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Kunst der Nation — 2.1934

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Verweyen, J. M.: Schiller und Goethe: zum 175. Geburtstage Schillers
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Maier, Hansgeorg: Sinn und Widersinn der Proteste
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https://doi.org/10.11588/diglit.66550#0128

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2

Kunst der Nation


Karl Hofer, Liebespaar

Photo: Schuch, Berlin

langte. Goethe selbst
pries diese Zeit als einen
„neuen Frühling" seine.
Schaffens.
Bis zur Bekanntschaft
mit Goethe hatte Schiller
nur die Dramen „Räu-
ber" (1781) und „Fiesko"
(1782), „Kabale und
Liebe" (1783) sowie „Don
Carlos" (1787) geschrie-
ben, daneben historische
Werke wie „Die Geschichte
des Abfalls der Nieder-
lande" und „Die Ge-
schichte des 30jährigen
Krieges", ferner Gedichte
und philosophische Ab-
handlungen. Während
der Zeit von 1789—1794
füllten den Jenaer Pro-
fessor vorwiegend wissen-
schaftliche und philoso-
phische Interessen aus.
Dann aber folgte seit
1794, angeregt durch Goe-
thes Freundschaft, ein
Jahrzehnt reichsten Schaf-
fens. Es brachte Ge-
dankenlyrik, Tenien, Bal-
laden, die „Wallenstein-
Trilogie", „Maria Stu-
art", „Die Jungfrau von
Orleans", „Die Braut
von Messina" und „Wil-
helm Tell". (Seit 1799
wohnte Schiller wieder in
Weimar, in nächster
Nähe von Goethe.)
Blicken wir noch ein-
mal auf die Wesensart
beider Männer, um uns
dadurch den Zugang zu
den künstlerischen Quel-
len und tiefsten Motiven
Schillers zu erobern.
In Goethes Dichtung
strömt die Unmittelbar-
keit seiner Natur und
ihrer Erlebnisse. Er selbst
charakterisiert seine Poesie
als „Gelegenheitsdich-
tung" im höheren Wort-
sinne, aber eben dies
widerspricht im Grunde
der Dichtungsart Schil-
lers, der von einem eige-
nen, Goethe sehr zusagen-
den Gelegenheitsgedichte
einmal bekannte: „Es ist

als Dichter ganz Natur und intuitiver Gestalter
seines Erlebens, Schiller stets genötigt, mit der
Reflexion der Einbildungskraft, mit dem Denken
der Anschauung zu Hilfe zu kommen, darum zu-
gwln- »oo^nhaster, sch^n ...folge seiner türp^c-
lichen Schwächlichkeit auf die Willenskraft seines
Geistes angewiesen, an dem Zwiespalt (Dualis-
mus) von Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und
Geist leidend. Aus solcher Anlage erklärt sich der
aktive, heroische, nicht selten pathetische Zug in
den Schöpfungen dieses Dichters, ihr Heldentum,
ihre Vorliebe für das Erhabene, und eben darum
das, was man im besonderen den Idealismus
Schillers zu nennen Pflegt. „Es ist der Geist,
der sich den Körper baut!" — Ein solches
Schillerwort kennzeichnet wie kein zweites die
geistige Struktur dieses Meuschen und Dichters.
Die Selbständigkeit des Geistes, seine innere Frei-
heit gegenüber aller Natur und dem Schicksal zu
retten: ist das große Anliegen des Dichters, der
schon als Gelehrter sich lieber in der geschichtlichen
Welt bewegte, während Goethe die Versenkung in
die Gebilde der Natur bevorzugte.
Als sich Goethe und Schiller am denkwürdigen
7. Dezember 1788 im Lengefeldschen Hause zum
erstenmal begegneten, blieb es kühl zwischen ihnen.
Goethe sah in Schiller den Verfasser der ihm höchst
unsympathischen, weil revolutionär gesinnten
„Räuber". Aber auch Schiller war von wider-
streitenden Gefühlen für den um elf Jahre Alteren
und Berühmteren erfüllt. Es dauerte sechs Jahre,
bis der Zufall sie an einem Abend in Jena ge-
legentlich einer Versammlung der naturforschen-
den Gesellschaft einander näherbrachte. Auf dem
Heimgange erzählte Goethe von seinen natur-
wissenschaftlichen Forschungen. Dieses Gespräch
wurde der äußere Anlaß für den bedeutungsvollen
Brief, den Schiller am 23. August 1794 an Goethe
richtete, zugleich der Beginn einer zehnjährigen
Freundschaft beider „Dichterfürsten". (Schiller
zählte damas 35, Goethe 45 Jahre.)
Schiller rühmte in jenem ersten Schreiben
Goethes „beobachtenden Blick, der so still und
rein auf den Dingen ruht". Goethe selbst bekannte
einmal von sich: „Ich bin als ein beschauender
Mensch ein Stockrealist, so daß ich von allen den
Dingen, die sich mir darstellen, nichts davon und
nichts dazu zu wünschen imstande bin". Diesem
Selbstzeugnis Goethes entsprach die Charakteristik,
mit der Schiller auf die Verschiedenheit seiner
und Goethes geistiger Anlage hindeutete: „Ihr
Geist wirkt in einem außerordentlichen Grade in-
tuitiv. Mein Verstand wirkt eigentlich mehr sym-
bolisierend, und so schwebe ich als eine Zwitterart
zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen
der Regel und der Empfindung, zwischen dem
technischen Kopf und dem Genie." Dies sei es,
bekennt Schiller weiter, was ihm, besonders in
früheren Jahren, sowohl auf dem Felde der
Spekulation als der Dichtkunst ein ziemlich
„linkisches" Ansehen gegeben habe; denn gewöhn-
lich habe ihn der Poet übereilt, wo er philoso-
phieren sollte, und der philosophische Geist, wo er
dichten wollte. Noch jetzt begegne es ihm häufig
genug, daß die Einbildungskraft seine Abstrak-
tionen und der kalte Verstand seine Dichtung störe.
Beiden geistigen Kräften — Anschauung und Be-
griff — ihre Grenzen setzen zu lernen, dies war
das erhoffte „schöne Los", welches Schiller in zehn-
jähriger Freundschaft mit Goethe (1794—1804) er-

mehr Naturlaut, eine Stimme des Schmerzes,
der kunstlos und vergleichungsweise auch formlos
ist; es ist zu subjektiv wahr, um als eigentliche
Poesie beurteilt werden zu können; denn das
Individuum ..Q
leichtert sich von einer Last". Schiller strebt da-
nach, alles bloß Individuelle, Zufällige, Gegen-
wärtige ins Allgemeine, Bleibende, Ewige zu er-
heben. „Nur durch das, was wir ihr leihen, reizt
und entzückt uns die Natur", schrieb er 1788 in
seinem ersten Brief an Charlotte von Lengefeld,
seine spätere Gattin. Er neigte dazu, die Natur im
Lichte von Ideen, im Sinnlichen das Abbild eines
Übersinnlichen zu sehen. Schon der Knabe liebte
es (wie seine Schwester erzählt), zu „predigen".
Die Neigung zu moralischer Bewertung ist in
Schiller stets lebendig geblieben. Sein edelstes
Pathos nimmt Partei; es gehört dem „Guten",
sein Abscheu dem Bösen. Mit dem ganzen Feuer
seiner Begeisterung stellt er sich und seine Helden
in den Dienst der sittlichen Weltordnung. Franz
Moor, der diese leugnet, geht unter, Karl Moor
beugt sich schließlich vor ihr. Das ist typisch für
den ganzen Schiller.

Sinn und Widersinn


-er Groteske

Von
Hansgeorg Maier

Es könnte geradezu als erster Wesenszug der
Groteske erscheinen, daß die Entstehung dieses
Wortes über seinen lieferen Gehalt viel weni-
ger aussagt, als wir gemeinhin bei anderen
Spracherscheinungen gewöhnt sind. Denn die
Renaissance hielt sich bei der Bezeichnung der
antiken Wandverzierungen, die sie
vornehmlich in unterirdischen Grab-
gewölben überliefert fand, einfach an den
Fundort, die „gvotüa", und nannte ihretwegen
ein solches Arabesken- und Ranken-Ornament mit
seinem Fruchtwerk, seinen Putten, Fabelwesen,
Masken und Trophäen eine „^rottesea". Für
unsere heutige Vorstellung aber ist die Groteske
längst keine Einzelheit der bildenden Künste
mehr, sondern die besondere Ausdrucksart eines
Weltgefühls, welche sich im weiten Bereich aller
künstlerischen Gestaltungsweisen vorfindet. Daher
haben wir den strengen Wortsinn aufgegeben und
sehen bei der Verwendung des Wortes „grotesk"
nur noch auf den übertragenen Inhalt jener erst-
mals in der Antike auftretenden Schmuckverzie-
rungen: das Fabelhafte, Phantastische, Inkommen-
surable, eben das, was wir als grotesk empfinden.
Die Wörterbücher sprechen bei ihren Erklä-
rungen auch vom Wunderlichen, Seltsamen, Ver-
zerrten. Sie nennen grotesk gewisse unnatürliche,
vielleicht auch karikaturistische Bewegungen beim
Tanz, gewisse an sich schwerlich zu erwartende Ton-
und Klangfolgen in der Musik, oder aus Pflanz-
lichen, tierischen und erfundenen Formen be-
stehende Verzierungen an Werken der Baukunst,
gewisse Bilder, gewisse merkwürdige, oft halb und
halb anziehende und abstoßende Dichtungen. Lesen

wir dergleichen Erklärungen, befriedigt uns keine.
Rein verstandesmäßige Umgrenzungen reichen
nicht aus.
Nun liegt allen bisher angedeuteten Erschei-
nungen ein und dasselbe Welt- und Lebensgefühl
zugrunde. Dieses gilt es wahrzunehmen. Da die
Groteske in diesem Verstände seit vielen Jahr-
hunderten an verschiedensten Stellen ans Licht ge-
treten ist, liegt der Schluß nahe, sie entspringe
einer noch näher zu bestimmenden, stets wieder-
kehrenden menschlichen Situation. Von ihrer Er-
kenntnis aus wird sich dann ermessen lassen, welche
Bedeutung dem Grotesken für den geistigen und
volksbiologischen Wert eines Kunstwerks zukommt.
Wie weit sich der Begriff des Grotesken fassen
läßt, zeigte mir die Unterhaltung mit einem
Maler, der auch Grünewalds „Jsenheimer Altar"
und „Heiligen Antonius" und die Bilder des
gleichfalls im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts
gestorbenen Hieronymus Bosch als grotesk bezeich-
nete. Die grausame Inbrunst des absoluten
Schmerzes und Leides, wie sie Grünewald gemalt
hat, ist nur ein besonderer Ausdruck der Weltver-
zweiflung, der Sinnlosigkeit des Lebens überhaupt,
deren Empfindung am Ende maßloser Übersteige-
rung steht. Grünewald und Bosch Ovaren in
diesem Sinne, als Bildner jenes bittersten
menschlichen Kampfes mit den Dämonen und allen
Teufeln dazu, für meinen betagten Freund Ge-
stalter des Grotesken. Und ich glaube, auch der
dieser Deutung folgende Hinweis auf die eigen-
tümlich düstere, von grellem Lachen und pfeffrigem
Spott erfüllte Luft, die um Shakespeares Narren
weht, traf das Rechte. Was die Groteske aus-
macht, ist ja eben, daß sie den Jammer nicht
überwindet, daß sie der Ungerechtigkeit freien
Lauf läßt, daß sie sich an der Auflösung aller
Sinngebungen und Werte förmlich berauscht.
Diese Musik mit gleichsam gesprungenen Saiten,
dieser Tanz mit außer sich geratenen Gliedern,
dieses Dichten und Gestalten mit Worten, in denen
bald der Überschwang tobt und tollt, bald der
schwächliche Hohn letzter Resignation zittert, das
Kreischen und Beben besessener Weltangst ... all
das bezeichnet den dunklen Grund, aus dem das
Groteske hervorkeimt.
Nirgends hat eine Groteske bisher einen neuen
Sinn zur Anschauung gebracht (wie sich das etwa
von der Satire sagen ließe!), nie eine Überwin-
dung gestaltet. Sie gibt das Ende, weist jedoch
keinen Ausweg. Sie verzerrt darum endlich die
Gestalten zu Gespenstern, die noch einmal auf-
flackern, ehe sie ihr Blut sinnlos und in mattem
und vergeblichem Rausch dahingeben. Die ver-
löschende Glut eines Totentanzes, eines „danse
nmcmbre" ... das ist letzte Höhe und Tiefe der
Groteske.
Das Bild des Menschen, das aus der Groteske
erwächst und die menschliche Situation darstellt,
welche ihr zugrunde liegt, ist grausig, abstoßend
und erschütternd in einem. Strindberg und
Wedekind ließen es in ihren Dramen erstehen.
Hermann Harry Schmitz zeichnete es mit nervösen
und clownhaften Strichen in seinen Skizzen und
Miniaturen vom dekadenten Vorkriegsbürger.
Ver^nyrerisch aber blinkt ois irrisierenve Ironie,
die über allem Grotesken aufblitzt, sie strömt auf
die Schwachen und Zerbrochenen jenen unwider-
stehlichen Reiz aus, der in allen verwirrten Zeiten
die Überwindung der Groteske verhinderte. Aus
der als tödlich empfundenen und hingenommenen
Sinnlosigkeit des eigenen Seins heraus travestiert

I!<im ^iisbloilnni oder verspäteter
Xustellua» unserer 2eituu» bitten wir
die llexietier, sielr sofort an «len Zu-
steller o<ler uu die LUstäudiAe Xustell-
postaustalt 2U »enden und erst dann,
>veuu dies keinen LrfolA liaden sollte,
uns davon MtteilunA ru inaeiien.

der reine Groteskenschöpfer jedes Gefühl und
jeden Charakter, glossiert, verspottet und wendet er
alles ins Bizarre und Skurrile: man schaue sich
nur Christian Dietrich Grabbes „Scherz, Satire,
Ironie und tiefere Bedeutung" an, um das wahr-
zunehmen !
Grabbe ist der deutsche Klassiker, dessen Leben
und Werk wie das keines gleichwertigen Geistes
Torso und Fragment geblieben sind. Mit der
vollen Bitterkeit solcher Eingeständnisse sich selbst
gegenüber hat dieser Dichter das vor seinem schreck-
lichen Sterben noch erkannt. Schon früh mag er
gefühlt haben, daß er nicht bis zur Bewältigung
des anfklaffenden Risses Vordringen werde und der
tragische Heroismus eines Kleist ihm versagt blei-
ben müsse. Und so zeichnete er sich in seinem
„Lustspiel" als den Häßlichsten der Häßlichen, als
den ungeschlachten Liebhaber Mollfels und ließ
just diesen die allerschönste Liddy gewinnen:
fchaurige Selbstapotheofe des unglücklichen Genies,
über dessen Jugend der Schatten des 'Siechtums
fällt!
Was ist denn nun der Sinn der Groteske?
Vorerst Wohl dies, daß sie durch Gestaltung alle in
ihr enthaltene Sinnauflösung künstlerisch und
geistig bindet. Ein Grünewaldt hat das
Groteske durch die Größe seiner Vitalität und
seines Künstlertums schließlich gesprengt und
überwunden, und wer wollte das gleiche bei
Shakespeare bezweifeln?! Ein Grabbe, ein Wede-
kind, ein Strindberg, ein Christian Günther und
Georg Büchner, sie sind dem Grotesken, möchte
man sagen, erlegen. Allerdings auch darum,
weil sie keine trivialen Hohlgeister und Witzbolde
waren, weil ihr Herz ohne Rückhalt sich einsetzte;
denn mit Abstrufitäten schasst man noch keine
Groteske: was hiermit an die Adresse der Kunst-
und Literaturhandwerker und Ästheten gesagt sei,
deren verdrehte Spielereien so oft widersinniger-
weise als Grotesken ausgegeben werden und doch
bloße Hirngespinste sind.
Das Groteske ist ein Element, welches sich in
sehr vielen Werken findet. Nicht zuletzt, um nur
noch diesen zu erwähnen, bei Knut Hamfun: etwa
im „Letzten Kapital", in den „Weibern am
Brunnen" oder in jener grausig-grotesken Fort-
führung der Edevarda, der Geliebten des einsamen
Leutnants (in „Pan"), in der zu Unrecht fast un-
bekannten Erzäylnng
Groteske auf die Dauer des ganzen Künstlers,
verfällt er dem Pessimismus und der Isolierung,
er zertrümmert den Kosmos und ruft die nega-
tiven Werte als angeblich neue aus: das luziserische
Antlitz der Welt taucht auf. Das Volk aber, die
große Schar und Genieinschaft derer, die ihr Leben


Karl Hofer, Alarm

Photo: Schuch, Berli-
 
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