4
Kunst der Nation
m.
Es ist ein bezeichnender Zug der bildenden
Kunst des 19. Jahrhunderts, daß sie aus einem laten-
ten revolutionären Zustand nicht herauskommt,
daß eine Bewegung die andere verdrängt und im
Kampfe bereits die Kräfte verzehrt, die sie zu
eigener Entfaltung lebensnotwendig brauchte.
Der zunächst bestechende Anblick kämpferischer
Lebendigkeit ist nur das täuschende Gegenbild
einer zu organischem Wachstum nicht mehr
fähigen Substanzarmut. Schon die die Kunst
des 19. Jahrhunderts einleitende Gegenbewegung
gegen den Barock war stark und einheitlich nur in
ihrer Negation. Im Positiven, in ihrer Schei-
dung in Klassizismus und Romantik, befehdete
sie sich heftig und bewies eben damit ihren Man-
gel an unbeirrbarer Sicherheit des Lebensgefühls.
Die späteren Jahrzehnte brachten nur eine Ver-
schärfung dieses Zustandes. Indem die Roman-
tik die Fahne der Revolution verriet und reak-
tionär erstarrte, drängte sie die produktiven Kräfte
zu einer neuen Revolution, die sich nun gegen
die offiziell gewordene Romantik richtete. Es
entstand ein Zustand, der bis in unsere Tage
fortgedauert hat. Auf der einen Seite ist eine
offizielle Kunst, die die Lebendigkeit einer in der
Tat nicht mehr vorhandenen Gemeinschaft vorzu-
täuschen sucht und über ihrer Bemühung, die ver-
siegten Quellen eines alle bewegenden Inhaltes
wieder in Gang zu bringen, die für die Kunst
lebenswichtigste Frage der Form vernachlässigt.
Auf der anderen Seite ist eine abseitige Kunst,
die die Lüge einer bloß vorgetäuschten Gemein-
schaft preisgibt und keinen anderen Ehrgeiz hat,
als auch unter den ungünstigsten Bedingungen
den strengen Forderungen der Kunst nach Form
zu genügen, die aber in ihrem Kampf sich aus-
reibt und in ihren Früchten daher der monu-
mentalen Kunst der früheren großen Jahr-
hunderte nicht mehr zu vergleichen ist. Je un-
künstlerischer nun, je stärker auf die Befriedigung
eines bloß inhaltlichen Interesses eingestellt die
offizielle Kunst wurde, um so stärker trat das
formale Bestreben der Abseitigen hervor. War es
das Geheimnis der großen Kunst der Vergangen-
heit gewesen, aus der Sicherheit einer vorhan-
denen Form unerschöpflich Leben zu bilden, so
stellte die formlos gewordene Zeit den wahren
Künstlern jetzt die umgekehrte Aufgabe, das un-
geformte Leben in Form zu verwandeln. Was
früher Voraussetzung gewesen war, wurde nun
zum Ziele. So unvermeidlich diese Um-
orientierung war, man muß den großen Ver-
lust, den sie unweigerlich brachte, ewig beklagen.
Die Unmittelbarkeit, Naivität und Natürlichkeit
der früheren Zeit, die selbst die naturferne Kunst
des Mittelalters so beglückend auszeichnet, verlor
sich. An ihre Stelle trat in immer stärkerem
Maße eine bewußte Stilisierung. Die Formen
beginnen sich von den Gegenständen zu lösen und
selbständig zu werden. Der Realitätsgehalt der
Kunst wird immer geringer. Eine Entgegen-
ständlichung der Kunst setzt ein, die notwendig
am Ende zu den Abstraktionen eines Wassily Kan-
dinsky und eines Paul Klee führen mußte. —
Wenn von diesen Künstlern mehr und mehr die
Kunst allein um der Kunst willen getrieben
wurde (was man mit dem französischen Wort
U'urt xour 1'urtz zu kennzeichnen beliebt), so müssen
wir, um einer gerechten Beurteilung willen, die
G. Mennicke, Menschen aus Rungholt. Pinselzeichnung
historische Situation bedenken, die sie dazu zwang,
und die sittliche Leistung bewundern, die ihnen
die Kraft verlieh, meist mißverstanden und ver-
dächtigt, lieber ihrem Ideale der Kunst zu dienen
als den bequemen Verlockungen eines unkünst-
lerischen Zeitgeistes nachzugeben.
Der Gegensatz zwischen offizieller und ab-
seitiger Kunst muß noch unter einem anderen Ge-
sichtspunkt kurz betrachtet werden. Das 19. Jahr-
hundert, das gegenüber früheren Jahrhunderten
den Schwerpunkt des philosophischen Überlegens
von Gott auf den Menschen verlegte, machte in
seiner Vorstellung vom Wesen des menschlichen
Geistes eine bedeutende Wandlung durch. Am
Anfang steht die Entdeckung des menschlichen
Geistes als metaphysischer Wirklichkeit. Wir ver-
danken sie vor allem der deutschen idealistischen
Philosophie von Fichte bis Hegel. Am Ende
steht — nicht ohne Zusammenhang mit der Ent-
wicklung zum Materialismus, auf dessen Bedeu-
tung wir noch zu sprechen kommen — die Aus-
bildung des sogenannten historischen Bewußt-
seins. Von der ersten Auffassung wurden die
geschichtlichen Manifestationen des menschlichen
Geistes als absolute über die Zeit gleichsam er-
habene Werte betrachtet, von der zweiten als
Produkte bestimmter und einmaliger geschichtlicher
Bedingtheiten und Situationen. Diese Wandlung
war auch für die Entwicklung der Kunst von ent-
scheidender Wichtigkeit. Die romantische Kunst in
ihrer nazarenischen Ausprägung, die in ihren
Anfängen mit der deutschen idealistischen Philo-
sophie auf das innigste verknüpft war, ist nur
aus der Geiftauffassung dieser Philosophie zu ver-
stehen. Wenn sie historische Formen nachahmte,
so nur darum, weil sie diese Formen nicht als
historisch, also als einmalig, sondern als über-
historisch, also als absolut ansah. Ihr endliches
Scheitern liegt nicht zuletzt an der Blindheit gegen
die tatsächlichen historischen Bedingungen. Die
abseitige Kunst dagegen setzt, je weiter das Jahr-
hundert fortschreitet, in um so stärkerem Maße
das historische Bewußtsein voraus. Es hat für
sie keinen Zweck mehr, historische Formen nach-
zuahmen, nachdem sie deren geschichtliche Bedingt-
heit einsehen gelernt hat. Sie weiß, daß in das
Reich der ewigen Formen nur das Eigen-
gewachsene, nicht aber das Übernommene eingeht.
Ihre Forderung geht daher mehr aus Verwirk-
lichung des Persönlichen, Individuellen, als aus
Angleichung an ein historisch bereits legitimiertes
Allgemeines. Auch unter diesem Gesichtspunkt
gesehen, erweist sich die Entwicklung der Kunst
zu immer ausgeprägterem Individualismus als
notwendig.
Die Unmöglichkeit, das eigene künstlerische
Schaffen an der fest geprägten Form einer großen
Vergangenheit zu orientieren, brachte den ernst-
haften Künstlern eine neue Erschwerung. Ohne
Tradition und ohne die Stütze eines verpflichten-
den Vorbildes waren sie ganz auf sich ange-
wiesen und allen Gefahren des Sichverlierens,
des Herumtastens, des Sichvergreifens aus-
geliefert. Diesen Gefahren ist fast keiner der
deutschen Künstler des späteren 19. Jahrhunderts
ganz entgangen. Sie wären aber schlechthin ver-
derblich gewesen, wenn die Deutschen nicht in der
zeitgenössischen französischen Kunst einen gewissen
Ersatz für das Verlorene gefunden hätten. Wir
können hier die Gründe nicht darlegen, die die
Situation der französischen Kunst im 19. Jahr-
hundert ungleich günstiger als in Deutschland ge-
stalten. Sie liegen in dem Nationalcharakter der
Franzosen und in der hierdurch bedingtem
kulturellen Entwicklung ihres Landes. Jeden-
falls war, was Deutschland fehlte, dort noch
(wenigstens bis zu einem gewissen Grade) vor-
handen: Kontinuität der künstlerischen Ent-
faltung und Tradition. So konnte sich ein altes
Schicksal der deutschen Kunst erneuern. Sie suchte
ihr eigenes Ziel auf den: Umweg über eine
formal überlegene fremde Kunst.
IV.
Es ist eine tiefe Tragik, daß auch das ein-
schneidenste geschichtliche Ereignis des 19. Jahr-
hunderts, das Erstarken der sozialen Bewegung,
sich kulturell nicht hat Positiv auswirken können,
daß es selbst der unverbrauchten Lebenskraft des
heraufkommenden vierten Standes nicht gelang,
auf dem alten Boden eine neue objektive, Alle
verpflichteude religiöse Weltanschauung organisch
auszubilden. Großwerdend in geist- und gott-
loser Zeit warf er vielmehr sein gewaltiges Ge-
wicht zugunsten der immer stärkeren Mechani-
sierung und Geiftentfremdung, die im Sinn und
in der Richtung der Zeit lag, in die Wagschale
und förderte sie, statt sie zu hemmen. Diese Ent-
wicklung darf freilich durchaus nicht bloß negativ
gewertet werden. Auch wenn wir absehen von
den großen Leistungen, die sie im Gefolge hatte,
der Ausbildung der exakten Naturwissenschaften,
der Vervollkommnung der Technik usw., und
allein ihre weltanschauliche Bedeutung ins Auge
fassen, so kann ihr das Zeugnis des Schöpferi-
schen nicht vorenthalten werden. Man darf nicht
vergessen, daß auch die Leugnung des Geistes eine
schöpferische Lat des Geistes ist (schöpferischer als
epigonenhaftes Festhalten am Geiste) und daß wir
ihr eine Schärfe des Blicks und des Probleme-
sehens verdanken, die wir auch bei wieder ganz
anders gerichteten Zielen nie mehr entbehren
können. Kulturell gesehen aber bedeutete diese
Entwicklung ein Ende, ein Abklingen. Denn das
Leben einer Kultur gründet sich nicht aus Wissen-
schaft, sondern auf Glauben, nicht aus Kritik,
sondern auf Gestaltung. Uberrationale Gemein-
schaft, nicht rationale Gesellschaft, ist der Boden,
ans dem eine Kultur erwachsen kann.
Fortsetzung folgt
Litt Gras
Begegnete man plastischen Arbeiten Lili Gräfs
— in der Berliner Secession oder unlängst in der
Galerie Nierendors —, so blieb von ihnen immer
ein eigener Klang haften. Der kam weniger von
der unmittelbaren plastischen Form, als von. dem
Ausdruck, der aus ihren Plastischen Dingen sprach.
Eirr lyrischer Klang, versonnen und Verhalten, zart
und beseelt, in dem das Leid der Frau mitschwingt.
Der Ausdruck ist dieser Bildhauerin, was dem
Musiker das Thema: eine formale Richtlinie, die
bis in jedes Detail spürbar sein soll.
Aus diesem Ausdruck Plastisches Leben machen,
greifbare und tastbare Form. „Sehr früh schon
hat man", schreibt Rilke in seinem Rodin-Buch,
„Dinge geformt, mühsam nach dem Vorbild der
vorgefundenen Dinge, man hat Werkzeuge ge-
macht und Gefäße, und es muß eine seltsame Er-
fahrung gewesen sein, Selbstgemachtes so aner-
Der stilbildende Körper
Line Stilkrttik der Korsage
(Fortsetzung und Schluß) VvN G. WießNkr
„Die Dame", Oktober 1931
Maria einer Heimsuchung
Schwäbisch um 1340
Die Dame der Gotik aber würde Wohl bestaunt
werden ob der Konsequenz, mit der sie sich zeit-
gemäß trägt.
Es ist kein prinzipieller Unterschied zwischen
ihr und ihrer Schwester von heute: schmale Hüsten
bei zarter Betonung der Büste, steigende Falten
des Rockes: das ist beider Schönheitsideal, mit
dem sie den ftrebigen Bauten ihrer Städte glei-
chen. Auch die gotische Dame schnürt sich. Sie
schnürt aber ihren Körper nach der Vertikalen
hin, genau so wie es heute geschieht. Der Körper
ist der eigentliche Träger des Stilwillens.
In dem Körper der Venus von Milo sehen
wir das sich frei entfaltende Skelett. Nur an
einer Stelle kann eine Veränderung entscheidend
eingreifen, an der Hüfte, jener Weichen beweg-
lichen, nur durch Muskeln modellierten Über-
leitung von Brustkorb zu Becken. Hier geschieht
penn auch alles das, was man Schnürung nennt,
aber es geschieht nach zwei verschiedenen Prin-
zipien:
Eine Zeit, die erdverhaftet in der Horizontalen
das Schöne sieht, wird hier im Sinne ihrer
Ästhetik, d. h. ein-schnüren, verengern, um mit
Hebelkraft die Brust zugleich schmal und üppig,
um besonders aber die Hüften breit — als eine
Parallele zur Erde — erscheinen zu lassen. Das
ist die Schnürung des Barock und der Reaktions-
zeiten des 19. Jahrhunderts.
Eine Zeit aber, die himmelstrebig die Verti-
kale liebt, wird versuchen, diese modellierbare
Stelle am Körper nicht zu beengen, sondern zu
straffen. Sie wird nicht „schnüren", es sei denn
um die Schenkel und übermäßige Büste, sie wird
alles ins Strebige stilisieren.
Dieses Schönheitsgefühl ist seit einer Gene-
ration in fortdauernder konsequenter Entwicklung
begriffen; das will heißen, daß wir hoffen können,
wieder ganz großen Stil — vielleicht noch in
unserer jüngeren Generation — zu erreichen.
An der vergewaltigten Natur können wir das
Zeitideal erkennen, besonders wenn wir mit dem
Auge des übertreibenden Karikaturisten schauen.
Bauch und Hüften find stark betont, die Brust
deutlich modelliert.
Um 1900 kommt die scharfe Gerade, die jede
Wölbung des Bauches verdrängt, richtunggebend
zur Geltung:
Auch die Hüften werden schon eingeengt, aber es
Reklamen aus Davidis Kochbuch (1893) und Simplizissimus
(1907) — Heilemann im „Simplizissimus" (1909)
kommt zu jener, uns heute so grotesk erscheinenden
Linie, die Brust und Gesäß übermäßig betont.
Der gleichzeitig herrschende „Jugendstil" macht
solche ausschweifende Grotesken deutlich mit. Seine
seltsam kurvierten freischwingenden Linien be-
herrschen Möbel und Graphik, als sei auch das
ganze Kunstgewerbe in solchen Korsetten zurecht-
gebogen.
Um 1908 setzt konsequent Straffung ein. Das
Korsett tritt unter die Brust zurück und verlegt
alle Kraft darauf, als Gürtel die Schenkel zu
straffen und zum Brustkorb in möglichster Verti-
kale emporzuleiten, fo daß die Reklame das Wun-
der des Sitzen-Könnens besonders zeigen muß.
Dann erreicht — um 1915 — die Anti-Korsage-
Bewegung ihren Höhepunkt. Der Wandervogel
wächst heran mit seinem neuen Körperideal. Die
Schriften Schultze-Naumburgs wirken sich aus,
Sport und Gymnastik drängen zu scharfem Trai-
Aus der „Berliner Illustrierten" 1930/31
Judith-Initiale einer böhm. Maria Magdalena
Handschrift um 1420 um 1420. Paris» Cluny
ning. Gegen französisches Frauenideal dringt aus
germanischen Ländern das Ideal des schlanken
Girls in die Mode ein.
Schon aber läßt es die freiere Beweglichkeit
der sportgeübten Frau ratsam erscheinen, die Büste
zu ruhiger Straffung zu stilisieren:
Büstenhalter beherrschen die Reklameseiten und
werden schnell von Hüftgürteln begleitet. Für
Korsett-Gegner wird das besänftigende Wort:
Korselett erfunden.
Die Emanzipation von der Schnürung des Ba-
rock und der Reaktion zeigt sich ganz deutlich. Die
Hüfte, eben der Teil, da die Horizontalfchnürung
tief eingriff, bleibt gänzlich korsagefrei.
Aber schon ein kurzes Jahr später rückt Büsten-
halter und Hüftgürtel enger zusammen. Noch ist
das kein „Korsett", aber der Stoffschnitt zeigt
ganz deutlich die Vertikalen, die, voll Eigenlebens
den Körper beherrschen.
Und abermals kaum ein Jahr:
Der neue Korsettpanzer ist fertig, aber nicht
als Schnürung, sondern als Straffung und
Streckung. Die Weichteile werden nicht beengt,
sondern überbrückt.
Man fühlt sich verwandt den Frauen des 14.
und 15. Jahrhunderts. Zwei, durch 300 Jahre
getrennte Epochen reichen sich die Hände:
Man schaue der Frau den Schönheitswillen der
Zeit ab, möchte man als moderner Kunsthistoriker
sagen, dann wird man erkennen, welche Linien für
kommende Generationen den Stil bestimmen
werden.
Kunst der Nation
m.
Es ist ein bezeichnender Zug der bildenden
Kunst des 19. Jahrhunderts, daß sie aus einem laten-
ten revolutionären Zustand nicht herauskommt,
daß eine Bewegung die andere verdrängt und im
Kampfe bereits die Kräfte verzehrt, die sie zu
eigener Entfaltung lebensnotwendig brauchte.
Der zunächst bestechende Anblick kämpferischer
Lebendigkeit ist nur das täuschende Gegenbild
einer zu organischem Wachstum nicht mehr
fähigen Substanzarmut. Schon die die Kunst
des 19. Jahrhunderts einleitende Gegenbewegung
gegen den Barock war stark und einheitlich nur in
ihrer Negation. Im Positiven, in ihrer Schei-
dung in Klassizismus und Romantik, befehdete
sie sich heftig und bewies eben damit ihren Man-
gel an unbeirrbarer Sicherheit des Lebensgefühls.
Die späteren Jahrzehnte brachten nur eine Ver-
schärfung dieses Zustandes. Indem die Roman-
tik die Fahne der Revolution verriet und reak-
tionär erstarrte, drängte sie die produktiven Kräfte
zu einer neuen Revolution, die sich nun gegen
die offiziell gewordene Romantik richtete. Es
entstand ein Zustand, der bis in unsere Tage
fortgedauert hat. Auf der einen Seite ist eine
offizielle Kunst, die die Lebendigkeit einer in der
Tat nicht mehr vorhandenen Gemeinschaft vorzu-
täuschen sucht und über ihrer Bemühung, die ver-
siegten Quellen eines alle bewegenden Inhaltes
wieder in Gang zu bringen, die für die Kunst
lebenswichtigste Frage der Form vernachlässigt.
Auf der anderen Seite ist eine abseitige Kunst,
die die Lüge einer bloß vorgetäuschten Gemein-
schaft preisgibt und keinen anderen Ehrgeiz hat,
als auch unter den ungünstigsten Bedingungen
den strengen Forderungen der Kunst nach Form
zu genügen, die aber in ihrem Kampf sich aus-
reibt und in ihren Früchten daher der monu-
mentalen Kunst der früheren großen Jahr-
hunderte nicht mehr zu vergleichen ist. Je un-
künstlerischer nun, je stärker auf die Befriedigung
eines bloß inhaltlichen Interesses eingestellt die
offizielle Kunst wurde, um so stärker trat das
formale Bestreben der Abseitigen hervor. War es
das Geheimnis der großen Kunst der Vergangen-
heit gewesen, aus der Sicherheit einer vorhan-
denen Form unerschöpflich Leben zu bilden, so
stellte die formlos gewordene Zeit den wahren
Künstlern jetzt die umgekehrte Aufgabe, das un-
geformte Leben in Form zu verwandeln. Was
früher Voraussetzung gewesen war, wurde nun
zum Ziele. So unvermeidlich diese Um-
orientierung war, man muß den großen Ver-
lust, den sie unweigerlich brachte, ewig beklagen.
Die Unmittelbarkeit, Naivität und Natürlichkeit
der früheren Zeit, die selbst die naturferne Kunst
des Mittelalters so beglückend auszeichnet, verlor
sich. An ihre Stelle trat in immer stärkerem
Maße eine bewußte Stilisierung. Die Formen
beginnen sich von den Gegenständen zu lösen und
selbständig zu werden. Der Realitätsgehalt der
Kunst wird immer geringer. Eine Entgegen-
ständlichung der Kunst setzt ein, die notwendig
am Ende zu den Abstraktionen eines Wassily Kan-
dinsky und eines Paul Klee führen mußte. —
Wenn von diesen Künstlern mehr und mehr die
Kunst allein um der Kunst willen getrieben
wurde (was man mit dem französischen Wort
U'urt xour 1'urtz zu kennzeichnen beliebt), so müssen
wir, um einer gerechten Beurteilung willen, die
G. Mennicke, Menschen aus Rungholt. Pinselzeichnung
historische Situation bedenken, die sie dazu zwang,
und die sittliche Leistung bewundern, die ihnen
die Kraft verlieh, meist mißverstanden und ver-
dächtigt, lieber ihrem Ideale der Kunst zu dienen
als den bequemen Verlockungen eines unkünst-
lerischen Zeitgeistes nachzugeben.
Der Gegensatz zwischen offizieller und ab-
seitiger Kunst muß noch unter einem anderen Ge-
sichtspunkt kurz betrachtet werden. Das 19. Jahr-
hundert, das gegenüber früheren Jahrhunderten
den Schwerpunkt des philosophischen Überlegens
von Gott auf den Menschen verlegte, machte in
seiner Vorstellung vom Wesen des menschlichen
Geistes eine bedeutende Wandlung durch. Am
Anfang steht die Entdeckung des menschlichen
Geistes als metaphysischer Wirklichkeit. Wir ver-
danken sie vor allem der deutschen idealistischen
Philosophie von Fichte bis Hegel. Am Ende
steht — nicht ohne Zusammenhang mit der Ent-
wicklung zum Materialismus, auf dessen Bedeu-
tung wir noch zu sprechen kommen — die Aus-
bildung des sogenannten historischen Bewußt-
seins. Von der ersten Auffassung wurden die
geschichtlichen Manifestationen des menschlichen
Geistes als absolute über die Zeit gleichsam er-
habene Werte betrachtet, von der zweiten als
Produkte bestimmter und einmaliger geschichtlicher
Bedingtheiten und Situationen. Diese Wandlung
war auch für die Entwicklung der Kunst von ent-
scheidender Wichtigkeit. Die romantische Kunst in
ihrer nazarenischen Ausprägung, die in ihren
Anfängen mit der deutschen idealistischen Philo-
sophie auf das innigste verknüpft war, ist nur
aus der Geiftauffassung dieser Philosophie zu ver-
stehen. Wenn sie historische Formen nachahmte,
so nur darum, weil sie diese Formen nicht als
historisch, also als einmalig, sondern als über-
historisch, also als absolut ansah. Ihr endliches
Scheitern liegt nicht zuletzt an der Blindheit gegen
die tatsächlichen historischen Bedingungen. Die
abseitige Kunst dagegen setzt, je weiter das Jahr-
hundert fortschreitet, in um so stärkerem Maße
das historische Bewußtsein voraus. Es hat für
sie keinen Zweck mehr, historische Formen nach-
zuahmen, nachdem sie deren geschichtliche Bedingt-
heit einsehen gelernt hat. Sie weiß, daß in das
Reich der ewigen Formen nur das Eigen-
gewachsene, nicht aber das Übernommene eingeht.
Ihre Forderung geht daher mehr aus Verwirk-
lichung des Persönlichen, Individuellen, als aus
Angleichung an ein historisch bereits legitimiertes
Allgemeines. Auch unter diesem Gesichtspunkt
gesehen, erweist sich die Entwicklung der Kunst
zu immer ausgeprägterem Individualismus als
notwendig.
Die Unmöglichkeit, das eigene künstlerische
Schaffen an der fest geprägten Form einer großen
Vergangenheit zu orientieren, brachte den ernst-
haften Künstlern eine neue Erschwerung. Ohne
Tradition und ohne die Stütze eines verpflichten-
den Vorbildes waren sie ganz auf sich ange-
wiesen und allen Gefahren des Sichverlierens,
des Herumtastens, des Sichvergreifens aus-
geliefert. Diesen Gefahren ist fast keiner der
deutschen Künstler des späteren 19. Jahrhunderts
ganz entgangen. Sie wären aber schlechthin ver-
derblich gewesen, wenn die Deutschen nicht in der
zeitgenössischen französischen Kunst einen gewissen
Ersatz für das Verlorene gefunden hätten. Wir
können hier die Gründe nicht darlegen, die die
Situation der französischen Kunst im 19. Jahr-
hundert ungleich günstiger als in Deutschland ge-
stalten. Sie liegen in dem Nationalcharakter der
Franzosen und in der hierdurch bedingtem
kulturellen Entwicklung ihres Landes. Jeden-
falls war, was Deutschland fehlte, dort noch
(wenigstens bis zu einem gewissen Grade) vor-
handen: Kontinuität der künstlerischen Ent-
faltung und Tradition. So konnte sich ein altes
Schicksal der deutschen Kunst erneuern. Sie suchte
ihr eigenes Ziel auf den: Umweg über eine
formal überlegene fremde Kunst.
IV.
Es ist eine tiefe Tragik, daß auch das ein-
schneidenste geschichtliche Ereignis des 19. Jahr-
hunderts, das Erstarken der sozialen Bewegung,
sich kulturell nicht hat Positiv auswirken können,
daß es selbst der unverbrauchten Lebenskraft des
heraufkommenden vierten Standes nicht gelang,
auf dem alten Boden eine neue objektive, Alle
verpflichteude religiöse Weltanschauung organisch
auszubilden. Großwerdend in geist- und gott-
loser Zeit warf er vielmehr sein gewaltiges Ge-
wicht zugunsten der immer stärkeren Mechani-
sierung und Geiftentfremdung, die im Sinn und
in der Richtung der Zeit lag, in die Wagschale
und förderte sie, statt sie zu hemmen. Diese Ent-
wicklung darf freilich durchaus nicht bloß negativ
gewertet werden. Auch wenn wir absehen von
den großen Leistungen, die sie im Gefolge hatte,
der Ausbildung der exakten Naturwissenschaften,
der Vervollkommnung der Technik usw., und
allein ihre weltanschauliche Bedeutung ins Auge
fassen, so kann ihr das Zeugnis des Schöpferi-
schen nicht vorenthalten werden. Man darf nicht
vergessen, daß auch die Leugnung des Geistes eine
schöpferische Lat des Geistes ist (schöpferischer als
epigonenhaftes Festhalten am Geiste) und daß wir
ihr eine Schärfe des Blicks und des Probleme-
sehens verdanken, die wir auch bei wieder ganz
anders gerichteten Zielen nie mehr entbehren
können. Kulturell gesehen aber bedeutete diese
Entwicklung ein Ende, ein Abklingen. Denn das
Leben einer Kultur gründet sich nicht aus Wissen-
schaft, sondern auf Glauben, nicht aus Kritik,
sondern auf Gestaltung. Uberrationale Gemein-
schaft, nicht rationale Gesellschaft, ist der Boden,
ans dem eine Kultur erwachsen kann.
Fortsetzung folgt
Litt Gras
Begegnete man plastischen Arbeiten Lili Gräfs
— in der Berliner Secession oder unlängst in der
Galerie Nierendors —, so blieb von ihnen immer
ein eigener Klang haften. Der kam weniger von
der unmittelbaren plastischen Form, als von. dem
Ausdruck, der aus ihren Plastischen Dingen sprach.
Eirr lyrischer Klang, versonnen und Verhalten, zart
und beseelt, in dem das Leid der Frau mitschwingt.
Der Ausdruck ist dieser Bildhauerin, was dem
Musiker das Thema: eine formale Richtlinie, die
bis in jedes Detail spürbar sein soll.
Aus diesem Ausdruck Plastisches Leben machen,
greifbare und tastbare Form. „Sehr früh schon
hat man", schreibt Rilke in seinem Rodin-Buch,
„Dinge geformt, mühsam nach dem Vorbild der
vorgefundenen Dinge, man hat Werkzeuge ge-
macht und Gefäße, und es muß eine seltsame Er-
fahrung gewesen sein, Selbstgemachtes so aner-
Der stilbildende Körper
Line Stilkrttik der Korsage
(Fortsetzung und Schluß) VvN G. WießNkr
„Die Dame", Oktober 1931
Maria einer Heimsuchung
Schwäbisch um 1340
Die Dame der Gotik aber würde Wohl bestaunt
werden ob der Konsequenz, mit der sie sich zeit-
gemäß trägt.
Es ist kein prinzipieller Unterschied zwischen
ihr und ihrer Schwester von heute: schmale Hüsten
bei zarter Betonung der Büste, steigende Falten
des Rockes: das ist beider Schönheitsideal, mit
dem sie den ftrebigen Bauten ihrer Städte glei-
chen. Auch die gotische Dame schnürt sich. Sie
schnürt aber ihren Körper nach der Vertikalen
hin, genau so wie es heute geschieht. Der Körper
ist der eigentliche Träger des Stilwillens.
In dem Körper der Venus von Milo sehen
wir das sich frei entfaltende Skelett. Nur an
einer Stelle kann eine Veränderung entscheidend
eingreifen, an der Hüfte, jener Weichen beweg-
lichen, nur durch Muskeln modellierten Über-
leitung von Brustkorb zu Becken. Hier geschieht
penn auch alles das, was man Schnürung nennt,
aber es geschieht nach zwei verschiedenen Prin-
zipien:
Eine Zeit, die erdverhaftet in der Horizontalen
das Schöne sieht, wird hier im Sinne ihrer
Ästhetik, d. h. ein-schnüren, verengern, um mit
Hebelkraft die Brust zugleich schmal und üppig,
um besonders aber die Hüften breit — als eine
Parallele zur Erde — erscheinen zu lassen. Das
ist die Schnürung des Barock und der Reaktions-
zeiten des 19. Jahrhunderts.
Eine Zeit aber, die himmelstrebig die Verti-
kale liebt, wird versuchen, diese modellierbare
Stelle am Körper nicht zu beengen, sondern zu
straffen. Sie wird nicht „schnüren", es sei denn
um die Schenkel und übermäßige Büste, sie wird
alles ins Strebige stilisieren.
Dieses Schönheitsgefühl ist seit einer Gene-
ration in fortdauernder konsequenter Entwicklung
begriffen; das will heißen, daß wir hoffen können,
wieder ganz großen Stil — vielleicht noch in
unserer jüngeren Generation — zu erreichen.
An der vergewaltigten Natur können wir das
Zeitideal erkennen, besonders wenn wir mit dem
Auge des übertreibenden Karikaturisten schauen.
Bauch und Hüften find stark betont, die Brust
deutlich modelliert.
Um 1900 kommt die scharfe Gerade, die jede
Wölbung des Bauches verdrängt, richtunggebend
zur Geltung:
Auch die Hüften werden schon eingeengt, aber es
Reklamen aus Davidis Kochbuch (1893) und Simplizissimus
(1907) — Heilemann im „Simplizissimus" (1909)
kommt zu jener, uns heute so grotesk erscheinenden
Linie, die Brust und Gesäß übermäßig betont.
Der gleichzeitig herrschende „Jugendstil" macht
solche ausschweifende Grotesken deutlich mit. Seine
seltsam kurvierten freischwingenden Linien be-
herrschen Möbel und Graphik, als sei auch das
ganze Kunstgewerbe in solchen Korsetten zurecht-
gebogen.
Um 1908 setzt konsequent Straffung ein. Das
Korsett tritt unter die Brust zurück und verlegt
alle Kraft darauf, als Gürtel die Schenkel zu
straffen und zum Brustkorb in möglichster Verti-
kale emporzuleiten, fo daß die Reklame das Wun-
der des Sitzen-Könnens besonders zeigen muß.
Dann erreicht — um 1915 — die Anti-Korsage-
Bewegung ihren Höhepunkt. Der Wandervogel
wächst heran mit seinem neuen Körperideal. Die
Schriften Schultze-Naumburgs wirken sich aus,
Sport und Gymnastik drängen zu scharfem Trai-
Aus der „Berliner Illustrierten" 1930/31
Judith-Initiale einer böhm. Maria Magdalena
Handschrift um 1420 um 1420. Paris» Cluny
ning. Gegen französisches Frauenideal dringt aus
germanischen Ländern das Ideal des schlanken
Girls in die Mode ein.
Schon aber läßt es die freiere Beweglichkeit
der sportgeübten Frau ratsam erscheinen, die Büste
zu ruhiger Straffung zu stilisieren:
Büstenhalter beherrschen die Reklameseiten und
werden schnell von Hüftgürteln begleitet. Für
Korsett-Gegner wird das besänftigende Wort:
Korselett erfunden.
Die Emanzipation von der Schnürung des Ba-
rock und der Reaktion zeigt sich ganz deutlich. Die
Hüfte, eben der Teil, da die Horizontalfchnürung
tief eingriff, bleibt gänzlich korsagefrei.
Aber schon ein kurzes Jahr später rückt Büsten-
halter und Hüftgürtel enger zusammen. Noch ist
das kein „Korsett", aber der Stoffschnitt zeigt
ganz deutlich die Vertikalen, die, voll Eigenlebens
den Körper beherrschen.
Und abermals kaum ein Jahr:
Der neue Korsettpanzer ist fertig, aber nicht
als Schnürung, sondern als Straffung und
Streckung. Die Weichteile werden nicht beengt,
sondern überbrückt.
Man fühlt sich verwandt den Frauen des 14.
und 15. Jahrhunderts. Zwei, durch 300 Jahre
getrennte Epochen reichen sich die Hände:
Man schaue der Frau den Schönheitswillen der
Zeit ab, möchte man als moderner Kunsthistoriker
sagen, dann wird man erkennen, welche Linien für
kommende Generationen den Stil bestimmen
werden.