Gliedmaßen emporstarrten. Es lagen hier die armen
' Opfer anfgethürmt, die den entsetzlichen Folterqualen erlegen
waren und die man einfach durch die Fallthür in das un-
heimliche Todtengewölbe Hinabgelvorfen, sie darin vermodern
lassend. Das Auffinden desselben war für die beiden Ge-
fangenen ein Glücksfall, denn wie ans dem Plane des Spiel-
berges zu ersehen war, gab es von hier ans nur noch eine
starke Mauer zu durchbrechen um ins Freie zu gelangen,
deren erster Theil aus Ziegeln bestand, denen daun eine
letzte Schicht Steinquadern folgte.
Je näher sie dem ersehnten Ziele kamen, desto vorsich-
tiger gingen sic zu Werke und nickt überrascht zu werden,
arbeiteten sie nur in der Nacht, bei Tag aber lag ein Jeder
einsam und allein in seiner Zelle, so schwer ihnen dies auch
ankam, drängte es sie doch allgewaltig, ihre Hoffnungen und
Befürchtungen gegenseitig auszusprecheu. In dieser Einsam-
keit mußte ihnen ihr gemeinsamer Liebling, die Ratte, die
Zeit vertreiben, welche sich abwechselnd bald bei dein Einen,
bald bei dem Andern aufhielt.
Ein volles Jahr war bereits seit deren Erscheinen in der
Zelle des Grafen Tarloui verflossen und wieder duftete und
blühte es draußen in der freien Natur in wonniger Lenzes-
pracht, als die Gefangenen endlich die Steinquadern durch

willigung von neuen Soldaten und neuen Steuern fortan
vielleicht noch schlimmere Erfahrungen machen als vordem.
Eine Kartellmehrheit würde zuerst darauf bedacht sein, sich
ihre Zukunft zu sichern gegen einen Rückschlag auf das
bisherige Wablergebniß durch Abänderung des Reichs-
wahlrechts. War es doch auch die Kartellmehrheit, aus
deren Initiative 1888 die Verlängerung der Wahlperioden
von 3 auf 5 Jahre hervorgegangen ist. Eine neue Kar-
tellmehrheit würde noch volksfeindlicher sich gestalten durch
die neuerliche Zuspitzung des agrarischen Charakters. Auch
die neugcwählten Nationalliberalen haben sich fast alle
dem Bund der Landwirthe mit Leib und Seele ver-
schrieben.
Noch ist eS durch die Stichwahlen möglich, wenn
auch vielleicht nicht mehr die Annahme der Militärvvr-
lage, so doch die Bildung einer solchen Kartellmchrheit
zu verhindern.
Vor allem gilt es, die letzte Kraft aufzubieten, um
den Kandidaten der eigenen Partei, welche sich in der
Stichwahl befinden, überall zum Siege zu verhelfen.

Deutsches Reich.
Berlin, 19. Juni. Mit der Errichtung eines Na-
tionaldenkmals für den Kaiser Wilhelm
wird schneller begonnen werden, als man anfangs glaubte;
die Ministerial-Baucommission hat sich bereits an den
Magistrat gewandt, wegen Ueberlassung der Plätze zur
Aufstapelung der Materialien.
Kiel, 19. Juni. Der Kaiser traf um 7^2 Uhr
ein. Er wurde von Prinz Heinrich empfangen und be-
grüßte im Schlosse die Prinzessin Heinrich. Dann begab
er sich unter Salut der Flotte an Bord des Hohenzvllern.
Friedrichsruh, 19. Juni. An der gestrigen Fahrt
der Mecklenburger zum Besuch des Fürsten Bismarck be-
theiligten sich 4000 Personen. Ansprachen an den Fürsten
hielten Stichler (Wismar) Hillmann (Güstrow) und
Grospitz (Hamburg), letzterer in plattdeutscher Sprache.
Bismarck antwortete in einer halbstündigen Rede, worin
er sich gegen den Partikularismus und die Fraktionspolitik
aussprach, und schloß mit einem Hoch auf den Großher-
zog von Mecklenburg.
Oesterreich-Ungarn.
Prag, 19. Juni. Teilnehmer deS Festes zu Gunsten
des Czechischen Schulvereins begingen gestern
Abend auf der Heimkehr Erzesse vor dem deutschen Casino;
sie schleuderten Steine gegen das Casino, wobei vier
Polizeidiener getroffen, aber nicht verletzt wurden. Die
Demonstrationen wiederholten sich vor dem Jungmann-
Denkmal und an der adligen Ressource. Die Polizei zer-
streute die Menge und nahm zwei Verhaftungen vor.

brocheu hatten. Schon stand es in ihrem Belieben, zu einer
jeden Stunde die Flucht anSzuführen, und endlich war auch
der Tag erschienen, an welchem cs geschehen sollte. Bleiern
schlichen ihnen die Stunden bis znm Einbrüche der Nacht
dahin. Ein Pfiff sollte Tarloni bekannt geben, wenn es Zeit
zum Ausbruche sei. Gespannt lauschte dieser auf das verab-
redete Zeichen.
Eben wollte Tarloni, getrieben durch peinigende Unge-
duld, die Fußbodeuplatte aufhebeu, um zu seinem Genossen
hinabzusteigcn, als er plötzlich vom Gange her schwere Tritte
vernahm, die sich seiner Zelle näherten. Sein Blut erstarrte
zn Eis, als er den Schlüssel in dem mächtigen Schlosse rasseln
hörte und gleich darauf der Gefangcnwärter erschien, die
Laterne hoch emporhaltend.
Tarloni war vor verzweiflnugsvoller Angst dein Wahn-
sinn nahe, mcinte er doch, mau habe ihr Vorhaben entdeckt.
Das gewohnte Wesen des Gefaugenwärters ließ ihn jedoch
wieder etwas ruhiger aufathmcn, doch der Gedanke, sein
Genosse könne als Zeichen znr Flucht einen Pfiff ertönen
lassen, machte ihn abermals erbebcn.
Der Gefangcnwärter Ivar jedoch wirklich nicht umsonst
erschienen, cs batte ihn aber nur sein einer weichen Regung
noch immer nicht verschossenes Herz herabgesührt. Es wurde
ihm jedoch nicht leicht, etwas seiner Ansicht nach Gutes zu
verkünden, weshalb er sich gewaltig zusammeuraffen mußte,
bevor er beginnen konnte.
„Sie weilen heut zum letzte!» Male in dieser Zelle, mor-
gen werden Sie dieselbe verlassen!"
„So bin ich also frei?!" klang es aufjubelnd dem Ge-
fangenwärter entgegen, dessen Gesicht sich über die uner-
wartete Wirkung seiner Rede etwas in die Länge zog, da,
dieselbe zu einer Enttäuschung des Gefangenen geführt; ver-
legen nahm er das Wort wieder auf:
„Frei sind Sie nicht, aber eine bessere Zelle erhalten Sie
angewiesen. — So lange der Tod nicht Ihr Auge bricht,

Budapest, 19. Juni. In Scolnok erklärte sich
Justh, Präsident der Polouyipartei, unbedingt für die
liberalen Reformen. Selbst Polvnyi mußte sich liberal
stellen. Er machte jedoch Vorbehalte, die mit einer Ne-
gation identisch sind. — Eine von 6000 Arbeitern be-
suchte Versammlung im Budapester Stadtwäldchen erklärte
sich einstimmig für die Civilehe und verlangte das allge-
meine Wahlrecht, da von 17 Millionen Ungarn nur
830^060 wahlberechtigt seien, was eine Klassenvertretung
und nicht eine Volksvertretung sei.
Frankreich.
Paris, 19. Juni. Der Graf d'Haussonville
hielt bei einem monarchistischen Bankett eine Wahl-
programmrede unter scharfen Anspielungen auf die
in die Panama-Affaire verwickelten Politiker und die
Panamaproceß-Komödie. Er erklärte, dem gegenwärtigen
skrupellosen System müßte eine Liga anständiger Leute
entgegengestellt werden. Die zur Republick bekehrten
Monarchisten möchten sich mit dem Minimum von religiösen
und politischen Concessionen begnügen. Die reinen
Monarchisten dagegen müßten ihre Ziele ungeschmälert
aufrechterhalten.
Paris, 19. Juni. Nach dem gestern Vormittag aus-
gegebenen Krankenbericht hat sich das Befinden des Prä-
sidenten Carnot so weit gebessert, daß er heute das
Zimmer wieder wird verlassen können.
Serbien.
Belgrad, 19. Juni. Die Skuptschina hat in
der heutigen Sitzung die Gesetzesvorlage über die pro-
visorische Regelung der Handclsverhältnisse zwischen Serbien
und Deutschland einstimmig angenommen.
England.
London, 19. Juni. Nach einer Meldung der „Daily
News" aus Constantinopel sind von den wegen der in
Caesarea vorgekommenen Ruhestörungen angeklagten Ar-
meniern durch Urtheilsspruch des Gerichts von Angora
siebzehn, darunter zwei Professoren des Collegiums in
Marcivan, zum Tode, sechs zu fünf Jahren, 18 zu 7
Jahren Gefängniß verurtheilt worden; fünfzehn Ange-
klagte wurden freigesprochen.
London, 19. Juni. Es steht nunmehr endgiltig
fest, daß der Großfürst-Thronfolger von Rußland zur Teil-
nahme an der Hochzeit des Herzogs von Aork anfangs
Juli hierher kommen wird.
Wahlresultate aus dem deutschen Reich.
X Heidelberg, 20. Juni. Das amtliche Wahl-
ergebniß für den XII. bad. Reichstagswahlkreis ist
folgendes: Bei der am 15. d. Mts. vorgenommenen

dürfen Sie auch die Hoffnung nicht aufgeben, die Freiheit
zu erlangen; lassen Sie zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre
vorübergchen, so kann Ihne» dieselbe schon noch werden!"
Tarloni fand keine Antwort. Also am Tage der Flucht
wurde ihm der Wechsel der Zelle angekündigt. Wenn er sie
einige Tage früher hätte verlassen müssen, so wäre ein jeder
Freiheitsversuch für immer dahin gewesen! Bei dem bloßen
Gedanken daran erschauerte er. Doch gleich darauf hegte
er den heißen Wunsch, der Gefangenwärter möge sich rasch
entfernen; denn wenn in seiner Gegenwart das Pfeifen als
Signal zur Flucht erscholl, so war dieselbe vereitelt. Doch
schon wandte er sich zum Gehen, indem er brummend sprach,
als gälte es eine finstere Drohung:
„Ich bringe eine gute Botschaft, wenn sie auch nicht ge-
rade groß, gern so rasch als möglich, wsshalb ich heut noch
zu Ihnen gekommen. Ihr neues Quartier wird etwas leich-
ter und auch sonst freundlicher sein. Gute Nacht!"
So viel hatte der Gefangenwärter noch nie mit dem Grafen
Tarloni gesprocheu und einen Abschiedsgruß schon gar nicht
geboten. Er hatte bereits den Griff der Thür erfaßt, um sich
wieder zn entfernen, als plötzlich von unten herauf ein leises
Pfeifen zn vernehmen war. Nun war es geschehen, so be-
gann der Gefangcnwärter mißmuthig:
„Die Thür quietscht und pfeift bereits wie eine alte
Wetterfahne, 's ist Zeit sie einznschmieren!"
Er hatte jedoch noch nicht recht ausgesprochen, als aber-
mals ein Pfiff ertönte. Da fuhr er erschrocken zusammen
und trat rasch wieder bis in die Mitte der Kerkerzelle.
„Was war das?! Mir war, als vernehme ich von unten
her ein leises Pfeifen?!"
Lauschend hielt er gespannt eine lange Weile den Athem
an; doch ringsumher herrschte tiefe Stille. Gern hätte Tar-
loni dieselbe durch irgend eine Frage unterbrochen, allein
die Kehle war ihm Ivie zngeschnürt und er brachte keinen
 
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