Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst der Nation — 2.1934

DOI article:
Volkskunst und Gegenwart
DOI article:
Zeeck, Hans: Georg Friedrich Hersting: ein mecklenburgischer Maler
DOI article:
Bremen, Carl von: Das Geschick eines Knaben im nordischen Krieg, [6]: Novelle
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66550#0010

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
4

Kunst der Nation

Merkmal aufweist. Wohl werden Vorlagen der
hohen Kunst ausgenommen — in Deutschland sind
es insbesondere romanische und barocke Formen,
die aus den Umständen der historischen Entwick-
lung stärker den Gesamtorganismus der Nation
durchdrungen haben als die Gotik, die sich auch
hier als eine in erster Linie „städtische" Kultur
erweist —: sobald sie aber verstanden sind, werden
sie auch zugleich umgestaltet. Der aus primitiver
Werkanschauung schaffende Künstler behält aus
innerer Sicherheit seinen eigenen Standpunkt bei
und bringt die geliehenen Elemente in ein neues
formales System: es erfolgt eine neue Klärung
im Verhältnis von Form zu Motiv, wobei die
Stärke der volkskünstlerifchen Leistung immer von
dem Grad abhängt, in dem die typischen,
nicht individuellen Eigentümlichkeiten
der Gemeinschaft als Wesensäußerung einer Ge-
samtheit zum Durchbruch kommen.
Die notwendige Zersetzung und der beinahe
völlige Untergang der deutschen Volkskunst im

Verbesserung einiger
gemeinen Irrtümer
Aus ,.Göttinger Taschenbuch" 1784
Was man Gothische Baukunst nennt, ist eigentlich
die Arabische; die Gothen haben nicht gebaut,
ausgenommen hier und da in Italien, wozu sie
sich wohl italiänischer Baumeister bedient haben.
Das Stachelschwein schießt seine Stacheln nicht
auf seine Verfolger ab.
Es ist falsch, daß die Hottentotten ihre Knaben
halb entmannen.
Es ist falsch, daß die Zunge des Rhinozeros so
scharf sey, daß es mit Lecken tödten könne. Hr.
Sparrmann hat sie so weich befunden, wie die
Zunge anderer Gewüchsefressenden Thiere.

Laufe des 19. Jahrhunderts ergibt sich zwangs-
läufig aus der Entwicklung dieses Zeitalters. Die
innere Auflösung der ländlichen Gemeinschaft,
ihre rasche Durchsetzung mit städtischen Elementen,
die Überflutung des Landes mit billiger Jndu-
ftrieware und andere Momente gaben dazu den
Ausschlag. Andererseits bewirkte auch die Kom-
merzialisierung ursprünglich reiner Volkskunst,
daß sie ihrem Ziele; dem Bedürfnis einer boden-
und rassemäßig gebundenen Einheit zu dienen,
immer ferner rückte: man denke an die oberbaye-
rifchen Schnitzfiguren, an die Schwarzwälder
Uhren — um nur wenige Beispiele herauszu-
greisen —, die zu reiner Exportware herab-
gesunken sind. „Heimatkunst" in diesem Sinne hat
mit Volkskunst nichts mehr zu tun.
Andererseits kann nicht geleugnet werden, daß
in verschiedenen Gegenden unseres Landes, die,
abseitiger von den großen Verkehrsadern ge-
legen, innerlich und äußerlich unberührter, noch
starke volkskünftlerische Instinkte wachgeblieben
sind. Die besten Zeugnisse sind dort zu finden, wo
solches Schaffen mit den natürlichen Lebensbedin-
gungen in Einklang steht: in Getreide bauenden
Gegenden, die sich durch die Schönheit ihrer selbst-
geflochtenen Körbe, in Fischerei-Bezirken, die sich
durch die ebenfalls als Volkskunstwerke zu be-
zeichnenden herrlichen Netze, Schiffswimpel
(Kurische Nehrung!) und andere spezielle Ge-
brauchsgeräte, in Landschaften mit Tonerde
(Schleswig-Holstein), die sich durch ihre Töpferei-
Erzeugnisse auszeichnen.
Hier müssen auch die Ansätze zu einer neu auf-
blühenden Volkskunst gefunden werden. Ohne die
Voraussetzungen eines organischen Wachsens zu er-

füllen, werden alle Versuche zum Scheitern ver-
urteilt sein, die die Möglichkeiten einer solchen
Kunst auf äußeren, materiellen Grundlagen sehen.
Ein kraftvoll geschlossenes ländliches Volkstum von

organischer Lebendigkeit wird aus sich heraus,
ohne äußeren Zugriff, wieder zu den Leistungen
fähig sein, die wir aus dem Bilde der Vergangen-
heit deutscher Volkskunst kennen. st. v.

Georg Friedrich Kersting
Ein mecklenburgischer Maler


Kersting, Der Leser

Schon als er, 1847, sieben Jahre nach Caspar
David Friedrich, dem älteren Freunde, in seiner
schönen, auf dem Schloßberg in der Albrechtsburg
von Meißen gelegenen Dienstwohnung starb, war
er ein Vergessener. Der Tod des Dreiundfünfzig-
jährigen hat die Welt irr keiner Weise bewegt.
Nur der enge, zur berühmten Porzellanmanufak-
tur in Beziehung stehende Personenkreis nahm
Kenntnis davor:, daß der Malvorsteher Kersting
gestorben sei. Dienstlich stark in Anspruch ge-
nommen, kam er in seinen Meißener Jahren
kaum zum Malen. So verknüpften sich auch
keinerlei Erinnerungen an Bildschöpfungen mit
dem Gederrken an den „höchst lebendigen, oft
etwas exaltierten Mann", wie ihn der Lebens-
bericht seines nachmals weit bekannter gewordener:
Amtsgenossen Ludwig Richter bezeichnet. Man
wußte nicht viel mehr, als daß Kersting aus
Güstrow, aus dem Mecklenburgischen, stammte
und Lützower Jäger gewesen war.
Das änderte sich seit der großen Revision der
deutschen Jahrhundertausstellung von 1906, auf
der auch einige stirnmungsreiche, ir: Hellen oder
verschleierter: Tonfolger: subtil durchgesühlte
Jnterieurbilder des Malers auftauchteu, aufs
gründlichste, führte bisweilen jedoch auch zu einer,
diesen feinen und stillen Stücken gegenüber nicht
ganz gerechten Überwertung. Z. B. wenn ihnen
Muther den „größeren malerischen Schwung" vor
Friedrichs Landschaftsschöpsungen zuerkennen will,
die er merkwürdigerweise „Paradigma für das
Steinzeitalter des modernen Lurninisrnus" nennt.
Vielleicht kennen wir noch zu wenig vor: der
schlichten, nicht besonders umfassenden, aber
durchaus selbständigen Art dieses Mecklenburgers,
der, wie so manche norddeutschen Maler ir: Kopen-
hagen studiert und in Dresden, den: künstlerischen
Dorado der Romantiker gelebt und geschaffen hat;
doch für das Gefühl, daß sie an die Gestaltungs-
kraft und das malerische Vermögen Friedrichs —
vor dem bereits 1843 der französische Bildhauer
David d'Angers ausrief: „Endlich ein Mensch, der
die Tragödie der Landschaft entdeckt hat!" - nicht

heranreicht, gibt es Belege genug. Aber es er-
scheint trotz ihrer Herkunft aus demselben Land-
schastsgebiet doch recht müßig, sie zu vergleichen,
selbst dort, wo sie sich wie im Interieur und
Patriotischen: Bild stofflich berühren.
Ihre persönlichen Beziehungen, auch zu ge-
meinsamen Wanderungen im Riesengebirge, durch
Pommern und die Insel Rügen führend (eine ge-
zeichnete Rückansicht des wandernden Friedrich von
Kerstings Hand besitzt die Nationalgalerie, in
Friedrichs „Morgen im Riesengebirge" soll der
jüngere Freund, von den: viele Bilder aus dieser
Zeit, vermutlich Landschaften, verschollen sind, die
Staffage hineingemalt haben), wurden bislang
wenig erhellt. Immerhin besitzen wir aus dem in
der malerischen Haltung etwas ungleich geblie-
benen Schaffenswerk Kerstings noch zwei ihrer
künstlerischen Durchbildung und Vollendung wegen
viel bewunderte Darstellungen Friedrichs in:
Atelier. Von der sitzenden nnd einen: Gegenstück,
das Kügelgen in seiner Werkstätte zeigt, schreibt
Emma Körner an den Bruder Theodor: „Zwei
kleine Bilder mit vielem Geist gemacht, haben mich
wegen des Kontrastes sehr amüsiert. Es sind
Friedrichs und Kügelgens Malstubeu. Du kennst
die gewaltige Einfachheit in der von Friedrich und
der Künstler selbst sitzt eben in einer ganz natür-
lichen Stellung vor seinem Bild, emsig damit be-
schäftigt. Bei Kügelgen ist hingegen alles Eleganz
und das ganze Zimmer strotzt von Hilfsmitteln
zur Kunst; da gibt es Farbengläser, Gipsfiguren
und Bücher ohne Ende. Beide Künstler sind sehr
ähnlich und es liegt viel Schelmerei bei der Zu-
sammenstellung dieser beiden Ateliers zugrunde."
Als die kriegerischen Drangsale des damaligen
Dresden, zu denen diese idyllisch anmutende
Schilderung von 1811 einen seltsamen Kontrast
bildet, nach endlosen Besetzungen und Truppen-
durchzügen mit der Entsetzung der Stadt 1812 ihr
Ende sanden, eilte auch Kersting zu den Waffen,
zu den schwarzen Jägern Lützows. Wie Friedrich
und der ganze norddeutsche Vortrupp in den:
politisch zerklüfteten Gemeinwesen, in welchen: der
alte Appelationsrat Körner, Schillers Freund,
gegen den Sohn Theodor stand und sich die
Meinungen für oder wider Napoleon aufs heftigste
befehdeten, zählte er nut den jungen Studenten,
Arbeitern nnd Handwerkern zu den Anhängern
der gemeinsamen vaterländischen Bewegung. Aus
der Zeit dieses Feldzuges, der Kerstiug, bevor er
als Offizier und Ritter des Eisernen Kreuzes
zurückkchrte, durch Meckleuburg, Hauuover uud
Holsteiu, nach Fraukreich uud bis vor Jülich
führte, gibt es uoch eiuige Selbstbilduisse uud
Porträts vou Kriegskameraden, mit spitzen
Strichen ins Skizzenbuch gezeichuet. Auch zwei
kleine, jetzt im Besitz der Nationalgalerie befind-
liche Bildchen, der vaterländischen Symbolik
Caspar David Friedrichs, den „Heldengräberns,
dem „Grab des Arminius", dem Adler über den
Nebelbergen und dem französischen Chassenr in:
winterlich verschneiten Tannenwald gegenüber
mehr Zustandsschildernngen, erinnern daran: die
bildnisähnliche, besonders in den Uniformpartien
farbig interessante Darstellung der Lützower Jäger
Hartmann, Theodor Körner und Friesen als Vor-
posten in: dämmernden Eichenwald und, als
Gegenstück dazu aus eiuer Raseubauk vor Bäumen,
deren Rinden im Einschnitt die Namen dieser drei
gefallenen Freunde tragen, ein blondes kranz-
windendes Mädchen. Karl Förster schrieb, nach-
dem er sie 1815 in Kerstings Atelier gesehen: „Eine
einzige Sonne ans der schönen Zeit regt tausend-

fache, herrliche Erinnerungen in uns auf, wir
sehen den hohen Geist, der riesenhaft und gewaltig
durch Deutschland zog und die Gemüter bewegte
und Arme stählte und die Hände bewaffnete und
ein großes aufgeregtes Volk Wunder über Wun-
der tat".
1824 — von 1816 ab war er als Zeichenlehrer
der Kinder der Fürstin Sapieha in Warschau ge-
wesen, er heiratete nnd erhielt die Stelle des
Malervorstehers der Meißener Manufaktur 1818
— besuchte Kerstiug Goethe iu Weimar. Der
Dichter bezeugte seit deu Dresdener Tagen, in
denen die befreundete Malerin Louise Seidler,
von Kersting als „Stickerin am Fenster" darge-
stellt, vermittelte, eine sehr starke Vorliebe für den
Künstler, sorgte für den Verkauf vou Bildern und
erwähnt seine Persönlichkeit sogar in „Dichtung
uud Wahrheit" beim Beschreiben des Zimmerchens
der Klettenberg als ein ausgezeichnetes Beispiel
deutschen Künstlertums seiner Zeit. Williger als
bei vielen anderen Sympathien, die er für mit-
lebende Künstler an den Tag legte, ist ihn: hier
die Nachwelt gefolgt. Vielleicht sprach ihn der leise
klassizistische Einschlag, den manche Produkte in
der abseitigen, von hoher Sachlichkeit durch-
drungenen Kunst dieses Mecklenburgers anfweisen,
vertraut an, der jedoch für die Gesamthaltung
ebenso wenig entscheidend erscheint, wie einiges
romantische, besonders in der Motivwahl. Es gibt
von Kerstings Hand, gemalt und gezeichnet, Dar-
stellungen des geigenden Paganini, die im Aus-
druck knapper Formulierung keineswegs unwürdig
neben der bewegten, westlich-romantischen Dar-
stellungskraft eines Delacroix stehen. Sein
eigenstes gab Kersting jedoch in Stücken, die
man Zimmerporträts nennen möchte. Sie zeu-
gen von einer bürgerlichen Kultur, in der die
Wohnstuben, die er mit ihren Insassen in natür-
lichem und künstlichen: Licht und mit Fensteraus-
blicken ans das Grün der Landschaft in malerisch
köstlich abgestuften Farben-Folgen und Zusammen-
klängen immer wieder gemalt hat, wirklich noch
mit menschlicher Existenz untrennbar verbunden
waren. Nstor'wnlcl

Aüe/reI-


Jörg Brr», Iiiiiglingskops. Zeichnung
Altdeutsche Meisterzeichnungen. Hgg. v. E. Schiitin«.
Prestel-Verlag, Frankfurt am Main.
Meisterhaft die Auswahl der Bilder, anziehend und
allgemein verständlich die kurze Einführung nnd die Er-
läuterungen der einzelnen Blätter von Edmund Schilling,
der es versteht, die Liebe für unsere höchsten Kulturgüter
uud deren Quellen in das Volk zu tragen. Die Wieder-
gabe der Bilder ist nicht die höchste Stufe heutiger Repro-
duktionstechnik, der Preis von 2,7b RM für das gebundene
Buch nicht zu hoch. VV. K.

Das Geschick eines Knaben
im nordischen Krieg
Novelle von Earl v. Bremen
Fortsetzung aus Nr. 5

Carl sieht, wie mehrere Reiter Weggaloppieren.
„Die laden die Gäste" — sagt jemand. Der Capi-
tain grüßt immer noch vom Balkon herab, und
ihm zur Seite steht ehrwürdig die mächtige Er-
scheinung des Vaters, des alten Magnaten
Woiworitsch.
Allen, denen der Capitain lange die Hand
schüttelte, sagte er, zum Knaben sich wendend:
„Das ist Carl Lechts, ein junger Freund aus Est-
land, der mich als Gast hierher begleitete."
Carl kann sich zuerst an die Vielbeweglichkeit,
das Lachen und die Tränen und Küsse nicht ge-
wöhnen. „Müde und traurig", denkt er immer
wieder, „häng ich beiseite."
In Barje werden Feste gefeiert, wie man sie
in Estland niemals kannte. Tuve hat nie davon
erzählt.
Carl ist fast benommen von den üppigen Kost-
barkeiten. Samt und Felle an den Wänden, die
Stühle haben Weiche Polster. Ans der einen Seite
ist der Saal abgeteilt. Dort stehen vier Musi-
kanten. Die spielen den ganzen Abend, zum Essen,
zum Tanz. Und sie spielen die Nacht durch. Nach-
dem schon viele Kerzen verloschen sind, spielen sie
noch.
In der Nacht zieht das Gesinde im Fackelzuge
am Haus vorbei, sie rufen und singen. Die Türen
sind weit geöffnet, jeder darf eintreten. Im Flur
ist eine lange Weiße Tafel gedeckt. Jeder ist will-
kommen, darf heute essen und trinken soviel er
mag. Weißbrot, Braten und Met. Drei Tage
soll die Arbeit ruhen. Es ist wie am heiligen
Osterfest, dem größten Fest des Jahres.
Die Bediensteten in roten Röcken und goldnen
Bändern aus der Brust gehen lautlos umher. Sie
haben schwarze Haare und runde rote Köpfe.

Die Gäste bleiben über Nacht nnd bleiben noch
zwei Nächte, nnd am nächsten Tage wird wieder
getrunken und getanzt. In Barje sind so viele
Frauen und Männer, die Carl nicht unterscheiden
kann, deren Namen er kaum aussprechen kann.
Doch Carl Lechts kennen alle und sind freundlich
zu ihm.
Carl gibt sich große Mühe, er will nicht stol-
pern beim Tanzen. Diese raschen Rundtänze sind
schwer. Er muß sie noch lernen. Auch der süße
Wein ist schwer. Ganz spät in der Nacht, nachdem
ihm schon ein Paarmal die Augenlider znfielen,
wird er froh und singt auch Lieder.
Unter den Gästen sind einige, die waren auch
im Krieg — kennen Livland, rühmen die schwedi-
schen Soldaten und den verwegenen König Carl.
Aber dabei prahlen sie viel. Ein alter Herr iu:
Weißen Pelz erzählt mit schallender Stimme, er
hätte mit seinen: Säbel — er stampft mit dem
Fuß dabei — mit seinem Säbel hätte er ein
ganzes feindliches Bataillon zerhauen. Dabei
macht er ein ernst-wildes Gesicht, das soll die
Frauen erschrecken.
Dem Carl klopft er auf die Schulter, nenut
ihn „Kriegsmann" und sagt: „Euch, Junker,
würde der Marschallstab gut stehen!"
Man spricht hier so gern vom Krieg, denn man
kennt ihn nur aus der Ferne. Hier waren keine
Russen, von hier wurde niemand verschleppt.
Aber man redet hier sehr viel darüber.
Einer der Herren wußte zu berichten vom
Elend der Gefangenen in Moskau. Da horcht
Carl auf. Die Gefangenen würden grausam be-
handelt, sagt man, und schreckliche Seuchen wüten
im Lager. Ein anderer sagt das Gegenteil. Er

wäre selber Gast gewesen kein: Zaren von: Ruß-
land. Die verschleppten Deutschen ans Estland
nnd Livland haben es gut. Sie erhielten Ehren-
ämter an deu: Zarenhof und gelangten dort
schnell zu Ausehen und Geld.
Das Fest klingt aus.
Die Dragoner rüsten zum Heimritt. Sie reiten
nachts davon. Carl Lechts ergreift die Lust, sich
wegzustehlen, mit den Dragonern zu reiten.
„Seht, ich habe einen Hund als Bente!" —
„Dieser große, fette Hund — davon werden wir
alle lange satt." Carl kommt an die Tür des
Herrenhauses. „Weshalb hast du Glawa er-
schösse::?" rufen sie ihm auf litauisch entgegen.
„Glawa soll die Schafe hüten. So etwas darfst
du nie wieder tun. Carl, du bist schlecht. Unsere
gute Glawa hast du erschossen."
„Ich habe nur einmal einen Hund zu Hause
erlegt. Hunde wurden selten uud bei uns hatten
sie nur wenig Fleisch. Damals wollte ich nur
aus dem Fell Hosen nähen. Heute hab ich einen
Hnnd mit der Pistole erschossen. Das ist nicht
leicht. — Ich wollte mit dieser Beute Euch in
Barje danken!"
XI.
Während Carl den Sommer über als Gast in
Barje weilt, kämpft sein Bruder, Tuve Lechts,
iu Dorpat.
Er ist Fähnrich geworden — eiuer der
Jüngsten.
Aber man sieht es ihn: nicht an.
Dorpat wird hart belagert — wehrt sich mann-
haft in aussichtslosen: Kampf gegen die Übermacht
der Russen.
Einmal kommt eine Nachricht, die alle auf-
atmen läßt und glauben macht, die Trnppenmassen
der Feinde werden abziehen, um Petersburg zu
schützen.
Der schwedische Generalmajor Maydell, der
mit seinen Truppen in Finnland stand, rückte
nach Nyenschantz vor, einer Festung, sehr nah der
jungen Hauptstadt des Zaren.
Mit wenigen Soldaten, jungen Finnen, die
vou: Kampf kann: abzuhalten waren, überfiel

Maydell die Russen — wirft sie über den Haufen.
Es fehlte nicht viel — Schuld daran ist die ver-
zögerte Ankunft der Flotte — so hätte Maydell
die Newa überschritten uud Petersburg in: Sturm
genommen, da die großen Trnppenhanfen des
Zaren zu jener Zeit vor der schwedischen Festung
Narva lagen und vor Dorpat. Die schwer be-
drängten Städte hatten alle Hoffnung auf diesen
kühnen Gewaltstreich Maydells gesetzt.
Aber die Flotte blieb ans, uud Maydell mußte
sich zurückziehen.
Darüber war man im Russenlager Wohl in-
formiert.
Eine verschärfte Belagerung Dorpats setzte so-
fort ein.
Bomben fliegen in die Stadt — zweihundert,
ja dreihundert nnd mehr am Tage, nicht zu zählen
die Kanonenkugeln, die bestimmt sind, in die
Manern Breschen zu reißen.
Dorpat antwortet aus eigenen Geschützen.
Es sind nur wenige noch, Befestigungswälle
und Türme zusammengeschossen und ungangbar.
Man versucht einen Ausfall.
Tiesenhausen und Taube führen die Truppe.
Sie wirft sich auf den Feind, zerstört die
Gräben und Schanzkörbc, mit denen sich der Russe
nah an die Stadt herangearbeitet hat. Aber was
ist anszurichten gegen eine zehnfache Übermacht?
Das Regiment wird zurückgezogen.
Man hat die Russen anfgehalten nnd während
der Zeit die eigenen Befestigungen repariert.
Tag nnd Nacht wird geschanzt.
lind doch Wanken die Manern, ihr Verfall ist
nicht aufznhaltcn.
Der Feind wirft Brandkngeln.
Davon fliegt ein großes Wnfsenlnger in Dor-
pat in die Luft.
Bürgerhäuser brennen ab.
Eine alte .Kirche, mit Heu gefüllt, fängt Feuer.
Die Anzahl der Verwundeten steigert sich so,
daß der Kommandant, Obrist Skytte, von jeden:
Bürger ein Bettlaken fordert, zu „Pflaster-
tüchern", die die Feldscheere an die Verwundeten
austeilen.
Von Tag zu Tag wird das Elend größer.
Fortsetzung folgt
 
Annotationen