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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 141 - No. 150 (17. Juni - 28. Juni)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43990#0611

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Mrger- G Zeitung

Vcrkimdigrmgsblatt und Anzeiger

Abonnementspreis
für Heidelberg: monatl. 40 Pfg. mit
Trägerlohn, durch die Post bezogen
vierteljährl. Mk. 1.— ohne Zustellgeb.
Znsertionspreik: 10 Pf. für die 1-spalt-
Petitzeile od. deren Raum- Für locale
Geschäfts- u. Privatameigen 5 Pf.

Die »Müraerzeitnns"
erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Untcr-
haltungsblatt, „Der Erzähler", mit dem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei.

14«. Heidelberg, Freitag, 23. Juni 1893.

Der Abonnementspreis
für die
„Würger- - Zeitung"
beträgt für Heidelberg und nächste Umgebung
monatlich nur M Pfg.
mit Trägerlohn.
Für auswärts vierteljährlich am Postschalter
abgeholt: 1 Mark, durch den Briefträger frei in's
Hans gebracht: 1 Mk. 4tt Pfg.
Bestellungen der „Bürger-Zeitung" werden für
auswärts durch die Post, innerhalb der Stadt und nächster
Umgebung durch unsere Träger entgegengenommen.
Neu hinzutretende Abonnenten erhalten die „Bürger-
Zeitung" bis Ende des Monats unentgeltlich.
Verlag der „Bürger-Zeitung".
Die Stiimmmg der Wahlkreise gegen
die Militärnorlagc.
Wenn in Deutschland nur zwei große parlamentarische
Parteien beständen für und gegen die Miltärvorlage, so
würde die Militärvorlage auch bei diesen Neuwahlen mit
einer größeren Mehrheit als im aufgelösten Reichstag
abgelehnt sein. Denn nach einer Zusammenstellung hat
sich in 253 Wahlkreisen eine Mehrheit gegen die
Militärvorlage ergeben und nur in 144 Wahlkreisen eine
solche für die Militärvorlagc.
Bei der Ermittelung dieses Ergebnisses sind in jedem
einzelnen Wahlkreis zusammengerechnet auf der einen
Seite die Stimmen der freisinnigen Volkspartei, der
Centrumspartei, der süddeutschen Volkspartei, der Deutsch-
hannoveraner, der Socialdemokraten, Elsässer und Dänen
als gegen die Militärvorlage abgegeben und auf der
anderen Seite die Stimmen der freisinnigen Vereinigung,
der Nationalliberalen, Freiconscrvativen, Polen und An-
tisemiten als für die Militärvorlage abgegeben.
Diese Berechnung ist für die Militärvorlage eher zu
günstig als zu ungünstig. Denn die polnischen Stimmen,
die hier sämmtlich der Militärvorlage zu Gute gerechnet
find, sind bekanntlich getheilt. Auch sind alle Stimmen
für die freisinnige Vereinigung der Militärvorlage gut ge-
schrieben, obgleich der größere Theil dieser Stimmen von
Gegnern der Militärvorlage herrührt und nur aus per-
sönlichen und anderen Rücksichten für die Candidaten der
freisinnigen Vereinigung abgegeben ist. Nur die für die
Abbgg. Schrader, v. Bar und Althaus abgegebenen
Stimmen sind den Gegnern der Militärvorlage zugezählt.

Weiterhin sind sämmtliche antisemitische Stimmen zu
Gunsten der Militärvorlage gebucht, obwohl die Böckel'-
schcn sich auch nach ihrem Umfall in allerlei Vorbehalten
ergehen. In Kleinigkeiten können noch einige Berichtig-
ungen erfolgen, weil die Wahlergebnisse noch nicht
überall ziffermäßig bekannt sind. Im Ganzen aber dürfte
eine nähere Feststellung eine noch größere Mehrheit von
Wahlkreisen gegen die Militärvorlage ergeben, als dem
Verhältniß von 253 zu 144 entspricht. Trotzdem 253
Wahlkreise gegen die Militärvorlage und nur 144 für
dieselben in der Mehrzahl der abgegebenen Stimmen sich
erklärt haben, sind wir der Ansicht, daß die Annahme
der Militärvorlage im Reichstag sehr nahe im Bereich der
Wahrscheinlichkeit liegt.
Woher dieser Unterschied? Die gegen die Militär-
vorlage abgegebenen Stimmen vertheilen sich auf die Zahl
verschiedener Parteien. Unter diesen Parteien gab es weit
weniger gemeinsame Candidaten als unter den verschiedenen
Parteien, die für die Militärvorlage stimmen. In Folge
dessen sind die gegnerischen Parteien nicht im Verhältniß
zu ihrer Gesammtstärke an den Stichwahlen bethciligt.
Weiter kommt in Betracht, daß sich bei Stichwahlen die
verschiedenen Parteien, auch wenn solches ausdrücklich von
den Vorständen beschlossen wird, nicht einheitlich in ihrer
Gesammtzahl bei der Stimmabgabe zusammenfassen lassen.
Außerdem wirken einem Zusammengehen vielfach noch
andere Gründe entgegen, welche mit der Militärvorlage
nichts gemein haben. Auf der rechten Seite kommt Alles
dies practisch weit weniger in Betracht, weil hier die Ab-
lehnung an die Regierung die Kampfesgemeinschaft durch-
weg von vornherein eine engere war.
Die obige Berechnung giebt auch den Schlüssel dazu,
woher es kommt, daß das Wahlergebniß so drastisch im
Widerspruch steht zu den Eindrücken, welche man vor
den Wahlen in den einzelnen Wahlkreisen in der Oeffent-
lichkeit empfing. Bei der Stimmung, welche sich in der
Oeffentlichkeit kund giebt, läßt sich nicht der Gesammt-
eindruck zergliedern nach der Zugehörigkeit zu den ver-
schiedenen Parteien.
Noch ungünstiger für die Militärvorlage würde das
Wahlergebniß ausfalle», wenn die Mehrheit nicht be-
rechnet würde innerhalb der einzelnen Kreise sondern
innerhalb des ganzen Reiches. Denn gerade die am
stärksten bevölkerten Wahlkreise sind durchweg gegnerisch
gegenüber der Militärvorlage. Berlin hat in seinen 6
Wahlkreisen Mehrheiten gegen die Militärvorlage ergeben.
Die Berliner Wahlkreise sind in, Verhältniß doppelt so
groß wie der Durchschnitt der anderen Wahlkreise. Sobald
eine genaue amtliche Statistik veröffentlicht sein wird,
dürfte sich ergeben, daß bei den Hauptwahlen nahezu

drei Viertel der abgegebenen Stimmen denjenigen Parteien
angeboren, welche gegen die Militärvorlage gestimmt haben.
Daß dieses Stimmenvcrhältniß nicht zum Ausdruck
kommt in der Zahl der Mandate, hat außer in den
oben angegebenen Gründen noch seinen besonderen Grund
in dem Umstande, daß eine Neueintheilung der Wahl-
kreise seit 1867 nicht stattgefunden und seitdem das
Wachsthum der Bevölkerung in den einzelnen Wahlkreisen
sich ganz verschieden gestaltet hat.
Wie aber würde sich erst das Plebiszit gegen die
Militärvorlage gestaltet haben, wenn die Stimmen überall
wirklich frei und unbeeinflußt durch das Beamtenthum
und die Arbeitgeber hätten abgegeben werden können.
Namentlich auf die kleinen ländlichen Abstimmungsbezirke,
in welchen eine geheime Wahl thatsächlich nicht besteht,
entfällt ein sehr großer Theil der für die Militärvorlage
abgegebenen Stimmen.
Man darf daher schon heute sagen, daß, wenn die
Militärvorlage im Reichstage zur Annahme gelangt, was
wir jetzt befürchten müssen, damit dem Volk in seiner
Gesammtheit ein Gesetz aufgezwungen würde, welches
demselben in seiner großen Mehrheit durchaus wider-
strebt. Der Rückschlag hiervon auf das gesammte
Staatsleben würde nicht auSbleiben.

Deutsches Reich.
Berlin, 21. Juni. Ueber den Rest der Arbeiten
des preuß. Landtags sind jetzt die Präsidien der beiden
Häuser des Landtags stillschweigend übcrcingekommen.
Darnach wird der Landtag spätestens am 15. Juli ge-
schlossen ; bis dahin muß die Steuervorlage und der Rest
der Arbeiten größtentheils zum Abschluß kommen.
Berlin, 21. Juni. Der „Neichsanzeiger" schreibt:
Der Kaiser verlieh dem commandirenden General des
V. Armeecorps v. Seeckt die Krone zum Großkreuz
des Rothen Adlerordens mit Eichenlaub.
Berlin, 21. Juni. Die „Norddeutsche Allgemeine
Zeitung" erfährt, der Arbeitsminister habe zur Linderung
des befürchteten Stroh- und Futtermangels vor-
übergehend bedeutend die Tarife der preußischen und
reichsländischcn Eisenbahnen für T o r fstr eu und Futte r-
mittel ermäßigt. Die Ausnahmefrachten für Torfstreu
gelten bis zum 1. September 1894, für die Futtermittel
bis auf weiteres.
Berlin, 21. Juni. Das deutsche Heer hat
im Monat April 141 Mann durch den Tod verloren.
Es verunglückten 9 Mann, durch Selbstmord kamen
22 um.
Kiel, 21. Juni. Die Kaiserin wird mit dem
Kronprinzen Samstag hier erwartet. Bei dem gestrigen

Zleber's Meer. 5,1 13
Erzählung von Kuno von Wildenfels.
Hast Du, verehrter Leser, schon einmal über das traurige
Loos und die nicht minder traurige, geisttödtende Beschäfti-
gung eines Schreibers nachgedacht? Jahr ein, Jahr aus,
ohne Ruh und Rast, muß er vom frühen Morgen bis zum
späten Abend zwischen hoch aufgcspeicherten Actenbündeln
gebückt an seinem Tische sitzen und die unleserlichen trockenen
und nach der Schablone gefertigten Protokolle, Anklage-
schriften, Erkenntnisse und Insinuationen seines Vorgesetzten
in schöner Currentschrift, die Anfangsbuchstaben niit kühnen
Schnörkeln geschmückt, abschreiben. Viele, mit lateinischen
Brocken gespickte Aktenstücke sind ihm gänzlich unverständlich,
ober einerlei, er muß sie abschreiben. Andere, welche ein
richterliches Erkenntniß, eine Verurtheilung irgend eines
seiner Mitbürger, vielleicht eines seiner Freunde zum Inhalt
haben, wecken sein Mitleid und pressen ihm wohl Thränen
aus, aber einerlei, er muß sie abschreiben. Noch andere, von
denen er mit Sicherheit weiß, daß sie niemals wieder benutzt,
sondern sofort dem übrigen, bereits zu einem Berge ange-
wachsenen Actenballast einverleibt werden, reizen seinen Zorn,
weil sie ihm eine unnütze Arbeit und Mühe machen, aber
einerlei, er muß sie abschreiben. Längst hat er sich überzeugt,
daßter in seinem Berufe nichts Anderes als eine kalligraphische
Maschine ist, aber, so drückend dies Bewußtsein auch sein
mag, will er leben, so muß er schreiben, schreiben, schreiben!
Es herrscht in dem weiten, hohen, mit Kalk übertünchten
Schreibgemache eine Grabesruhe, nur unterbrochen durch
das eintönige Zirpen einer Grille und durch das Rasseln
der Feder, wenn dieselbe über die weiße Fläche des Papiers
jagt. Die blühenden und duftenden Liyden vor dem Fenster
rauschen fröhlich im Morgenwinde, die Bogel auf den Zweigen
zwitschern und scheinen des armen Schreibers in seinem
Kerker zu spotten; die Somwnstrahleu drängen sich neugierig

durch der Zweige Grün, schauen freundlich in das Gemach,
und wollen, indem sie die tanzenden Stäubchen zu sich empor
und durch das geöffnete Fenster in's Freie ziehen, auch das
gequälte Menschenkind hinaus in die freie Natur locken.
Aber vergebens locken sie, vergebens küssen sie mitleidig seine
Stirn und Wange — er muß schreiben, daniit er sein kümmer-
liches Dasein friste und den Anforderungen seines Gebieters
Genüge leiste. Schreiben! heißt ja die Parole des Bureau-
kraten, und Schwarz auf Weiß ist sein Dogma. Was gethan
ist, muß geschrieben werden, und was nicht gethan ist, muß
auch geschrieben werden. Die grünen Bäume rauschen, die
Sonne strahlt am blauen Himmclsraume, die Blumen da
draußen spenden balsamische Düfte und die Schwalben, im
Vollgenuß ihrer Freiheit, durchschueidcu ini raschen Fluge
und mit jauchzendem Gekreisch die laue Luft — aber der
arme Schreiber sitzt gebückt am Tische und muß schreiben,
schreiben, schreiben!
Solch' ein armes Menschenherz müßte vor Grain und
Kummer brechen, wenn nicht die Hoffnung und die Liebe
dasselbe aufrecht erhielte» und dem Einsamen Gesellschaft
leisteten.
Hoffmmg und Liebe, ihr beiden zauberischen Fee», so gebt
auch noch manchem anderen Meuschenherzen Kraft und Muth,
die Schwere des Schicksals zu ertragen!
Tritt ein mit mir, geliebter Leser, in ein solches, Dir
mit kurzen Worten geschildertes Schreibgemach, welches das
Eckzimmer eines alten, im Renaissancestiel erbauten Amts-
gebäudes einer Landstadt bildete. Die ursprünglich weißge-
tüuchten Wände hatte» sich im Lauf der Zeit in den Gegen-
satz der Unschuldsfarbe verwandelt und waren zum Theil
bis zur Decke mitActeiistößeii bedeckt, die, seit vielen Decennien
daselbst aufgespeichert, nicht minder geschwärzt und bestaubt
waren, als die Wände selbst.
In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch, an welchem
ein junger Manu saß und emsig schrieb. Es waren aber keine

Acten, die er cops.te — diese waren bei Seite geschoben —,
sondern eine selbstständige Arbeit, mit der er sich beschäfkcgte,
und die nicht allein sein höchstes Interesse in Anspruch nahm,
sondern auch sein ganzes Innere aufzuregen schien. Mit
einer gewissen Selbstzufriedenheit, die sich auf seinem hüb-
schen Gesichte kund gab, legte er endlich die Feder auf das
Tintenfaß und faltete das Papier wie einen Brief zusammen,
ohne dasselbe jedoch mit Siegellack oder einer Oblate zu ver-
schließen. Dann erhob er sich und trat an eines der beiden
Fenster, welches die Aussicht in einen großen parkähnlichen
Garten bot, der sich bis zu einem nahe gelegenen Buchenwald
erstreckte, mit welchem er, da keine Einfriedigung ihn von
demselben trennte, ein zusammenhängendes Ganze zu bilden
schien. Nachdem der Jüngling einige Minuten lang seine
Blicke über das in allen Schattirungcn glänzende Maigrün
der Bäume und Gesträucher, sowie auch über die verschlun-
gene» Kieswege des Gartens hatte schweifen lasten, glitt,
ass er Niemand erblickte, ein zufriedenes Lächeln über sei»
Gesicht, und er ließ sein Briefchen absichtlich seiner Hand
entgleiten und in einen Rosenbusch fallen, von dessen reicher
Knospenfiille sich aber noch keine einzige zu einer Blnme ent-
faltet hatte.
Einige Augenblicke spater trat ein jnnges Mädchen in
den Garten. Es blickte sich scheu und ängstlich nach allen
Seiten um, nickte dem Schreiber einen fluchtigen, aber ver-
ständnißinnigen Gruß zu und trat mit langsamen Schritten
an den Rosenbusch heran, nm sich scheinbar in dessen Knos-
penpracht zu versenken, in Wirklichkeit aber um einige ge-
flügelte halblaute Worte mit dem Schreiber da droben im
Fenster zu wechseln, und, unbemerkt von profanen Augen,
das den Händen des Jünglings entglittene Briefchen aufzu-
nehmen und ein anderes dafür an die Stelle zu legen. Die-
ses Letztere wurde dann später, sobald die Feierabendglocke
geschlagen hatte, von dem Schreiber aufgehoben.
Dieser Briefwechsel war bei der günstigen Gelegenheit,
 
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