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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

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No. 141 - No. 150 (17. Juni - 28. Juni)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43990#0605

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schmähen also diese Waare und verlangen gutes Fleisch
zu billigem Preise, da sie in den Zeitungen gelesen haben,
daß alle Viehpreise gewaltig gesunken sind, und wenn die
Fleischer schwören, daß sie das gute Vieh theurer bezahlen
müssen als gewöhnlich, so schenkt man ihnen im Publikum
keinen Glauben. Ucberdies hat der Gcmeinderath ent-
schieden gegen sic Partei ergriffen. Sein Ausschuß für
die Hallen und Märkte hat gestern den Vorstand des
Fleischer-Syndikats vor sich beschicken und ihm gedroht,
der Gemeinderath werde die Fleischtare wieder einführen,
falls man nicht dem Publikum Genugthuung gebe.
* London, 19. Juni. Gegen die anhaltende Dürre
wurden gestern in den Kirchen der Grafschaft Kent öffent-
liche Gebete abgehaltcn. In manchen Dorfbezirken in
Kent, SurrcyS und Wessex wird das Trinkwasser mit 3
Pence für den Eimer bezahlt. Der Preis des Heues ist
von 5 auf 7 Pfund die Tonne gestiegen. Das Vieh
wird wegen Mangels an Futterstoffen billig losgeschlagen.
Man rechnet auf Heucinfuhr aus America. Die Ernte-
aussichten sind schon jetzt bedenklich. Es kommen zahl-
reiche Waldbrände vor.
Der Erfolg der badischen Thierzucht
auf der Münchener Ausstellung der deut-
schen Landwirthschastsgescllschaft.
Ausgezeichnet mit der Ehrengabe des Prinzregenten
von Bayern und mit einer stattlichen Reihe anderer höchst
ehrenvoller Preise und Anerkennungen geht die badische
Thierausstellung aus dem großartigen Wettkampf hervor,
welcher auf der Münchener deutschen landwirthschaftlichen
Ausstellung soeben stattgefunden hat. Zu den vielen und
berechtigten Erfolgen, welche die badische Thierzucht bereits
errungen, gesellt sich ein neuer, hervorragender Erfolg
hinzu, der durchaus geeignet ist, die Aussteller mit Genug-
thuung zu erfüllen. Man darf es Angesichts solcher That-
sachen wohl aussprechen, daß die rationelle und mit
großer Beharrlichkeit durchgeführte Pflege, welche in Baden
diesem hochwichtigen Zweige des landwirthschaftlichen Be-
triebs zugewendet wird, überall rückbaltloser Anerkennung
gewürdigt wird. Diese Erfolge dankt die badische Thier-
zucht dem innigen Znsammenwirken der staatlichen Be-
hörden und der Züchter. Aber nicht nur reich an Ehren
kehren die badischen Aussteller aus München zurück; die
Erfolge, welche sie dort erzielten, werden auch in finan-
cieller und wirtschaftlicher Hinsicht sich bemerkbar machen,
indem der badischen Thierzucht ein noch weiteres Absatz-
gebiet als seither erschlossen wird. An diesem Gewinn
werden auch jene Aussteller theilnehmen, die diesmal nicht
jene Preise errangen, welche sie Heimzubringen hofften.
Unter 382 ausgestellten Pferden befanden sich 36
aus Baden, von denen 32 durch staatliche Sachverständige
und des Landespferdezuchtvereins ausgesucht worden sind.
In der badischen Sammlung befanden sich die zwei
Schläge, deren Zucht in Baden angestrebt wird, in der
Zahl ziemlich gleichmäßig vertreten, nämlich das kaltblütige
(belgische) Pferd und das schwere edle (Oldenburger und
normänische) Pferd Ausgestellt waren somit zwei Halb-
blutpferde („Landsknecht" des landwirthschaftlichen Vereins
Mannheim und „Kalif" des Hengsthalters Eckerlin in
Seefelden bei Müllheim). Von belgischen Pferden waren
ausgestellt der Hengst „Leuthold" der Gebrüder Konrad
in Grünsfeld (Amt Taubcrbischofsheim) und „Ganymed"
de« Hengsthalters Rigger in Villingen. Der letztgenannte
Besitzer hatte auch seinen schwarzen Hengst „Jnkermann"
mitgebracht. Von Stuten und Stutfohlen des kaltblütigen
Schlages waren 6 aus den Bezirken Sinsheim und Tauber-
bischofsheim, von 25 Stuten und Stutfohlen des Halb-
blutschlages hauptsächlich aus den Bezirken Schwetzingen,
Mannheim, Offenburg, Lahr und Müllheim ausgestellt.
Ein sehr schönes, selbstgezüchtetcs Halbblutpferd war aus
Pfullendorf gekommen. In der Hauptsache sollte die
Ausstellung zeigen, welche Schläge Baden in Zukunft
zu züchten gedenkt und in welcher Beschaffenheit das er-
forderliche Material ausgewählt ist.
<ton dem soeben in München stattgcfundenen öffent-
lichen Preisgericht wurden trotz der sehr großen Konkurrenz,
welche insbesondere die bayerischen Pferde und die Aus-
stellung der Oldenburgischen Pferdczuchtgesellschaft Jane
der Firma Schirmer und der von Nachufiuö'schcn Erben
machten, der badifchcn Pferdezucht eine außerordentlich
rhrende Anerkennung gezollt. Von 5 staatlich subvcn-
tionirten ausgestellten Pferden erhielten nicht weniger als
4 Preise, und zwar wurde von den belgischen Pferden
der 1. Preis von 500 Mk., dem Hengst „Leuthold", ein
2. Preis von 300 Mk. dem Hengst „Landsknecht", ein
gleicher Preis dem Hengst „Ganymed" zucrkannt. Von
den 6 ausgestellten belgischen Stuten und Stutfohlen
erhielten die Stuten des Eugen Konrad von Jlmspan
und des Friedrich Zehner von Schönfeld je einen 1.
Preis von 200 Mk. die Stute des Jakab Baer vom
Eulenhof einen 2. Preis und die Stute des Adam Derr
von Vilchband einen 3. Preis 150 Mk. Unter den Halb-
blutpferden erhielt die Stute des Joh. Balth. Wurth 2.
in Altenheim einen 1. Preis von 150 Mk. die Stute
des Bürgermeisters Hätz in Weißhcim einen 4. Preis
von 75 Mk. Außerdem wurden noch einige andere
Preise und lobende Anerkennungen zuerkannt, so daß hier
im Ganzen der badischen Pferdcausstellung 2700 Mk.
an Preisen zufielen. Man hört auf dem AuSstellungS-
platze allgemein, daß sich Baden nicht nur durch seine
hervorragende Rinderausstellung, sondern auch durch die
Vorführung vorzüglicher Pferde ausgezeichnet hat.
(Schluß folgt.)

Loccil'e Mittheil'ungen.
Heidelberg, 20. Juni.
— (Warnung.) Der Berliner Polizeipräsident ver-
öffentlicht folgende Warnung des Publikums, welche auch für
weitere Kreise von Interesse ist: „Durch Untersuchungen im
Kaiserlichen Gesundheitsamte ist festgestellt worden, daß das in
Berlin zu wirthschaftlichen Zwecken in Handel kommende Eis,
selbst bei gutem Aussehen, in seiner Entwickelungsfähigkeit
nichtverändcrte, gcsundheitsgefährliche Kleinwesen enthalten hat-
Es ist dadurch wahrscheinlich geworden, daß die häufiger be-
obachteten Krankheiten nach dem Genüsse von Getränken, welche
durch Hineinwerfen von Eisstückchen gekühlt wurden, weniger
durch die Kälte des Getränks als durch die im Eis vorhande-
nen Krankheitserreger verursacht worden sind. Dieselben Nach-
theile können durch feste Nahrungsmittel, z. B- Butter, welche
durch Liegen auf solchem Eise gekühlt wurden, entstehen- Vor
dem Genüsse von Getränken und andern Nahrungsmitteln,
welche in der vorerwähnten Weise mit Eis gekühlt sind und
in Folge dessen gesundheitsgefährlich sein können, wird deßhalb
hiermit gewarnt."
ID (Allerlei.) Lin hier zugereister Fremder hatte gestern
Nacht das Malheur, feine Börfe mit 1100 Mark Inhalt zu
verlieren. — Vor einem Hause in der Gaisbergstraßc wurde
gestern ein Handwagen im Wcrthe von 25 Mark entwendet.
Der Thäter ist unbekannt.

Gerlchtszeitung.
* Heidelberg, 19. Juni. (Schöffengerichtssitzung.)
In der heutigen Sitzung kamen folgende Fälle zur Er-
ledigung :
1) Die Belcidigungsanklage gegen Theodor Bohrmann
von Ludwigshafen wurde vertagt. 2) Karl Herberger
von Rcinsheim erhielt wegen Sachbeschädigung und Ruhe-
störung 6 Tage Gefängniß und 2 Tage Haft. 3) Elise
Müller von Altlußheim erhielt wegen Uebertretung des
§ 361 Z. 6 und 8 R.-St.-G. B. 6 Wochen Haft und
Ueberweisung an die Landespolizeibehörde. 4) Georg
Sommer und Andreas Hug von Ziegelhausen, anaeklagt
wegen Hausfriedensbruch. Ersterer erhielt 1 Woche,
letzterer 4 Tage Gefängniß. 5) Georg Baumann von
Kirchheim wurde von der Anklage wegen Körperverletzung
freigesprochen. 6) Johann Bopp von Eppelheim erhielt
wegen Körperverletzung 2 Wochen Gefängniß. 7) Georg
Michael Hilbert und Andreas Hilbert von Sandhaufen,
angeklagt wegen Bedrohung und Ruhestörung. Ersterer
erhielt 2 Wochen Gefängniß und 1 Woche Haft, letzterer
1 Woche Haft. 8) Paul Theodor Thust von VolkmarS-
dorf erhielt wegen Betrugs 3 Wochen Gefängniß.

Handelsnachrichten.

Mannheimer Börse, Effekte«. Die heutige Börse ver-
kehrte in lustloser Haltung. Badische Anilin- und Sodafabrik-
Actien nottren 335 b- Zellstofffabrik Waldhof-Actien 223^ g.
Frankfurt, 19. Juni. (Effecten-Socierät.) Umsätze bis
6-/4 Uhr Abends- Oesterr. Kredit 28l^> 282, 282^ b. Dis-
conto-Commandit 185.20, 10 b- Berliner Hanvelsgcsellschoft
141 b. Darmstädter Bank 136.80 b. u- G. Dresdener Bank
142.90 b- Lombarden 91V», V«, Vs, V«, Vs b. 3proc. Portu-
giesen 21.85 b. Gelsenkirchen 128.90 b. Laura 100.70 b- Gott-
Hard-Actien 160.30 b. Schweizer Central 117.50, 70b. Schweizer
Nordost 109-40 b- Union 74.10, 60 b- Jura-Simplon St.-
Act. 54.50, 70 b- 5proc- Italiener 91.90 b- ult-
6>/r Uhr: Lombarden 91 Vs-
Mannheim, 19. Juni. (Productenbörse.) Per 100 Kilo
Weizen, Pfälzer 18.25 bis —, Norddeutscher 17.75 bis
18-—, Kalifornier —bis —, Azima 19.00 bis 20.00,
Girka 18.50 bis 19.—, Taganrog 18.75 bis 19.—, Amerik.
Winter 17.75 bis 18.—, Rumänischer 17.— bis 17.75, Kansas II
17.75 bis 18.—, Kernen 18.50 bis —.—. Roggen, Pfälzer
16.25 bis 16.50, Norddeutscher 16.— bis 16.25. Gerste hiesiger
Gegend —bis —, Pfälzer —.— bis —, Ungarische
—bis - - Hafer, Badischer 18.50 bis —, Nord-
deutscher —bis —, Russischer —.— bis —- Mais,
Amerik. mixed. 13.— bis —, Donau 12.50 bis 12.75.
Kohlreps, Deutsche", neuer 27.50 bis —. Leinöl mit Faß
49.50 bis —. Rüböl mit Faß 62.— bis —. Petroleum
mit 20"/, Tara 18.— bis —.—.
Weizenmehl: Nr. 00. Nr. 0. Nr. 1. Nr. 2. Nr. 3. Nr. 4.
31.—. 28.—. 26.—. 25.—. 23.50. 19-50.
Roggcnmehl: Nr. 0. Nr. 1.
25.—. 22.-.

Mannheim, 19. Juni.

16.
00.00
17.40
15.95
00.00
11.95
12.30

Weizen Mai
„ Juli
„ Nov-
Roggen Mai
„ Juli
. Nov.

Tendenz: fester.
Würzburg, 17. Juni- An den 6 Markttagen waren
im Viehhofe zugeführt: 10 Bullen, 900 Ochsen, 189 Stiere,
190 Kühe, 400 Kälber, 11 Schafe, 324 Schweine, zusammen
2077 Thiere. Der Preis beträgt für das Vs Kg. Fleischgc-
wicht bei Bullen 32—38, Ochsen 45—48, Stieren 32—36,
Kühen 19—21, Kälbern 87—31, Schafen 40—43, Schweinen
45-47 Pfg.

17.
16.
17.
00.00
00.00
Hafer Mai
00.00
16.95
17.05
„ Juli
17.20
17.40
17.50
„ Nov.
15.75
00.00
00.00
Mais Mai
00.00
15.50
15.55
„ Juli
11.85
15.70
16.00
„ Nov.
12.15

Badische Patentnachrichten.
(Mitgetheilt durch Ferd. Schmitt, Architekt in Ludwigs-
hafen a- Rh.)
Patentanmeldungen: Selbstthätiger Dampfkesselspeise-
bezw. Signalapparat mit Differentialkolbcn- Hans Vetter in
Mannheim- — Apparat zum sclbstthätigen Anlegen von Brief-
umschlägen in Cylinder - Druckmaschinen. Maschinenfabrik
Heidelberg, Molitor L Co- in Heidelberg. — Pendelnd aufge-
hängte Badewanne. Eduard Theisen in Baden-Baden- —
Schwungrad-Rcibrädcrgetriebe zur Kraft-Regelung und -Be-
grenzung bei Elektromotoren- Wilh. Großmann in Pforzheim-
— Maschine zum sclbstthätigen reihcnwcisen Lagern gleich-
artiger Gegenstände in Kasten. Deutsche Metallpatronenfabrik
in Karlsruhe-
Patentertheilungen: Nr- 70078. Quecksilber-Regulir-
ventil zum Spunden von Bier- G- Wolf in Heidelberg. —
Nr- 70075. Drahtzugspannwerk mit selbstthätiger Sperrung.
Th. Henning in Bruchsal. — Nr- 70087. Schleif- und Polir-
mittel. Dr- A. Liebrich in Karlsruhe.
Gebrauchsmusterschutzeintragungen: Nr. 14385
Uhr in Regulatoruhrform mit Cigarrettschränkchen- E. Müller,
Fabrikant in Hockenheim. — Nr- 14287. Stehende Schraube
zum Ausweiten von Hüten re-, bei welcher der Hut auf dem
Apparat liegt- Aug. Allstädt in Heidelberg. — Nr. 14369.

Kehlkopffpiegelfassung nach Art der Brillengläserfassung mit
Bayonetverschlust F. L- Fischer in Freiburg. — Nr. 14306.
Rosettenartigcr Schmuck mit geschlossener centraler Gewinde-
mutter zum Aufschrauben, als Schluß und gleichzeitige Ver-
vollständigung von getheilten Armbändern oder ungctheilten
Herren- und Damen-Vorsteck- oder Brustnadeln. Fr- Gössele
in Pforzheim. — Nr- 14330. Stempelmedaillon. Joseph
Oehler, Stempelfabrikant in Karlsruhe. — Nr-14366. Stopf-
büchse für Schieber und Ventile, bei welcher der Schraubenkopf
in einer Höhlung des Deckelflantsches gelagert ist. Carl Reuther
i. F.: Bopp L Reuther in Mannheim- — Nr. 14356. Nahrungs-
mittel für Kinder, bestehend aus einer Mischung von Weizen-
mehl, Zucker, Eiern und Milch, welche zu einem Teig verarbeitet,
ausgewälkt, geröstet und gemahlen wird- Leopold Haberer in
Freiburg. — Nr- 14216. Mit dem Achshalter combinicrte
Hebelklotzbremse. Heinrich Lanz in Mannheim- — Nr-14401.
Pendelregulirvorrichtung mit einem durch Excentnerkurve be-
wegten Hebeschlitten für das Pendel und dachförmigem Hcmm-
und Schutzblech für die Pendclfeder. L- Furtwängler Söhne
in Furtwängen- — Nr. 14402. Kettenrolle mit gepreßten
Seitenwänden und zwischengespaltetem Stiftenrade. L- Furt-
wängler Söhne in Furtwängen. — Nr- 14202. Kettcnkrepp
ohne Ueberzwirn, sowohl aus feingesponnenen ChinagraSfasern,
als auch aus Schappscide. Mez L Söhne in Freiburg. —
Nr- 14333. AuS Stahlblech aus einem Stück hergestellte Litze
für mechanische Webstühle- Eduard Emmrich in Mannheim-
ALLerrsei.
— (Die Nacht imKirchthurm.) Die „Post"
berichtet aus Berlin: Eine schaurige Nacht im Kirch-
thurm haben fünf Kinder dieser Tage durchlebt. Der
17 Jahre Gymnasiast K., dessen Vater ein in den
Ruhestand versetzter Eisenbahnbeamter, in der Müller-
straße wohnt, hatte am Sonntag Nachmittag kurz vor 6
Uhr die 17 bezw. 15jährigen Tochter und den 13 Jahre
alten Sohn de« Sekretärs Sch. zu dem Gottesdienste
in der Neuen Nazarethkirche ab. Ihnen schloß sich die
17-jährigc Tochter der Wittwc M. an. K., der bei
einem Prediger in seinen Mußestunden schriftliche Arbeiten
verrichtete und daher mit dem Kirchen-Personal bekannt
ist, wies seinen Begleitern gegenüber auf die schöne Aus-
sicht hin, die man von der Höhe des Thurmes aus ge-
nieße, machte den Vorschlag, nach Beendigung de-
Gottesdienstes den Thurm zu besteigen. Er fand um
so eher Zustimmung, als er darthat, daß nach der
Kirche Abendmahlsfeier stattfände, und diese Zeit zur
Durchführung des Vorhabens ausreichen würde. Der
Balkentreter gab ohne Weiteres seine Zustimmung und
machte den Weg nach oben zugänglich. Die Gesellschaft
stieg vergnügten Sinnes bis in die Glockenstubc und er-
freute sich an dem Anblick des zu ihren Füßen ausgc-
breiteten Häusermeeres. Als schließlich K. zum Abstieg
drängte, trat man, so rasch eS eben gehen wollte, den
Rückweg an. Aber Thurm und Kirche waren bereits
geschlossen, va die Abendmahlsfeicr ausgefallen war, und
die kleine Schaar saß gefangen. Zuerst bemächtigte sich
ihrer ein jäher Schrecken; dann fing man an zu pochen,
zu rufen, zu schreien: Alles vergebens; denn kein Retter
wollte erscheinen. K. stieg dann wieder in die Höhe und
versuchte, durch die Schallöchcr hindurch zu rufen, durch
ein Taschentuch auf seine Anwesenheit im Thurme auf-
merksam zu machen. Aber Niemand sah und hörte ihn,
Als die Dunkelheit eintrat, beschlich auch die Furcht die
jungen Gemüther, zumal da man nicht einmal ein
Streichholz bei sich hatte, um den Raum hin und wieder
zu erhellen. Als die Kinder um zehn Uhr noch nicht
heimgekehrt waren, wurden auch die Eltern unruhig und
gingen an die Kirche, da sie von der bsabsichtten Thurm-
besteigung Kenntniß hatten. Ihr Rufen wurde aber
von innen nicht gehört, weil sich die Eingesperrte in
einen Räum geflüchtet hatten, der nach außen völlig ab-
geschlossen ist, und einen neuen Aufstieg bei der ge-
fährlichen Dunkelheit nicht mehr wagten. Trotzdem
suchten die Eltern einen Kirchendiener auf, der aber
seine Hilfe mit den Worten versagte: „In dem Thurm
ist Niemand." Als man den Privatwächter an der Kirche
um Beistand anging, äußerte auch er: „Im Thurm ist
Niemand" und setzte seinen Weg fort. Um 1 Uhr
Nachts suchten die Mütter der Kinder nochmals den
Kirchendiener auf, aber auch diesmal vergebens. So
blieb denn nichts übrig, als daß die Kinder, die sich ab-
wechselnd mit dem Mantel des einen Mädchens wärmten,
eine lange schaurige Nacht im Thurm zubringen mußten.
Die Absicht Sturm zu läuten, stieß auf den Widerstand
des Gymnasiasten. Um der Furcht zu begegnen, sang
und deklamirte man. Endlich bei Sonnenaufgang stieg
die Schaar wieder in die Höhe und zog die Aufmerk-
samkeit des Wächters durch Wehen mit dem Taschentuch
auf sich. Die Befreiung erfolgte um 44/z Uhr Morgens.
Neueste Nachrichten.
Berlin, 20. Juni. Bis jetzt sind definitiv 393 Wahl-
Resultate bekannt. Gewählt sind 49 Conservative, 1
Bund der Landwirthe, 7 Freiconservative, 16 National-
liberale, 80 Centrum, 24 Socialdemokraten, 3 freisinnige
Vereinigung, 13 Polen, 3 Antisemiten, 1 Däne, 7
Elsässer, kein deutsche Volkspartei, 1 Wilder. 179 Stich-
wahlen sind erforderlich; daran sind betheiligt 52 Con-
servative, 8 Bund der Landwirthe, 5 Freiconservative,
73 Nationalliberale, 31 Centrum, 81 Socialdemokraten,
14 frei. Vereinigung, 35 freis. Volkspartei, 11 Polen, 16
Antisemiten, 10 Welfen, 1 Elsässer, 9 deutsche Volkspartei.
Berlin, 19. Juni. Die Commission des Herren-
hauses für die Berathüng der Steuergesetze hat heute
unter dem Vorsitz de« früheren Ministers v. Puttkamer
und in Anwesenheit des Finanzministers und des Ministers
des Innern die Berathüng des Gemeindeabgaben-
gesetzes begonnen. Es wurden die 12 ersten Paragraphen
desselben genehmigt und nur in 8 9 durch Steichung des
zweiten Absatzes eine geringe Veränderung vorgenommcn.
 
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