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Kunst der Nation — 2.1934

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Haftmann, Werner: Zur Vielfältigkeit deutscher Kunst
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Heuer, Alfred: Christian Rohlfs: zum 85. Geburtstag
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Tönnies, Ilse: Zum Begriff der Satire
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Kunst der Nation


Christian Rohlss, Seerosen. 1928

geistert und hochgeschwungen", schreibt er 1906.
Die Mystik der Farben mittelalterlicher Glas-
fenster macht ihn zum Mystiker der Farbe, die
Romantik jener Stadt wandelt ihn zum
Romantiker. Später malt er die süddeutsche Stadt:
Rothenburg, Dinkelsbühl, das kleine Andechs.
1906—-1908 entstehen zahlreiche Stickereien. Wie
Goethe es liebte, „stundenlang" auf die mittels
einer Glaskugel erzeugten Farben des Regenbogens
zu schauen, so wird Rohlfs nicht müde, farbige
Wollfäden durch die Hand rieseln zu lassen. Hatte
PH. O. Runge nur Entwürfe zu Stickereien ge-
zeichnet, so übt Rohlfs die mühsame Arbeit des
Stickens selbst aus und weiß dieser Kunst neue
Werte abzugewinnen.
Und doch verraten die Briefe aus dieser Zeit,
daß Rohlfs die „Sorge und täglichen Jämmerlich-
keiten nicht los" wird, daß seine „Seele von Mel-
tau und Nachtfrösten heimgesucht" werde. Er
klagt: „Die Luft hier ist nüchtern und poesieleer",
er schilt auf das „Böotiertum" in der Kunst. Von
all diesen Sorgen befreite ihn die Einladung eines
süddeutschen Kunstfreundes nach Bayern und
Tirol. Welch eine Überraschung wird man erleben,
wenn einmal der Ertrag dieser Jahre 1910—1912,
etwa 80 Bilder, der Öffentlichkeit zugänglich ge-
macht wird! Man kennt ohne sie das Lebens-
werk dieses Malers nicht. Nicht nur, daß neue
Stoffgebiete (das Hochgebirge) in seinen Gesichts-
kreis treten, es handelt sich um weit Entscheiden-
deres. Rohlfs hat die Schwelle zum 60. Lebens-
jahr überschritten, den dritten, letzten, Kreis seines
Daseins betreten, da die Gespräche mit ihm —
dem Tode — beginnen. Ein neues Weltbild formt
sich. Auch für ihn galt es, die Summe seines
Seins zu ziehen, über Gräber vorwärts den Er-
trag seiner Arbeit zu ernten, seinen Stil zu
formen, seinem Volke Ewiges zu künden. Äußer-
lich wird dieser Einschnitt durch den Wechsel im
Handwerk gekennzeichnet — wie bei Barlach, der
an derselben Grenzscheide vom Arbeiten in Holz
zum Formen in Stein und Bronze übergeht —,
Rohlfs malt in Zukunft nur noch in Tempera;
gleichzeitig entstehen seine ersten Holzschnitte
(1910). Der handwerklichen Meisterschaft, dem
Wissen um die Form gesellt sich ein Wissen um die
letzten Dinge, ein seherisches Schauen. — Unter
gewaltigen Fieberschauern vollzieht sich dieser
Wechsel, aber dann werden langgestaute Kräfte
frei, wie bei Goethe keimt alles wie in einem
neuen Frühling, in dem ungeheure Zeugungskraft
Werk auf Werk schafft. Kein Nachlassen der Kräfte
wird spürbar: welch ein prachtvolles Alter, welch
ein jünglingshafter Greis!
Rohlfs hat sich den Weg in die Ausdruckskraft
erkämpft alles, was er hinfort malt, entstammt
jener geheimnisvollen dionysischen Welt, wie wir
sie einfach nach Nietzsche nennen wollen. Auch sein
Auge wird Weltauge, sein Herz umfaßt alle Dinge:
Baum und Landschaft, Mensch und Tier, Wolke
und Wind sind Gleichnis des Ewigen, Gottes, ihm,
dem Glänzenden, glänzt alles nach.
Und auch die Farbe, jenem gleichen Traumes-
land angehörend, bricht aus innerstem Sein her-
vor, sie scheint nicht mehr auf die Leinwand auf-
__matraaen^'. sZnwie von innen gewachsen, er-
glüht'wie Rembrandts Farbenkosmos. Erd- und
Himmelslebenkunst! Immer gewaltiger werden
seine Vorstellungen: eine mythenbildende Kraft ist
seinen Werken eigen; uralte Vorstellungen unserer
Rässe werden in seinem Krieg wach; in seinen
zahlreichen Blumenstilleben hält ein Dichter Zwie-
sprache mit Blumenseelen.
Vor allem die religiösen Bilder offenbaren den
Gottsucher Rohlfs; sie bilden den eigentlichen
Höhepunkt seines Werkes, in ihnen ist sein
Schaffen selbst Religion geworden. Rohlfs aber
setzt die Reihe niederdeutscher Erzähler fort von
Konrad von Soest, Meister Francke, Rembrandt.
So in seinen Kindern vor der Himmelstür, Elias,
Vertreibung aus dem Paradies, Versuchung
Christi, Gethsemane, im Jüngsten Gericht. 1922
malt er Christus und die Kriegsknechte, wie eine
Fuge gebaut, großartig wie Goethes Altersprosa,
hingewuchtet. 1924 entsteht der sterbende Moses.
Denn das Thema der großen Persönlichkeit, des
Genies begleitet sein Schaffen durch all die Jahre
von Zarathustra und Faust bis zu seinem Selbst-
bildnis, diesem Denkmal seiner selbst. Angesichts
dieses Werkes begreifen wir die Macht der Per-
sönlichkeit und Wie recht Goethe hat, wenn er sagt,
daß es eigentlich die Persönlichkeit eines Menschen
sei, die in die Kultur seines Volkes übergehe. _ So
möge auch unser Volk am 22. XII. dieses Meisters
gedenken, der wie ein Altervater deutscher Kunst
über der Zeit steht, dessen Werken wir jene eigen-
tümliche stille, langsame Wirkung weissagen, die
nach Schopenhauer allen echten Schöpfungen
bleibt. Heuer (bllmsborn)

Zur Vielfältigkeit
deutscher Kunst
(Fortsetzung von Seite 1)
Mit dieser Feststellung können wir uns nicht
begnügen, die Frage wird sein müssen, wieweit
man etwa ganz allgemein doch Zeiten gedanklich
zusammensehen kann, aber nicht voraussetzend oder
fordernd, sondern erfahrend. Dann kann diese
Möglichkeit für uns nicht historisch sein, als zeit-
liches Faktum, sie muß Phänomenologisch, d. h. von
den Erscheinungsformen der Kunst ausgehend, sein.
Von hier aus ist es dann leicht, die für uns
Deutsche eigentümliche Form der Zeitgestaltung zu
erkennen. Diese Form ist die einer bestimmten,
durch alle Zeiten verfolgbaren Antithese, die uns
nach ihr die Phänomene zu ordnen erlaubt. Es
ist die Antithese der klaren Form
und der expressiven Form. Zwischen
diesen beiden Formen liegen die inneren Ausein-
andersetzungen jeder Zeit, die der deutsche Geist
zu bewältigen hatte. Notwendige Doppelspiele
deutschen Formwillens sind diese beiden Elemente.
Jede Zeit, die der Deutsche gestaltete, wird diese
beiden Elemente zeigen, die man nicht negativ als
trennende Elemente, sondern bejahend als
Elemente der Bereicherung nehmen muß. Nach
diesen beiden geistigen Grundaxiomen dürfen wir
auch nur geschichtlich die Daten des deutschen
Willens werten, die uns in seiner Kunst und in
seinem Denken erhalten sind. Erst so umfassen wir
die geschichtliche Tatsache des Nebeneinanderwirkens
von Dürer und Grünewald, von der wir vorhin
beispielhaft sprachen, in ihrer ganzen Spannweite.
Aber nun zurück zur Moderne, von der wir
ausgingen. Sie soll uns als Beispiel dienen, und
indem sie uns Beispiel ist, wird sie selbst ihre
„chaotische Haltung" rechtfertigen.
Die moderne Klassizität, die von Marees auf
der deutschen und von Cezanne auf der fran-
zösischen Seite ausging, verkörpert für uns das
geschichtliche Motiv der „klaren Form". Diese

Klassizität wurde von Hildebrandt und Fiedler
theoretisch unterbaut, wurde damit zu einer Kate-
gorie unserer Ästhetik, soweit sie modern war.
Diese also formal und geistig vorhandene
Klassizität konnte als historische Komponente, als
vorgeprägte Komponente in die Formabsicht der
Moderne eingehen. Sie war das allenthalben
spürbare Gleichgewicht gegen die ausgreifende
Formphantasie des hohen Expressionismus und

setzte sich selbst in einzelnen, äußerlich durchaus
einheitlichen Bestrebungen und Schulen unver-
kennbar durch. Es genüge ein Beispiel: Die
„Brücke", deren Auftreten so geschlossen und voll
war, umfaßte doch gleichzeitig zwei Malabsichten,
die sich uns in zwei Namen verkörpern, in
Kirchner und Otto Mueller. Kirchner lieferte zu-
mal in seinen Holzschnitten Beispiele unerhörtester
Formphantasie, Füllen von expressiv gestalteten
Vorstellungen, die sich ganz nah den Endleistungen
der deutschen Gotik
verbanden. Er lebte aus
ganz unmittelbaren Ex-
pressionen seines so sebr
vitalen Formwillens.
Ganz anders Otto
Mueller, den man schon
längst in der Brücke-
hierarchie neben Kirchner
stellen müßte. Otto
Mueller lebte aus dem
Maß und aus der Zahl,
aus der Struktur und
dem inneren Gehalt. Er
ließ seine Schüler nie an-
ders dem lebenden Modell
gegenübertreten als mit
dem Bewußtsein des zu
ergründenden Propor-
tionsgesetzes. So war es
dann natürlich, daß er
seinen Schülern nicht die
deutsche Spätgotik zum
Vorbild gab, sondern die
klassischen Meister Dürer
und Holbein und ihr
Verhältnis zu Maß und
Zahl. So lebt also selbst
innerhalb eines Gruppen-
wollens diese Form der
Gegensätzlichkeit, die wir
für das gesamte deutsche
Kunstwollen in Anspruch
nehmen.
Unsere heutige, ganz
gegenwärtige Moderne
läßt uns diese Zweitei-
lung in aller Schärfe er-
kennen. Nicht daß wir
die neuerdachte sachliche
Romantik zum Maß der
heutigen Klassizität neh-
men, die strukturellen
Elemente der Klassizität
finden sich nicht da, sie fin-
den sich in aller Reinheit
aber bei Hofer und seinem Kreis: Stabilität und
Sicherheit des Bildgefüges, überlegene und über-
legende Knappheit der Form, Einfachheit und
Größe der Empfindung. Von hier aus ist es denn
auch möglich, zum großen und gestalteten Wand-
bild zu "kommen, zu dem die Gruppe um Hofer
(ich denke an Nagel) voller Zielstrebigkeit kommt.
Die Bildhauerei geht diesen „klassischen Weg" in
aller Bewußtheit. Marcks und der Berliner Bild-
hauer Kasper scheuen sich nicht, direkt auf die
archaische Antike zu deuten, finden so den Weg zur
großen klassischen Form ohne Umweg.
Die expressive Form der Moderne, die von van
Gogh und von Munch sicher bestimmt wurde,
braucht heute nicht mehr im einzelnen bezeichnet
zu werden, sie ist uns allen gegenwärtig, fast
scheint es zu gegenwärtig, so daß sie uns das
Klassische unserer Epoche schwerer erkennbar macht.
Der große Vertreter dieser erregten und leiden-
schaftlichen Form ist Nolde, in ihm faßt sich all
das mystische und leidvoll erregte dieser brennen-
den Zeit in seiner Weise noch einmal ganz voll
zusammen.
Wir wollen uns mit so knappen Hinweisen be-
gnügen. Sehen wir Hofer und Nolde so gegen-
sätzlich, fassen wir auch gleichzeitig die Spannweite
unserer künstlerischen Zeit. Und runden damit,
und das ist der Sinn der Darlegung, das Bild
doch einheitlich, insofern als wir diese Gegen-
sätzlichkeit als Sinn deutscher Formabsicht er-
kennen, was uns im Beispiel von Dürer und
Grünewald doch so leicht eingehen kann. So
kommt unser Gedankenkreis zu solchem Schluß:
Die „Einheitlichkeit" einer geschichtlichen Zeit ist
eine blasse Fiktion. Zeiten leben aus schöpferischen
Antithesen. Unsere deutsche Antithese ist die der
klaren Form und der expressiven Form, von hier
aus gestaltet sich das deutsche Bild einer Zeit. Von
hier aus lebt auch die moderne deutsche Kunst,
warum sträuben wir uns, zu ihr bedingungslos
ja zu sagen?

Zum Begriff der Satire
Zweifellos hat man sich in vielen Fällen daran
gewöhnt, mit Begriffen zu operieren, von deren
Bedeutung man sich nur eine ungefähre Vor-
stellung macht. Man drückt sich nm die exakte
Beantwortung unter dem fadenscheinigen Vor-
wand herum, daß die Vorstellungen über einen
bestimmten Begriff bei den meisten Menschen schon
irgendwie zusammenträfen. Dieses „irgendwie"
ist aber ein völlig unbrauchbarer Faktor für eine
Definition.
Soll eine Kunstgattung definiert werden, so
muß nach ihrem Gehalt und nach ihrem Ausdruck
gefragt werden. Nur eine klare Vorstellung vom
Begriff der Satire gibt die Möglichkeit zur
Entscheidung, ob es sich im einzelnen Fall um eine
Satire handelt oder nicht. In der Gerichtspraxis
beispielsweise ist die Besinnung auf den Begriff
der Satire schon oft von Bedeutung geworden,
wenn es sich um das Verbot eines Kunstwerks
handelte.
Was bedeutet „Satire"? Satirei st Kritik
an unrichtigem Wollen. Das ist der Ge-
halt der Satire. Die Satire kritisiert somit das
Nichtseinsollende. Damit schaltet eine Satire auf
Vorgänge der Natur begrifflich aus. Es soll da-
mit natürlich nicht gesagt sein, daß sich die Satire
zur Gestaltung eines bestimmten Gehalts nicht der
Bilder aus dem Reiche der Natur bedienen könne.
Die Satire kann sich alle Gebiete des mensch-
lichen Lebens zu eigen machen. Sie wendet sich
gegen Mißstände in der Kirche, im Staat, in der
Politik, im Recht, in der Schule usw.; sie kann
sich aber auch gegen einzelne Personen richten.
Hier wird man an die „Dunkelmännerbriefe"
denken, vielleicht die großartigste deutsche Satire
überhaupt, oder an die Satiren Fischarts, die
Satire „Gorgoneum caput" beispielsweise, die
gegen die Mißstände der Kirche gerichtet ist. Der
Papst wird als schachernder Krämer dargestellt,
der, um seinen Beutel zu füllen, alles feilhält:
„Gesegnet Wasser, Brot und Wein, Salz, Schnur,
Wachs und Totenbein", selbst „Glockenton und
Fegefeuer" kauu man bei ihm erstehen. Ein in
mancher Weise noch treffenderes Beispiel für die
Satire ist der „Don Quichote". In neuerer Zeit
stellt sich uns als Meister der Satire Lichten-
berg vor.
Der Zweck der Satire ist ein ethisch-
pädagogischer. Sie will durch Kritik an un-
richtigen Zuständen den Sinn für das Rechte
wiedererwecken. Der Satire steht das Pasquill
gegenüber, der Angriff aus nur subjektiv-persön-
lichen Gründen. Ihr Motiv ist Rache, ihr Ziel
Verhöhnung. Die Verspottung wird Selbstzweck
statt Mittel zum Zweck.
Die Kritik allein macht noch nicht das Wesen
der Satire aus, denn Kritik kann auf verschiedene
Weise ausgedrückt werden. In der Wissenschaft wird
Kritik geübt, indem man das Urteil fällt: das
ist richtig oder das ist unrichtig. In der Satire
ist das nicht der Fall. Wir waren ausgegangen
von der Satire dem Gehalt nach — diese Frage
ist bereits erörtert worden —, es bleibt die Frage
nach der Gestalt der Satire. Das ästhetische
Mittel der Satire ist die Über-
treibung. Die Satire ist eine einge-
kleidete Kritik. Was aber heißt Übertreibung?
Die Übertreibung bedeutet eine quantitative Ver-
schiebung von Vorgängen. Dasselbe gilt für die
Satire in der darstellenden Kunst, für die noch
kein Passendes Wort geprägt wurde, denn die
Karikatur, die später noch kurz zu erörtern sein
wird, ist nur eine besondere Art der Satire. Hier-
durch also, d. h. durch das Mittel einer quantita-
tiven Verschiebung von Vorgängen, nicht durch
ein formuliertes wissenschaftliches Urteil wird die
Kritik lebendig gestaltet. Indem Eigenschaften
oder Vorgänge ausgebauscht, übersteigert werden
— das bedeutet ja „quantitative Verschiebung" —
soll die Aufmerksamkeit auf gewisse Mißstände ge-
lenkt werden. Die Übertreibung muß eine ab-
sichtliche sein, eine vom Verfasser gewollte. In den
„Wolken" verspottet Aristophanes das Gebaren
des Sokrates. Hätte Aristophanes den Sokrates
wirklich so gesehen, dann wäre sein Werk keine
Satire, denn Satire ist bewußte Abweichung
von der Wirklichkeit.
Die Satire fällt unter das allgemeine Päda-
gogische Mittel, abstrakte Gedanken durch Beispiele
zu verdeutlichen. Dadurch wendet sich die Satire
an einen größeren Kreis, dem die abstrakte wissen-
schaftliche Kritik z. T. nicht zugänglich ist. Das
Urteil wird in der Satire nicht direkt gegeben,
sondern es wird dem Lesenden bzw. Anschauenden
durch die zur ckeckuctio ack absurdum führende


Christian Rohlfs, Kirchen in Soest


Christian Rohlss, Selbstbildnis. 1918.
 
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