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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 141 - No. 150 (17. Juni - 28. Juni)
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Mrger

Berkürrdigungsblatt «nd Anzeiger

Slbonueuirntspreis
für Heidelberg: monatl. 48 Pfg. mit
Trägcrlohn, durch die Post bezogen
Vierteljahr!. Mk. 1.— ohne Zustcllgeb.
Jnfertionspreis: 10 Pf. für die 1-spalt-
Petitzeilc od. deren Raum. Für locale
Geschäfts- u. Privatameigen 5 Pf.

Die,„Bürgerzeitung"
erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Unter-
haltungsblatt, „Der Erzähler", mit dem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei.

M 141.

Expedition:
Hauptstraße 25.

Heidelberg, Samstag, 17. Juni

Expedition:
Hauptstraße 25.

1893.

Wach der Wähl'.
Mit Freuden wäre es zu begrüßen, wenn es sich bei
der Wahl, die mit dem gestrigen Tage vor sich gegangen
ist, einzig und allein um die Militärvorlagc handelte.
Hätte diese Wahl rmr zu entscheiden gehabt, ob die Militär-
last in der von der Regierung geforderten Weise zu er-
höhen sei oder nicht, so brauchte man sich, wie auch
immer der letzte Spruch ausfallen mag, nicht einen Augen-
blick zu beunruhigen, so brauchte man nicht Sorge zu
tragen um die Zukunft. So liegen aber die Dinge bei
uns leider nicht, so glücklich sind wir nicht gebettet. Es
fehlt dazu die nothwendige Voraussetzung, die Sicherheit
der Grundlagen unserer politischen Verhältnisse. DaS
Deutsche Reich ist kein V er fa ssu n gs st a a t, der-
be utsche Reichstag kein Parlament im wahren
Sin ne d es C o nsti t uti o na li smus. Es steht noch
Anderes u. Höheres auf dem Spiel als eine vermehrteMilitä-
last. Wir haben Parteien im Reiche, von denen die Grund-
lagen unseres staatlichen Lebens bedroht werden, denen
das allgemeine Wahlrecht und die Gleichbe-
rechtigung der Bürger mißfällig sind, die im
Absolutismus das Ziel sehen. Es fehlt der Rechts-
boden für unsere politischen Kämpfe, wie ihn
sich andere Nationen errungen oder geschaffen haben, der
Boden, auf dem mit der Regierung alle Parteien stehen
und den zu sichern sie für die höchste ihrer Pflichten
halten. Bei uns stellt jede Wahl diesen Rechtsboden in
Frage und droht ihn zu erschüttern oder zu zerstören; das
ist's, was den Ausgang eines Wahlkampfes so folgen-
schwer macht.
Der Augenblick ist ernst, die Zukunft ungewiß, sicher
ist nur das Eine, daß uns, wie auch endgiltig das Ver-
dikt der Nation ausfällt, schwere Kämpfe um die höchsten
Güter, die wir besitzen und erstreben, nicht erspart bleiben
werden. Da gibt es nur einen Leitstern, dem man ver-
trauen kann: das Rechtsgefühl und die gewonnene Er-
kenntniß des Wahren; in ihnen vereinigt sich und aus
ihnen entspringt die echte Liebe zum Vaterland und die
aufopfernde Sorge um sein Blühen und Gedeihen, wie
es uns der Dichter hat einprägen wollen mit den Worten:
„Der Eine fragt: Was kommt danach?
Der Andre fragt nur: Was ist recht?
Und also unterscheidet sich
Der freie Mann vom Knecht."
Möge der 15. Juni der Tag gewesen sein, der der
Welt kundthat, daß in Deutschland die Vaterlandsliebe
der Rechtssinn freierMänner und nicht unter-
thäniger Knechts sinn ist! Das würde für die
Erhaltung des Friedens und für das Ansehen des Reiches
mehr bedeuten als „Roß und Reißige" in vermehrter

Zahl." Dem begehrlichen „Wer den Frieden will, muß
sich zum Krieg bereiten", stellen wir entgegen „Wer des
Friedens Frucht ernten will, säe desFriedcns
Samen!

Zur Eröffnung des Reichstags
schreiben die „B-P. Nachr." anscheinend offieiös: „Wenn
die Frage des Zeitpunktes der Eröffnung des Reichstages
in der Oeffentlichkeit erörtert wird, so ist zu beachten,
daß allerdings für die Festsetzung dieses Zeitpunktes be-
stimmte Grenzen gegeben sind. Denn wenn die Eröff-
nung nicht vor der Feststellung der Ergebnisse der Stich-
wahlen erfolgen kann, so darf sie vcrfassungsgemäß auch
nicht über den 90. Tag nach der Auflösung verschoben
werden. Welcher Tag innerhalb dieses Spielraums ge-
wählt werden wird, dürfte wesentlich von dem Ausfall der
Wahlen am 15. d. Mts. abhängen, namentlich kommt
dabei auch die Zahl der vorzunehmenden Stichwahlen in
Betracht, weil selbst die formalen Geschäfte der Kon-
stituirung des Reichstages nicht erledigt werden können,
ehe nicht mehr als die Hälfte der Wahlen wenigstens
vorläufig für giltig erklärt ist. Aus dem Vorstehenden
ergibt sich, daß der Termin für die Eröffnung des
Reichstages noch nicht feststeht, und daß daher bezüg-
lichen Meldungen der thatsächlichen Unterlage ent-
behren. Dasselbe gilt von der Meldung, daß bereits
der Inhalt der Thronrede festgestellt sei. Es liegt in
der Natur der Sache, daß die Feststellung der Thron-
rede so nahe als möglich an den Eröffnungstag herange-
rückt wird, um die Möglichkeit zu haben, alles, was bis
dahin verfällt, nöthigenfalls zu berücksichtigen. Schon
aus diesem Grunde ist daher klar, daß die Feststellung
der Thronrede nicht stattfinden kann, bevor sich das Er-
gebniß der Reichstagswahlen übersehen läßt. Noch weniger
steht endlich jetzt schon fest, welche Vorlagen dem Reichs-
tage in der nächsten Tagung gemacht werden würden.
Die Militärvorlage wird ihm natürlich bei seinem Zu-
sammentritt sofort vorgelegt werden. Von dem Beschlüsse,
den der Reichstag über die geschäftliche Behandlung dieser
Vorlage fassen wird, hängt es aber ab, ob ihm außerdem
noch andere Vorlagen gemacht werden. Denn wenn er
sich dafür entscheiden sollte, über die Militärvorlage ohne
kommissarische Vorberathung Beschluß zu fassen, so bleibt
für die Erledigung anderer Vorlagen kein Raum. Be-
schließt der Reichstag dagegen wiederum kommissarische
Vorberahtung, so ist nicht allein die Möglichkeit gegeben,
dringende, lediglich wegen der Reichstagsauflösung nicht
erledigte Vorlagen, wie z. B. das Reichstagsseuchengesetz,
jetzt zum Abschluß zu bringen, sondern cs empfiehlt sich
sogar aus dem Gesichtspunkte, daS Plenum des Reichs-

tags während der Commisstonsverhandlungen nicht unbe-
schäftigt zu lassen, die dringlichsten und wichtigsten in
der letzten Tagung unerledigt gebliebenen Vorlagen jetzt
wieder einzubringen.

Deutsches Reich.
Berlin, 15. Juni. Die „Kreuzzcitung" bringt einen
auffallenden Leitartikel, worin unter Spott und Hohn
gegen die Handelspolitik Caprivis aus angeblich aller-
bester Quelle die russischen Gegenvorschläge in Sachen des
Handelsvertrags veröffentlicht werden. Darnach sollen für
Importe aus Ländern, die Rußland der Meistbegünstigung
nicht cinräumten, ein Aufschlag von 20 pCt. des russischen
Zolltarifs erfolgen für Kaffee, Kakao, Tabak, Holzfabrikate,
Korbarbeiten, Töpferwaaren, chemische Products, Seife,
Eisen, Seide, Wolle, wollene und balbwollene Gewebe
u. s. w., ferner ein Aufschlag von 30 pCt. für Cigarren,
Weine, Rum, Porzellanmaaren, Glas, Maschinen, Brillen,
Uhren, Waggons, Teppiche, Spitzen, Wäsche re.; ein Auf-
schlag von 15 pCt. für Colonialwaaren und Rohzucker.
Zollabschläge sollen nur erfolgen auf Sensen, Sicheln,
Handwerkszeug, landwirthschaftliche Maschinen und Ge-
rüche. Die „Kreuzzeitung" verlangt im Namen der Land-
wirthschaft Aufklärung darüber, ob man der Berliner
Regierung wirklich derartiges zu bieten wage. Nachdem
sie drei Spalten lang über diese aus allerbester Quelle
stammende Information geleitartikelt hat, bringt sie eine
kleine Nachschrift der Redaction, in der cs heißt, der
Artikel stamme aus einer Quelle, die sie für durchaus
glaubwürdig halte, fraglich sei nur, ob es sich dabei um
die letzten Vorschläge oder eine ältere Erklärung Rußlands
handle, die nach Informationen der „Kreuzzeitung" von
Deutschland seinerzeit entschieden abgelehnt worden sei.
Wozu also der Lärm? Das Ganze sieht aus wie ein
Wahlmanöver in der letzten Stunde. Auf Erkundigung
an unterrichteter Stelle verlautet, daß die Angaben der
Kreuzzeitung" falsch sind.
Berlin, 15. Juni. Es verlautet, der Finanziuiuister
Miquel sei entschieden gegen eine direkte Reichs-Ein-
kommensteuer, dagegen unbedingt für die Reichs-Erb-
schaftssteuer. Die preußische Regierung halte an den
Plänen fest, event. die Erbschaftssteuer in den einzelnen
Bundesstaaten einzuführen.
Berlin, 15. Juni. Wie die „Nationalztg." erfährt,
wird der englische Commissar für die deutsch-englische Ab-
grenzung in Ostafrika, Smith, zu Ende dieses Monats
in Berlin erwartet, um die Grenzverhandlungen hier zu
beendigen. Deutschland wird bei den Verhandlungen
durch den ReichScommissar Peters vertreten.

> .-!!
KieVeszariöer.
HrzLhllmg von Wilhelm Appell.
4,5 18 (Schluß.)
Bevor die jungen Leute jedoch noch sprechen konnten, brei-
tete die Mutter ihre Arme aus, indem sie weinend rief:
„Mein Kind, mein süßes, heißgeliebtes Kind, komm' an
das Herz Deiner neuen Mutter, die Dich achten und lieben
will und Dir immer danken wird für die Rettung ihres
Sohnes!"
Da stand das Mädchen einen Augenblick sprachlos, wäh-
rend ihre Augen in überirdischem Glanze anfzuleuchten be-
gannen. Gleich darauf aber lag sie vor der Freiherrin auf
den Knien und barg schluchzend das Gesicht in deren Händen,
welche Mühe hatte, sie empor zu ziehen. Dann ließ Ilka
ihren Kopf an dem Herzen ihrer neuen Mutter ruhen, um
ihr hohes Glück daran ouszuweinen. Die Klosterfrauen hatten
es trefflich verstanden, das wilde Haideröslein in eine sanfte
Rose zu verwandeln
In dem Schlosse am Rhein erblühte fortan ein inniges
Liebesleben. In unnennbarer Zärtlichkeit hing Ilka, welche
in den reichen Gewändern gleich einer seltsamen Blume zu
schauen war, an ihrer neuen Mutter, die ihr die gleichen
Gefühle entgegenbrachte.
Wohl umzog anfangs beim Rauschen des dunklen Tannen-
waldes mitunter ein unbegreifliches Sehnen ihre Brust, das
sie forttreiben wollte aus dem glanzvolle» Leben, hinein in
di« wilde, ungebundene Freiheit. Aber muthig kämpfte sie
solche Regungen nieder, die eben so rasch schwanden als sie
kamen. Mit dem ersten Kinde verloren sich jedoch solche An-
fechtungen für immer und nur die zärtlichste Mutterliebe er-
füllte all' ihr Denken und Empfinden.
Die Knaben, die ihr vom Himmel wurden, hatten dunkle
Augen und braune Hont wie die Mutter. Als aber auch ein

Mädchen kam, da wollte sie kaum an das Wunder glauben,
denn hold gleich einem jungen Maienmorgen wuchs es heran
und goldige Locken umsäumten das rosig angehauchte Gesicht,
in dem zwei sanfte Augen gleich wie der lichte Himmel strahl-
ten. Kaum vermochte Ilka es zu fassen, daß diese liebliche
Menschenblüthe ganz ihr Eigen sei.
Gar oft, wenn das junge Ehepaar innig umschlungen am
hohen Bogenfenster stand, sprach der Freiherr voll tiefster
Zärtlichkeit:
„Wie danke ich doch dem Geschick, daß es mich in grau-
same Sklaverei geführt, denn es wurde mir ja dadurch mein
höchstes Glück, niein süßes, theueres Weib!"
* *
*
Wiener Gerichtsscene. Drei junge, kräftige Män-
ner, die kein Hehl daraus machen, daß sie sich von ihren Ge-
liebten — Damen aus der Wiener Halbwelt — unterhalten
lassen, stehen wegen mehrerer verwegener Eiubruchsdiebstähle
vor Gericht, während auf dem Corridor ein halbes Dutzend
leichter Dämchen dein Ausgange der Verhandlung mit Span-
nung entgegensieht und mit Cigarren und Wäsche, Geschenke
für die Verhafteten, ihre Anhänglichkeit und ihr Mitleid für
die unglücklichen Liebhaber bethätigen will. Die Angeklagten
heißen FranzWagl, JosesPitschinski, der„Schneider-Scppl,"
und Heinrich Bruckner, kurzweg „der Gelbe" genannt. Alle
drei haben wiederholt die Bekanntschaft mit den Strafan-
stalten gemacht. Bei der Verübnng der Diebstähle, die ihnen
heute die Anklage zur Last legt, stand ihnen noch ein unent-
deckt gebliebener Genosse zur Seite, vondem sie weder Namen
noch Beschäftigung kennen wolle», von dem sie aber behaup-
ten, daß er ihnen „die Anleitung zu den Diebstählen gege-
ben". Ihr erstes Opfer war Frau Hafner, eine Wittwe, in
der Nußdorfersiraße wohnhaft. Bei dieser erschienen eines
Tages Wagt und der „Gelbe" und erklärten, daß sie von
ihrem Bruder in Ottakring abgesendet seien. der todtkrank

darniederliege und sie bitten lasse, ihn schleunigst zu besuchen.
Fra» Hafner schloß sofort ihre Wohnung und machte stch aus
den Weg. In dem Hause ihres Bruders, eines Beamten,
angelangt, lachte man ihr ob der besorgten Frage, wie es
ihrem Bruder gehe, ins Gesicht und erklärte, daß er gesund
und wohlbehalten im Bureau sei. Sie ahnte, daß sie das
Opfer eines frechen Gaunerstreiches geworden Und eilte in
ihre Wohnung zurück, die sie erbrochen und ausgeplttndert
fand. Das Signalement der beiden Gauner hatte sie sich je-
doch güt gemerkt und sofort die Polizei davon unterrichtet.
Am 24. Oktober v.J. wurde in der Wohnung des Zucker-
bäckers Johann Livta nach Absprengung desVorhängefchlosses
eingebrochen und deinselben ein Schaden von 236 Gulden an
Effecten zugefügt. Leute aus der Nachbarschaft hatten zwei
Männer aus der Wohnung herauskommen sehen, deren Be-
schreibung genau zu dem von Frau Hafner angegebenen Sig-
nalement paßte. Die Polizeiorgane fpäheten lange Zeit ver-
gebens nach den Thätern, bis ihnen der Zufall zu Hilfe kam.
Heinrich Brückner verübte einen Diebstahl an Pretiosen im
Werthe von 126Gulden bei seiner eigenen Mutter und würde
von dieser der Polizei angezeigt. Er wurde verhaftet und
da das Signalement von dem Diebstahle bei Frau Hafner
aus ihn paßte, wurde er auch deshalb scharf ins Verhör ge-
nommen. Nachdem er Anfangs hartnäckig geläugnet, schritt
er endlich zu einem Geständnisse und nannte die erwähnten
Mitschuldigen.
Präs. (Lau desgerichtsrath Pickher zu Bruckner): Von
was leben Sir?
Bruckner: Von meinen Geliebten.
Präs.: Wer sind diese?
Bruckner: No, die Paulin, dir Fanny, die Louisl und
die Marie. (Heiterkeit.)
Präs.: Sie begnügen sich also nicht mit einer Geliebten?
Bruckner: Bon riner allein könnt i ja nöt leben.
Pros.: Schämen Sie sich nicht, als junger kräftiger Mann
 
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