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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 111 - No. 120 (13. Mai - 21. Mai)
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erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Unter-
haltungsblatt, „Der Erzähler", mildem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei


Verküir-igungsblatt und Anzeiger
für Stabt und Land.

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-4» 119. Heidelberg, Samstag, 29. Mai

Expedition:
Hauptstraße 25.

1893.

Die TrnMNllMldumi in ROM.

Vielfach anders als von gewissen Seiten dargestellt
wurde, stellt sich die Kriegsbereitschaft Rußlands während
des Winters nach dem „Militärwochenblatt" heraus.
Darnach ist bei der russischen Armee während einer
Moßen Zeil des Jahres, das heißt von Mitte November
^is Mitte oder Ende Januar nur die Hälfte der an
!>ch nicht starken Friedenscadres wirklich bei der Truppe
gewesen. Der Dienst ruhte während dieser Monate fast
Sanz. Die neuen Rekruten wurden am 13. Januar
E>ngezogen, trafen aber vielfach der weiten Entfernungen
Wegen erst Anfang Februar bei den Truppen ein. Auch
Sach dem Eintreffen der Rekruten waren die Regimenter
w- mindestens 3 Monate, also „bis zuni Mai im Kriege
Sicht zu verwenden." Erst bis zum 13. Mai sollten die
Ernten so weit sein, daß sie in die Compagnien resp.
Schwadronen und Batterien eingestellt werden konnten.
Die Ausbildung war durch die ungünstigen klimati-
ichen und Dislokationsbedingungen sehr erschwert, die
^ute kamen also schlecht vorbereitet in die Compagnien,
^ren Exercitien erst Ende Mai, meistens schon in den
Yagern beginnen konnten. Dadurch verzögerte sich der
S?Nze Dienstbetrieb, so daß z. B. die Bataillonsexercitien,
bei uns schon im April beendigt zu sein pflegen, erst
f^nde Juni ihren Anfang nahmen. Einschließlich des
Schießens, Felddienstes, der Detachementsübungen und
^ianövern beschränkte sich damit die ganze Sommeraus-
^ldungszeit bei den meisten Truppen auf die Mvnare
nUni, Juli und August (nach russischem Stil bis Mitte
September). Am 1. (13.) October wurden in der
^gel die Reservisten entlassen. Außerdem kamen von
stEser an sich kurzen Zeit noch 14 Tage bis vier Wochen
A die freiwilligen Arbeiten der Mannschaften und die
^kasfütterung der Pferde in Fortfall. Trotz der während
ftr Lagerzeit stattfindenden äußerst intensiven Arbeit
°Nnte daher thatsächlich nur daö Allernöthigste, so zu
wgen das rein Formelle der Ausbildungsskala, wirklich
^Srchgemacht werden. Die angewandte Taktik und der
mlddienst beschränkten sich auf Tage.
. Nunmehr ist allerdings am 11. März ein Gesetz ver-
Jentlicht worden, wonach künftig die Einstellung der
Ernten statt am 13. Januar am 27. November er-
^gen soll. Das wäre also 7 Wochen früher. Aber
M dann erfolgt die Einstellung noch immer 3 Wochen
^Per als gegenwärtig in Deutschland, und da wegen der
J,iten Entfernung vielfach noch 3 Wochen zwischen der
Anstellung der Rekruten und dem Eintreffen bei den

Truppen liegen, so kommen also die russischen Rekruten
auch nach den neuen Bestimmungen erst sechs Wochen
nach den deutschen Rekruten bei den Truppen an. Nach
der Militärvorlage sollen außerdem bekanntlich die deut-
schen Rekruten noch 3 Wochen früher als bisher (Ver-
minderung der Rekrutenvacanz) eingestellt werden, sodaß
sich alsdann der Vorsprung in der Rekrutenausbildung
zu neun Wochen ausdehnen würde.
Dazu kommen noch die anderen Umstände, welche die
Rekrutenausbildung in Rußland erschweren und auch
durch die frühere Einstellung nicht erhoben werden. So
schreibt das „Militärwochenblatt", daß alle Bestimmungen,
wonach auch im Winter in den Cadres erercirt werden,
Uebungsmärsche und Detachementsmanöver ausgeführt
werden sollen, um die Kriegsbereitschaft der Truppen nicht
zu sehr schwinden zu lassen, mehr oder weniger an der
Ungunst der Witterung, die Unterbringung (oft compagnie-
und schwadronweise in Dörfern) und dem Mangel an
Exercier- und Schießplätzen scheitern. Erst in neuester
Zeit sei mit der Beschaffung von Uebungsplätzen und
Schießständen in der Nähe der Garnisonen vorgegangen.
Auch künftig werde es daher nur in seltenen Fällen mög-
lich sein, die Rekruten vor Mitte Mai einzustellen und
das Compagnie-Erercieren zu beginnen, da man nicht
früher in die Lager rücken könne.
Bisher ist es immer so dargestellt worden, als ob die
Cadres der russischen Truppentheile das ganze Jahr hin-
durch unvermindert präsent gebalten werden; nun erfahren
wir aus dem „Militärwochenblatt", daß diese Cadres von
Mitte Ootcber bis Anfang Februar nur die Hälfte des
Sollbestandes zählen.
Wahrscheinlich ist die erst soeben im März verfügte
frühere Einstellung der Rekruten auch nur eine Folge der
in Deutschland beabsichtigten Maßnahme einer um 3
Wochen früheren Einstellung der Rekruten. Sosch raubt
ein rüstender Staat den andern fortgesetzt
in die Hohe, und die Lasten der Völker
werden büben und drüben immer größer.

Deutsches Reich.
Berlin, 18. Mai. Der „Reichsanzeiger" schreibt:
Die B örs en en qu ete-Co m m i ssi o n beendete die
zweite Lesung. Ihre Aufgabe ist hiermit bis auf den
gutachtlichen Bericht an den Reichskanzler erledigt, zu
dessen Feststellung binnen einigen Monaten nochmalige
Versammlung stattsindet.

Die Irrfahrt des Keöens.
3-0 18ci Roman von C. Wild.
; „Mutter, Du bist hart, Du bist grausam," sagte ein
Snger hochgewachscner Mann in schmerzlichem Tone zu der
^ganten Dame, die ihm gegenüber in stolzer Haltung stand.
x,. Frau von Dahlen preßte die noch immer frischen rothen
Apen fest aufeinander, als sei es ihr schwer, auf diesen
k vrwurf eine Entgegnung zu siuden. Sie war, trotzdem sie
„ss fünfzigste Lebensjahr überschritten hatte, noch immer
, Se wunderschöne fesselnde Frau. Das rothblonde Haar
Ar noch von keinem Silberschimmer durchzogen, die dunklen
Allen hatten Feuer und Glanz, die Hautfarbe, ein perl-
mtterartiges Weiß, hatte den Verheerungen der Zeit getrotzt,
As um den Mund mit den etwas zu voll und stark ausge-
Jsgten Lippen grub sich zuweilen ein harter Zug, welcher
ss vorgerückte Älter der Dame erkennen ließ
Der Sohn glich der Mutter, dieselbe Farbe des Haares,
A dunkeln, von fciugczeichneten Brauen überwölbten Augen,
A hohe schlanke Wuchs; nur war alles bei Walter von
^shlen weicher, milder.
Auch die Charaktere der Beiden zeigten diesen Untcr-
Aed; es schien, als hätte die Natur sich darin gefallen, die
Allen zu vertauschen, um dem Sohne die Weichheit und
Alde einer Frau, der Mutter den unbeugsamen Sinn und
E Energie eines Mannes zu geben.
In diesem Augenblicke trat der Unterschied krasser denn
- zwischen den Beiden hervor. Walter's Augen schimmerten
H^cht, Blick und Stimme verriethen tiefen Schmerz; Frau
Aistgme von Dahlen's Gesicht blieb wie aus Marmor ge-
„Hart und grausam nennst Du mich," begann sie jetzt
A tiefer, volltönender Altstimme, „har< und grausam, weil
ein reiches, schönes, junges Mädchen zur Frau geben
Tausende von jungen Männern an Deiner Stelle

würden sich glücklich Preisen und Du nennst mich hart und
grausam?"
Der junge Mann kämpfte sichtlich mit sich. „Ich liebe
Fräulein von Minden nicht," sagte er endlich mit stockender
Stimme, „so schön, so reich sie ist, ich — ich kann sie nicht
liebenswerth finden."
Frau von Dahlen hob verächtlich die Schultern. „Leere
Phrasen! Zu einer guten Ehe ist keine himmelstürmende
Leidenschaft nöthig. Du bist stets ein Schwärmer gewesen.
Walter, Du kennst das Leben viel zu wenig. Ich weiß bester
als Du, was Dir frommt und nun genug von dieser Sache.
Morgen führst Du mit mir zu Alma von Minden, um Deine
Werbung anzubringen." Sie hatte mit jenem entschiedenen
Tone gesprochen, der ihrem Sohne immer andeutete, daß
jeder Widersprach hier seine Grenze habe, allein heute fügte
sich Walter nicht wie sonst. Er senkte das Haupt, aber er
rührte sich nicht von der Stelle.
Ncberrascht betrachtete Frau von Dahlen ihren Sohn.
Sie mit ihrem starken, energischen Geiste, mit ihrem festen
Willen, ihrer raschen Urtheilskraft, hatte bisher die Erziehung
ihres einzigen Sohnes nach ihrer Weise geleitet. Selbst-
ständigkeit hatte Walter nie besessen; er war nur immer
gewohnt zu gehorchen, sich den Wünschen seiner Mutter zu
fügen. Eigenen Willen hatte er nie haben dürfen.
Herr von Dahlen war seit Jahren gelähmt und au seinen
Rollstuhl gefesselt. Auch zur Zeit, da er noch gesund und
rüstig gewesen, hatte er sich dem Willen seiner Gattin gebeugt.
Sie führte und leitete alles, die eigentliche Herrin war
sie. Gatte und Sohn hatten nur zu gehorchen und sich zu
fügen.
Walter's von Natur aus weicher, nachgiebiger Charakter
war durch diese Behandlungsweise zur gänzlichen Unselbst-
ständigkeit herabgedrückt worden. Er sah nur mit den Augen
seiner Mutter, hörte nur durch sie und bildete sich seine
Meinung nach ihren Grundsätzen

Berlin, 18. Mai. Der Kaiser ist heute früh
nach Görlitz abgereist, um der Enthüllung des Denk-
mals für Kaiser Wilhelm I. beizuwohnen.
Görlitz, 18. Mai. Der Kaiser traf um 12^
Uhr ein und begab sich sofort auf den Festplatz, wo die
Enthüllung des Denkmals programmmäßig vor sich ging.
Die Feier war vom schönsten Wetter begünstigt. Der-
selben wohnten mit dem Kaiser Prinz Friedrich Leopold,
Reichskanzler Graf Caprivi, der Kriegsminister ».Kalten-
born, der Ministerpräsident Graf Eulenburg und die
Minister v. Bötticher und Bosse bei. Der Kaiser be-
grüßte bei der Ankunft namentlich den Reichskanzler und
den Kriegsminister sehr huldvoll. Bei dem Festmahl,
welches der Enthüllungsfeier folgte, erwiderte der Kaiser
auf eine Ansprache des Grafen Fürstenstein etwa Fol-
gendes : Eine erhebende Feier habe soeben ihren Abschluß
gefunden. Das Denkmal, das in hoher Vollendung die
Gestalt seines Großvaters darstelle, sowie viele Andere,
die vollendet seien oder der Vollendung entgegengehen,
sei entsprungen aus dem Gefühl der Dankbarkeit des
Volkes für seinen Heimgegangenen Großvater und sein
Haus. Für diese Gefühle der Liebe und Treue
spreche er hiermit seinen herzl. Dank aus. Er danke
ferner der Stadt Görlitz für den ihm bereiteten würdigen
und schönen Empfang. Was Kaiser Wilhelm 1. einst ge-
wonnen und geschaffen, wolle er festhalten. Es gelte, die
Zukunft des Vaterlandes zu sichern; dazu bedürfe es einer
Erhöhung und Stärkung der Wehrkraft. Er habe die Nation
aufgeftrdert, die erforderlichen Mittel zu bewilligen. Vor dieser
ernsten Frage, wovon das Dasein des Vaterlandes ab-
hänge, träten alle anderen Fragen zurück. Zu ihrer
Lösung bedürfe man der Einigkeit. Was das deutsche
Volk auch trennen möge, was immer die persönlichen
Anschauungen in verschiedene Bahnen leiten möge, alles
sei bei Seite gelegt, da es die Zukunft des Vaterlandes
gelte. So möge die Lausitz, wie alle Theile der Monarchie, treu
zur Krone und Dynastie stehen, und die gesummten
deutschen Männer fest geschaart um ihre Fürsten. Möchten
alle deutschen Männer das Andenken an die große Zeit
vor 23 Jahren, wo die deutsche Einigkeit mit dem ge-
meinsam vergossenen Blute zusammengekittet worden, und
die Zukunft des Vaterlandes wahren, sein Bestehen und
seine Freiheit sichern. Er trinke auf daS
Wobl der Lausitz und der Stadt Görlitz! —
Nach dem Festmahle hielt der Kaiser Cercle im Feldherrn-
saal und in den angrenzenden Räumen. Auf der
Fahrt zum Bahnhof besichtigte der Kaiser noch das Prinz
Friedrich Karl-Denkmal an der Promenade, von der dicht-

Das war bisher so gewesen, aber in letzter Zeit war ein
Umschwung in seinen Gesinnungen eingetreten und da der
junge Mann eigentlich seine Mutter mehr fürchtete als liebte,
so hatte er Sorge getragen, diese Veränderung vor ihr ver-
borgen zu halten. Aber heute konnte, durfte er nicht länger
schweigen und verbergen, obgleich er nur mit Zittern dem
Augenblicke entgegen sah, da er seiner Mutter alles sagen
müßte. Ihr scharfer, durchdringender Blick, der forschend
auf ihm ruhte, machte ihn beben. Sein Widerstand schon
hatte sie erbittert, was würde sie erst sagen, wenn sie die
ganze Wahrheit erfuhr.
Und es mußte gesagt sein, es mußte!
Zwei sauste blaue Augen blickten ihn zärtlich an and ein
amuuthiges, blondes Köpfchen drängte sich bittend vor —
Melitta! Er hatte ihr Liebe und Treue geschworen, keine
andere als sie sollte seine Frau werden!
Er Wußte selbst nicht, woher er Plötzlich den Muth ge-
nommen, seiner Mutter zu Füßen zu sinken, ihr alles zu
gestehen.
Schweigend, ohne einen Laut der Ueberraschung oder
des Staunens von sich zu geben, hörte Frau von Dahlen
ihren Sohn an.
Also das war es! Dieser thörichte, unbehülfliche Knabe
lieble eine Andere!
Und wie klug, wie geschickt er es verstanden, sein Ge-
heimuiß verborgen zu halten. Fürwahr, das hätte sie ihm
nicht zugetraut! Es steckte also mehr in diesem Kinde als sie
selbst verniuthet hatte — sie, die sonst so Scharfsichtibe hatte
eine solche Gefahr übersehen können und nun mußte sie durch
eiu romantisches Geständnis; überrascht werden!
Keine Wimper in diesem schönen, marmorkaltcn Antlitze
zuckte, während Frau von Dahlen diese Betrachtungen machte.
Sie ließ ihren Sohn ruhig zu Ende reden, dann fragte sie
kalt: „Wie heißt dieser Engel in Menschengestalt, der Deine
Liebe gewonnen?"
 
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