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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 61 - No. 70 (12. März - 23. März)
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Die,^Bürgerzeitung"
erscheint täglich mit Ausnahme von
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Unter-
haltungsblatt, „Ter Erzähler", mit dem
Humor. Repräsentanten „Der deutsche
Michel" bei.

Verkündigungsblatt «nd Anzeiger
für Stadt und Land.

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7V. «-A.S-S Heidelberg, Donnerstag, 23. März UM.

Die Irage des Hages.
Wird der Reichstag aufgelöst werden oder nicht? Das
ist jetzt die Tagesfrage. Bisher herrscht darüber noch
keinerlei absolute Bestimmtheit. Die Entscheidung der
Frage hängt von der Vorfrage ab: Wird die Militär-
vorlage wirklich abgelehnt werden? Darum dreht sich doch
zunächst Alles, und die Antwort: es ist wahrscheinlich,
es ist sebr wahrscheinlich, aber sicher ist es noch nicht.
Es sind schon sehr wichtige Gesetze — man denke auch
an die Verlängerungen des Sozialistengesetzes — im
Plenum zu Stande gekommen, obwohl die Commission
mit leeren Händen kam. Aber damals stand auf der
einen Seite Bismarck, der den Reichstag und die Par-
tien diplomatisch behandelte, und auf der anderen Seite
der kleine große Führer, dessen Verlust das Ccntrum
gerade jetzt in schweren inneren Nöthen so bitter empfindet.
Damals wurde die Hauptsache hinter den Coulissen ab-
gemacht; jetzt ist davon kaum die Rede, es geht un-
glaublich anständig und ehrbar hinter den Coulissen zu,
und wenn im berüchtigten Halbdunkel ein verführerischer
Staatsmann zur Zeit Netze stellt und Köpfe verdreht,
!o heißt der Inhaber dieser Don Juanrolle nicht Caprivi.
Tkotz alldem gibt es aber doch noch immer ernste Po-
lltikcr, die die letzte Hoffnung auf eine Einigung über
die Militärvcrlage nicht aufgeben. Der Mensch glaubt
gar zu gerne, was er wünscht. Die große Rede Bennig-
lln's in der letzten Sitzung der Commission begann, was
dicht genügend beachtet worden ist, mit dem Hinweise,
daß man nach früheren Erfahrungen erst noch abzuwarten
dabe, was das Plenum beschließen werde: „Ich gebe
die Hoffnung auf eine Verständigung noch nicht aus".
Die daran anschließende lebhafte und eindrucksvolle
Schilderung der Folgen eines Konfliktes und einer Reichs-
Eagsauflösung waren der letzte Appel an den Reichskanzler
Und an eine höhere Stelle zur Nachgiebigkeit im Jnte-
stsse unserer allgemeinen politischen Entwickelung. Hat
diese ernste Mahnung einen Erfolg, so ist es wohl möglich,
dgß auf der anderen Seite sich wieder Elemente regen,
dse theils aus militärischen, tbeils aus allgemeinen po-
dischen Gründen, und um nicht unfreiwillig die Geschäfte
extremsten Agitationen zu fördern, einen Konflikt ver-
meiden wollen. Man denkt bereits an eine etappenweise
Bewilligung der neuen Organisationen und Verstärkungen,
^v sieht's zur Zeitaus: ohneweiteres Nachgeben der Regierung
,ewmt die Vorlage nicht zu Stande, dieses Nachgeben ist frag-
ob dann die Einigung gelingt, ist auch noch fraglich die
Mebnung der Vorlage ist also immer das Wahrscheinlichste.

Setzt man erst einmal die Ablehnung der Vorlage
voraus, dann lassen sich die weiteren Fragen schon mit
größerer Sicherheit beantworten, die eine ausgenommen,
wer der etwaige Nachfolger Caprivis sein würde. Unter
ernsthaften Politikern besteht kein Zweifel, daß die Ab-
lehnung der Militärvorlage die Auflösung des Reichstages
zur Folge hat; nicht etwa, weil die Regierung auf den
nächsten Reichstag besondere Hoffnung setzt, sondern weil
ihr nichts übrig bleibt, wenn sie ihr Ansehen nicht un-
heilbar ruiniren will. Die leitenden Personen scheinen
übrigens zu glauben, daß der Reichstag, der aus dem
nächsten Wahlkampf hervorgeht, nach der Theorie des ge-
brannten Kindes, welches das Feuer scheut, auch bei
wenig veränderter Zusammensetzung die Militärvorlage doch
schlucken werde, um einer neuen Auflösung und einem
zweiten Wahlkampfe zu entgehen. Vielleicht sprechen
gerade deßhalb der Regierung nahe stehende Personen
schon jetzt mit geflissentlicher Bestimmtheit von dem wohl-
erwogenen Entschlüsse zu mehreren Auflösungen. Leicht
bei einander wohnen die Gedanken; die Dinge werden
sich etwas anders ansehen, wenn erst eine Auflösung mit
ihren Folgen überstanden ist.
Die Fmbelseier der deutschen Gewerkvereine.
Der Verband der deutschen Gewerk vereine
feiert im September dieses Jahres und zwar um dieselbe
Zeit in ca. 1100 deutschen Städten das Jubelfest seines
25jährigen Bestehens. Der Verband kann mit Stolz
auf eine segensreiche Wirksamkeit zurückblickeu. Trotz des
barten Kampfes sozialdemokratischer Fanatiker gegen die
deutschen Gewerkvereine, trotz unserer beklagenswerthen
Vereinsgesetzgebung und anderer Umstände, die der Ent-
wickelung dieser Arbeiterorganisation während der vorauf-
gegangenen 25 Jahre sehr hinderlich waren und noch
sind, bat sich die Mitgliederzahl des Verbandes fortgesetzt
vermehrt. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl
der Orte, in welchen die Gewerkvcreine vertreten sind,
um ca. 500 vermehrt. Nach ungefährer Schätzung haben
die dem Verbände angehörenden Gewerkvereine in der
genannten Zeit an Arbeitslosen-Unterstützung, für Rechts-
schutz und Bildungsbestrebungen weit über 2 Millionen
Mark und Kranken-Unterstützung ca. 9 Millionen, Jn-
validcn-Unterstützung ca. IT/? Millionen Mark u. s. w.
verausgabt. Was die deutschen Gewerkvereine in der-
selben Zeit in Bezug auf die sittliche Emporerhebung der
in ibnen vereinigten Arbeiter leisteten, läßt sich in Zahlen
nicht zum Ausdruck bringen. Die Wirksamkeit des Ver-
bandes in der allgemeinen Thätigkeit für die Verbesserung

l der Arbeitsverhältnisse wird noch dadurch erhöht, daß der
Begründer der deutschen Gewcrkvereine, Dr. Mar Hirsch,
der noch heute als Anwalt an derselben steht, seit Be-
gründung der Organisitation in vielen Sessionen als
Parlamentarier tkätig sein konnte, wodurch es ihm möglich
war, im Sinne des Verbandes für den Ausbau der
Arbeiter-Gesetzgebung zu wirken. Manche der Arbeiter-
Gesetze verdanken die Arbeiter seiner Initiative. Die
Leitung des Verbandes (der Centralrath und die alle 3
Jahre stattfindenden Verbandstage) hat zu manchem der
bestehenden Arbeitergesctze den ersten Anstoß gegeben, wie
sie überhaupt es in allen, die Verbesserung des Arbeiter-
looses betreffenden Fragen an Anregungen nutzbringender
Art nicht helfen ließ. Zur Zeit beschäftigt sie sich bei-
spielsweise mit der Gründung von Baugenossenschaften
und mit den damit im Zusammenhang stehenden Mitteln
zur Lösung der Arbeiterwohnungsfrage. Die Gesammt-
organisation selbst ist bemüht, gemäß den Beschlüssen des
Verbandstages zu Mannheim, das neue Arbeiterschutzgesetz
in allen seinen Theilen wirksam zu machen. Es werden
zu diesem Zwecke auch mit den Fabrikinspectoren Ver-
bindungen angeknüpft, um böswillige Verstöße gegen
das Gesetz durch diese zur Abhilfe zu bringen. Verstöße
aus Unkenntniß der einschlägigen Bestimmungen hofft
man im Wege friedlichen Einvernehmens mit den Arbeit-
gebern zu beheben. Die Anwaltschaft ist mit der Vor-
bereitung einer Festschrift, in welcher versucht wird, das
Wirken der deutschen Gewerkvereine in den 25 Jahren
darzulegen, beschäftigt. Außerdem soll in nächster Zeit
ein Flugblatt zur Agitation erscheinen, das von dem
Verbandsburcau, Berlin 0., Blumenstr. 83, zur Ver-
sendung gebracht wird.
Deutsches Reich.
Karlsruhe, 21. März. Ein interessanter Stimmungs-
bericht zur Militärvorlage gebt der „Abendztg."
aus dem Höhgau zu: In einem Dorfe, dessen Namen
wir vorläufig verschweigen, um die Betheiligten kleinlicher
Rache gewisser Herren nicht auszusetzen, tagte letzten
Sonntag eine Zusammenkunft der freisinnig gesinnten
Männer. Zu gleicher Zeit hielt der M i l i tärv cre i n
des Ortes eine Versammlung ab, um zu Gunsten der
Militärvorlage sein Votum abzugeben. Die Aufforderung
hiezu hatte man in einem aus Berlin eingegangenen
Schreiben erblickt. Aus der Mitte der Versammlung
protestirte man hiergegen, es hieß „wir wollen nicht
mehr Militär!" Der Antrag, zu Gunsten der Militär-
vorlage zu votiren, wurde darauf einstimmig von der

Schicksals wege.
Novelle von C. Fontane.
(Fortsetzung.)
Einen Moment blickte der Major unschlüssig im
^ale umher, dann lenkte er seine Schritte nach der
fielst, wo Frau Bauinspektor Kranz saß, neben welcher
von ibrem Sohn verlassene Platz noch frei war, und
kurzer Begrüßung nahni Frida den ihr vorkommend
^Zebotenen Stuhl dankend an, während der Major
Swarts trat und sich an eine in nächster Nähe bcfind-
Säule lehnend, den Blick über die Versammelten
^eisin ließ.
( Jetzt setzte die Musik ein, und mit dem letzten Takte
Ouvertüre hob sich der Vorhang.
Herr Stein, als geborener Berliner spielte die Rolle
h? Preußischen Landwehrmannes ganz vortrefflich. Ida
» 5 eine reizende Pikarde und entledigte sich ihrer Auf-
E) nachdem sie die erste Befangcnbeit überwunden batte,
Anmuth und Geschick.
(.Friedrich stand zwischen den Coulissen und folgte
Gange der Vorstellung mit Interesse.
junge Mädchen ange-
n Verwirrung geratbcn
wn, und so lenkte sich
Aufmerksamkeit allmählich auch dem Publikum zu.
"eß den Blick nach der Stelle des Saales schweifen,
sk,ex sxjno Mutter wußte, und bemerkte zunächst den
ier, welcher dem Gunge der Vorstellung mit Interesse

sU Die peinliche Sorge, daß das
h/ö der großen Zuschauermenge i
ie^e, war bald von ihm qewick

folgte. Unweit davon saß seine Mutter und an deren
Seite Frida von Brandau.
Wie strahlend schön erschien sie ihm an diesem Abend.
— Das liebliche Antlitz gesenkt, wie in Sinnen ver-
loren ffaß sie da, während Herr Postsekretär Stein eben
mit seiner schönen Bariton-Stimme das schöne Volks-
lied sang:
O Tannenbaum, o Tanncnbaum!
Wie grün sind Deine Blätter.
Jetzt plötzlich erhob sie den Blick, Friedrich trat un-
willkürlich einen Schritt zurück. Sie konnte ihn nicht
bemerken, und doch war es ihm, als hafte ihr Auge auf
der Stelle, wo er stand.
Das Stück war zu Ende, der Vorhang fiel, und
rauschender Beifall belohnte die Darsteller.
Die Zuschauer erhoben sich, um über die Vorstellung
zu plaudern und einige Erfrischungen cinzunehmen, wäh-
rend im Saale geschäftige Hände die Sitze bei Seite
schafften, um den Mittelraum für die tanzlustige Jugend
frei zu machen.
Herr von Brandau sprach mit dem Bürgermeister und
einigen Mitgliedern des Vorstandes, begrüßte hier und da
Personen, die ihm bereits bekannt waren und begab sich
dann zu dem Tische, an welchem Frau Bauinspektor
Kranz mit ihren Gästen und Frida Platz genommen hatten.
Er ließ sich Herrn Hagendorff und seiner Tochter vor-
stellen und nahm freundlich an der Unterhaltung tbeil,
die sich auf Theaterverhältnisse gelenkt hatte.
Gleich darauf fanden sich auch Friedrich und Ida
ein, gleichzeitig aber auch Freundinnen der Letzteren und
Bekannte der Familie in nicht geringer Zahl, welche die

gewandte Darstellerin der Pikarde mit Lobsprüchen über-
häuften.
Die Unterhaltung am Tische wurde indessen zwischen
dem Major und Hedwig weiter geführt, während Onkel
Hagendorff, der überhaupt nicht sehr redselig war, den
Zuhörer' spielte.
Hedwig erregte durch ihr treffendes Urtheil und ihre
gründliche Bildung mehr und mehr die Aufmerksamkeit
des Majors, so daß Frida, welche inzwischen verschiedenen
Damen vorgestellt worden war, bei ihrer Rückkehr an den
Tisch mit Ueberraschung bemerkte, wie lebhaft angeregt
und heiter gestimmt ihr Vater erschien.
Die Bekannten hatten sich endlich zurückgezogen und
während die Geschwister sich nun auch der Gesellschaft
anschlossen, und Ida eine von dem galanten Onkel be-
stellte Erfrischung nahm, sprach auch Herr von Brandau
dem jungen Mädchen in warmen Worten seinen Dank
und seine Anerkennung aus, was sie mit freudigem Er-
röthen aufnahm.
Die Unterhaltung wurde jetzt allgemeiner. Doktor
Kranz hatte einige Worte an Frida gerichtet, glaubte aber
in ihrem Wesen eine gewisse Zurückhaltung zu bemerken,
die ihn befremdete. Inzwischen waren im Saale die Vor-
bereitungen zum Tanze beendet. Die ersten Klänge der
Polonaise ertönten, und Herr Postsekretär Stein erschien
in der Thür, um Ida der erhaltenen Zusage gemäß in
in den Saal zu führen-
Während Frau Kranz ihrer Tochter den leichten
Shawl abnahm, sandte sie ihrem Sohne einen fragenden
Blick zu. Hedwig hatte denselben bemerkt und ein leises
Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie den halb verlegenen
 
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