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Tradition und Modernität im Nauen
Von
Hans Eckstein
Das Bauen, das man heute das „neue" nennt,
wird, anerkennend oder verwerfend, auch als
„traditionslos" bezeichnet. Objektiv ist die Be-
hauptung der „Traditionslosigkeit" des „neuen"
Bauens unbegründet. Sie ist aber Ausdruck des
starken Selbstgefühls einer Generation, ihres Ge-
fühls, anders zu fein als frühere Generationen,
Ausdruck ihres Glaubens, eine neue Epoche einzu-
leiten. Im Gefühl ihres Andersseins übersteigert
die neue Generation die Distanz zur Vergangen-
heit, wie umgekehrt die ältere die Gegensätze zum
Neuen übersteigert. Die Gegner des „neuen"
Bauens berufen sich auf die „Tradition", die es
zu wahren und fortzuführen gelte. „Tradition"
aber ist für die einen Biedermeier, für andere
Klassizismus oder ein individualistisches „freies
Spiel der künstlerischen Phantasie" überhaupt, das
sie gegen eine, dieses „freie Spiel" mindestens
erheblich einschnürende, in ihren „Puristischen"
Tendenzen angeblich kulturzerstörende und ver-
meintlich rein materialistische „Zweckarchiiektnr"
verteidigen zu müssen glauben. „Tradition" be-
deutet also etwas sehr Verschiedenes, verschieden
je nach der individuellen Formenwahl und nach
dem Geschmack desjenigen, der sich aus die „Tra-
dition" beruft. Es gibt keinen bestimmten Stil,
wir antreten könnten. Uns sind alle Stile und
das Chaos aller Stile überliefert. So ergibt sich
die eigenartige Situation, daß die „Tradition",
ihre Pflege oder Überwindung zwar im Brenn-
punkt aller Diskussionen um das Bauen steht, aber
der Begriff „Tradition" keine ein-
deutig bestimmten Lebensinhalte
und -formen mehr umgreift. Darauf
hat unlängst der große deutsche Baumeister
Theodor Fischer in seiner Rede bei einer
Feier des „Kampfbunds für deutsche Kultur" im
Augsburger Rathaussaal nachdrücklich hingewiesen,
indem er sagte: „Das deutsche Wort »Über-
lieferung« geht nicht auf die äußerliche Form, es
geht auf das Wesen. Das ist der Punkt, nur den
es sich dreht: nicht Überlieferung, die auf hand-
werklicher und künstlerischer Erfahrung ruht,
wird heute gemeinhin unter »Tradition« verstan-
den, sondern der rückwärtsschanende Formalismus.
Diese Tatsache abzubiegen, ist kein ehrliches Spiel."
Nur oberflächlich und formalistisch gesehen, er-
scheint das Verhältnis des „neuen" Bauens zur
„Tradition" rein negativ. In Wahrheit ist auch
das neue Banen nicht „traditions-
l o s", wie es seine Theoretiker und Propagandeure
behaupten, deren Manifeste und Schlagwörter ja
oft genug eine recht mangelhafte Selbsterkenntnis
bezeugen. (Darin kommt das in der neuen Ban-
bewegnng selbstverständlich vorhandene stark
reaktive Element zum Ausdruck. Aber eine schlecht
oder falsch propagierte Sache braucht noch nicht an
sich schlecht oder falsch zu sein.) Das Neue hebt sich
am stärksten und eindeutigsten heraus, wo es mit
der „Tradition" in Gegensatz gerät. Nachdem das
19. Jahrhundert in allen Stilen, kopierend und
abwandelnd, gebaut hatte und alle Ansätze zu
einem eigenen Baustil unter der leblosen Hülle
klassizistischer und historistischer Formen erstarrt
waren, war von irgendwelchen Versuchen einer
Stilschöpfung im Sinne der historischen Stile
nichts mehr zu erhoffen. Niemand wird bestrei-
ten wollen, daß die Biedermeierrenaissance, der
Neuklassizismns, der gezähmte Jugendstil ge-
schmacklich nnd formal eine heilsame, wohltuende
jahre war. Was in diesen Jahren des Übergangs
und der Besinnung entstand, wurde hochgepriesen
— vorn Augenblick aus gesehen — mit Recht. Man
war glücklich, daß Bauten entstanden ohne gotische
Zinnen, ohne klassische Gesimse, ohne Säulen und
Kapitäle. Heute sehen wir die Relativität dieses
Fortschrittes zu deutlich, um noch in der pseudo-
gotischen Vertikalität einer Klinkerverkleidung
(Chilehans), in der Beton-Monumentalität der
Tnrbinensabrik der AEG. vor: Peter Behrens etwa
oder in der sakralen Pfeilerstellung an Fabrik-
fassaden von Kreis die ersten Zeugen einer neu-
beginnenden Architekturblüte zu Preisen. Wenn
sich die „Weltmacht der Presse" im gotisierenden
Gewand vorstellt (Ullstein-Druckhaus-Berlin), das
Warenhaus zur Warenkathedrale (Karstadt in
Berlin!) wird, so hat sich die Trompeter-von-
Säckingen-Architektur, aufs Grundsätzliche gesehen,
doch nur in eine welt-
Hockcnder. Von einer Fassade in Gelnhausen. 12. Jahrhundert
Photo Kunstgesch. Sem. Marburg
läufigere, kinohafte
Attrappen-Architektur
verwandelt, ein immerhin
recht relativer Fortschritt.
Dieser sakrale Formalis-
mus rückt wie der gleich-
zeitige funktionalistische
Symbolismus (Mendel-
sohus Einstein-Turm!)
heute bereits in historische
Perspektive; er hat das
Pathos des 19. Jahrhun-
derts noch nicht über-
wunden, sondern nur auf
den „Betoncharakter" um-
gestimmt oder bis zur
Kümmerlichkeit reduziert
— aus derselben Scheu
vor den neuen Konstruk-
tionsmöglichkeiten und
den ihnen gemäßen Neu-
formen, die das 19. Jahr-
hundert die neuen tech-
nischen Formen schamhaft
hinter Steinknlissen zu
verstecken bestimmte.
Erkannt oder nicht er-
kannt, bewußt oder un-
bewußt, ist das seelische
uud geistige Verhalten
des Menschen zu der Ap-
paratur, die die Technik
als eine zweite Natur vor
uns hinstellte, uns im
wörtlichsten Sinne ent-
gegenstellte, das tiefste
Lebensproblem, mit dem
das 19. Jahrhundert
rang. Seine auftrump-
fend pathetische und histo-
rizistische Geste war ret-
tende Naivität, eine Ver-
legenheitsgeste vor dem
seelisch und geistig Unbe-
zwungenen der neuen
künstlichen Welt der Tech-
nik. Die Fragen, die uns
heute bewegen, waren
Werner Scholz, Der Blinde. 1934
der Menschheit seit Beginn der Technisierung und
der Jndustriebildung, seit rund hundert Jahren
also, gestellt, nur ließ man sie fast ein Jahr-
hundert lang unerledigt, wenn auch das Problem,
was die Architektur betrifft, hin und wieder in
verschiedenen Zeitmomenten von einzelnen klar
erfaßt und kühn vorausschauend präzis formuliert
wurde. So von dem Romantiker Theophil
Gautier 1850: „Man wird im gleichen Augen-
blick eine eigene Architektur schaffen, in dem man
sich der neuen Mittel bedient, die die neue In-
dustrie liefert. Die Anwendung des Gußeisens
gestattet und erzwingt viele Neuformen, wie man
sie an Bahnhöfen, Hängebrücken und in den Ge-
wölben der Wintergärten beobachten kann".
Keine andere Aufgabe hat die Architektur
heute als die, die Gautier 1850 formulierte. Die
Aufgaben im Bauen unserer Zeit sind im wesent-
lichen keine anderen als die der nächst älteren
Generationen. Wir sehen im allgemeinen recht
verachtungsvoll auf die Architektur des 19. Jahr-
hunderts zurück. Mögen die Vorwürfe, die wir
ihm machen, noch so sehr zu Recht bestehen, so
können wir uns, was die Kühnheit des Vorstoßes
nach vorn im Sinne einer alles revolutionieren-
den Technik betrifft, mit dem 19. Jahrhundert
doch kaum vergleichen. Was wir vor dem
19. Jahrhundert voraushaben, das ist die größere
Vorurteilslosigkeit allen histori-
schen Stilen gegenüber, woraus das
„neue" Bauen die Kraft und den Mut zu einer
„eigenen", nicht mehr historisch maskierten Archi-
tektur schöpft. Das „neue Bauen" hat eine min-
destens hundertjährige „Tradition", nur liegt sie
nicht in der äußerlichen, historisierenden Formen-
sprache des 19. Jahrhunderts, sondern hinter
den Fassaden — in der neuen technischen
Konstruktion.
Die revolutionäre, „puristische" Haltung der
Architekten der Nachkriegszeit hat in der um 1830
sich bildenden Opposition gegen den Historizismus
Klenzes eine Parallele — Beweis, daß die schöpfe-
rischen Architekten des 19. Jahrhunderts, voran
(Fortsetzung Seite 2)
Werner Scholz
Wenn heute die Zeit dazu drängt, die Front
aller eigengewachsenen und echten Künstler zu
bilden, die für den Aufbau der malerischen Welt
notwendig sind, so wird hierbei der Maler Werner
Scholz nicht fehlen dürfen. Der nachhaltige Ein-
druck seiner letzten Ausstellung im November
vorigen Jahres in der Berliner Galerie von der
Heyde, dann in Köln (trotz verständnisloser Kritik)
und in Kassel — demnächst wird sie im Magde-
burger Kunstverein gezeigt — bestätigt, daß der
Maler nnd seine Zeit aufeinander treffen, sich
gegenseitig begegnen.
Werner Scholz, Jahrgang 1898, ist in Berlin
geboren. Der Krieg bestimmt sein Schicksal, im
äußeren wie im inneren Sinne. Als schwer Ge-
zeichneter, als zwölfmal Verwundeter kehrt der
18jährige zurück. Aber nicht das „Kriegserlebnis"
ist das Entscheidende. Die Nähe des Todes, Ein-
samkeit, Kameradschaft und jene Erschütterungen,
in denen letzte Dinge aufgerissen wurden, — daß
man stetig unter den Begriffen Schicksal und Not-
wendigkeit stand, war der unsichtbare Magnet, der
die seelische Substanz an sich zog. Im November
1914 schrieb Franz Marc prophetisch: „Die unge-
heuere seelische Erschütterung läßt unser ganzes
Wissen und unsere Überzeugung bis zum Grunde
prüfen. Nur, denke ich, daß man nicht auf alte
Glanbensformeln und Gewohnheiten zurückgreifen
kann, sondern daß sich neue religiöse Gedanken
bilden werden.So wie Europa gewesen
ist, kann es nicht lange bleiben." Und was Franz
Marc hier vorausahnend aussprach, das war die
schwere Aufgabe, um deren Bewältigung die Ver-
antwortlichen in der jüngsten Vergangenheit ge-
kämpft haben.
Und noch eine andere Erkenntnis wurde durch
den Krieg wachgerufen: Wenn man als Maler
wachsen will, muß man sich in die Erde versenken.
Also Pflanze dich so tief wie möglich in den Boden.