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Kunst der Nation — 2.1934

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Hiebner, Hermann: Ein Sündenregister
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Paul, F.: Zur "neuen Sachlichkeit": oder Ausdruck, Sachlichkeit und Primitivismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.66550#0086

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Kunst der Nation


Bildnis eines Ehepaars. Schwäbisch, 1478. München, Bayrisches Nationalmusenm

Kultur erlitten" habe. Die am lautesten schrien,
hatten sich nie in ihrem Leben um französische
Gotik gekümmert — manche hatten überhaupt den
Namen Reims noch nie nennen hören. Und —
was noch schwerer ins Gewicht fällt — diese
Kunstbeschützer waren die nämlichen Banausen,
die gegen die Vernichtung alter Architektur zu
geschäftlichen Zwecken nie ein Wort des Vorwurfs
gefunden hatten. Die gar nicht ahnten, was die
friedliche Zerstörungsarbeit mit der Spitzhacke im
Laufe der letzten hundert Jahre angerichtet hat:
eine Zerstörung am eigenen Vaterland, ausge-
führt von Männern, die als hundertprozentige
Patrioten eingeschätzt werden wollten.
Dieser Vandalismus ist international. Wir
können unsere eigenen Landsleute, trotz des
Denkmalschutzes, der bei uns früher und gründ-
licher geübt wurde als in Frankreich und England,
nicht davon ausnehmen. Vielmehr wollen wir an
einigen Beispielen zeigen, was bürgerlicher Un-
verstand an den Bauwerken der Vergangenheit
gesündigt hat. Ein besonders tragischer Fall ist
Freiburg im Breisgau. Als eine von Handel
und Industrie wenig berührte Provinzstadt hatte
sie die Fährlichkeiten der Gründerjahre glücklich
vermieden und das Stadtbild bis kurz vor 1900
treulich gehütet. Die durchbrochene Pyramide des
Münsterturms, ein Wunderwerk, weil sie noch in
der besten Zeit der Gotik in einem Zug voll-
'endet woraen isi, veyerrscyie unbestritten drests
Stadtbild. Aber da Packte einen größenwahn-
sinnigen Oberbürgermeister die Bauwut. „Wo
der Turm ist, da ist die Stadt, wo der
Turm nicht ist, da ist das Dorf", sprach er,
ließ den Ballrat Schäfer aus Karlsruhe kommen
und die beiden alten Stadttore romantisch ver-
zieren und erhöhen. Es war derselbe Unglücks-
architekt, der dem Meißner Dom das falsche
Turmpaar aufgesetzt hat. Der erzbischöfliche
Dombaumeister Meckel ließ sich nun auch nicht
lumpen und knallte in die nächste Nachbarschaft
des Münsters ein „Ordinariat", das sich gewaschen
hat. Ein paar weitere Türme und ein Stadt-
theater auf einem Hügel, ein rechter Protzenbau,
und die Silhouette war für alle Zeiten verschan-
delt. Das Münster ist seitdem wie mit Keulen
erschlagen.
In einer andern schönen Gebirgsstadt, in
Goslar, hat sich der Rat umgekehrt durch be-
sondere Sparsamkeit ausgezeichnet. Die Unter-
haltung des romanischen Doms, der dem Kaiser-

dom in Speyer wenig nachgegeben hat, erschien
dell Stadtvätern zu kostspielig, und sie beschlossen
im Jahr des Unheils 1829, das herrliche Gottes-
haus auf Abbruch zu verkaufen, übriggeblieben
ist nur eine winzige Vorhalle. Der Königshof,
der noch älter ist, sollte dann im Jahre 1865 ab-
getragen werden. Er wurde mit knapper Not
gerettet, aber in dell siebziger Jahren gründlich
verrestauriert. Heute steht er, des unmittelbar
dazugehörigen Domes beraubt, niedrig und lang-
gestreckt, am Rande einer Sandwüste, die seine
Verhältnisse vernichtet. Er nennt sich das „Kaiser-
haus". Wir sind damit bei einem besonders
trüben Kapitel angelangt, der „Freilegung". Daß
die mittelalterlichen Meister mit Weisem Bedacht
— siehe Freiburg und Straßburg — ihre Dome,
namentlich an der Chorseite, um die Monumental-
wirkung zu steigern, eng einbauten, begriff man
im 19. Jahrhundert nicht mehr: in Ulm, Magde-
burg und Regensburg hat man sie aus dem orga-
nischen Zusammenhang gelöst und nackt und hilf-
los hingestellt. Das Greulichste in dieser Be-
ziehung ist der Kölner Dom, der wie eine
Torte auf einer viel zu großen Schüssel Prangt
und jeden erschreckt, der ahnungslos die Bahnhof-
halle verläßt. Dieses beziehungslose Nebeneinander
von Bahnhof und Gotteshaus ist das Stimmungs-
loseste und Roheste, was sich denken läßt.
Das Verdammungsurteil erstreckt sich nicht
allein aus kirchliche Bauten, sonoern aus Monu-
mentalarchitektur insgesamt. Dresden hat im
Altmarkt und Neumarkt Prachtbeispiele ge-
schlossener Plätze, die das Altstädter Rathaus, die
Kreuzkirche und Georg Bährs unvergleichliche
Frauenkirche ausgezeichnet zur Geltung bringen.
Wie ist es angesichts solcher Vorbilder möglich
gewesen, den Platz für den äußeren Abschluß des
Zwingers, die katholische Hofkirche und das
Opernhaus, in eine so jämmerliche Wüstenei zu
verwandeln, an deren Rande die drei Monumen-
talgebäude rettungslos auseinanderfallen? Mußte
die große Baugesiunung Augusts des Starken, die
auf der Neustädter Seite mit dem Blockhaus und
der Hauptstraße einen so prachtvollen Brücken-
kopf geschaffen hatte, eine so ohnmächtige Nach-
folgerschaft finden? Mußte diese Triumphstraße,
die mit dem goldenen Aügustdenkmal vor dem
Blockhaus so vielversprechend beginnt, in den
kleinlichen Grünanlagen des Albertplatzes so kläg-
lich versanden? Die Rampische Straße kurz hiuter
dem Neumarkt mit einem Loch aufhören? Die
beiden Paläste des Gra-


Anny Schröder, Utopien. Holzschnitt

sen Brühl l885 und 1900
(noch 1900!) abgerissen
werden, um dem traurig
nüchternen Landtag und
der Kunstakademie Platz
zu machen, die die welt-
berühmte Altstädter Elb-
seite samt der Brühlschen
Terrasse verunzieren?
Lauter Fragen, auf
die mau keiue Antwort
findet. Wenn die Alten
uns so dankenswert vor-
gearbeitet und mit ihren
Terrassenanlagen gezeigt
haben, wie man mit ein-
fachen Mitteln die groß-
artigsteil Wirkungen er-
zielt, haben gewiß diese
Tolpatsche, die sich „Kö-
nigliche Bauräte" nann-
teu, wieder alles gründ-
lich verpfuscht. Wie ab-
scheulich drücken nicht die
Neubauten auf die Brühl-
sche Terrasse! Und wie
noch abscheulicher hebt das
Hoftheater, in halber
Höhe an die stolze Kas-
seler Terrasse, die
„Schöne Aussicht", ge-
klebt, deren Wirkung auf!
Die Allee von uralten
Bäumen, die Kassel mit
Wilhelmshöhe verband,
mußte auf Befehl Wil-
helms II. abrasiert wer-
den. Derselbe Herr Roth,
der die Dresdener Sil-
houette durch seinen
plumpen Rathausturm
verdarb, hatte vorher ein
ähnliches Ungetüm in die

noch empfindlichere Kasseler Silhouette hinein-
gewuchtet. Oh über diese Turmfauatiker, mögen sie
Schäfer oder Roth heißen! Ehrfurchtslose Bar-
baren. Auf Wilhelms II. Konto kommt unter
vielem anderen der Abbruch der schlichten, aber
als steigender Gegensatz zu der Berliner
Schloßkuppel notwendigen Häusergruppe an der
Spree und ihre Ersetzung durch den Begasschen
Tierpark, genannt „Denkmal Wilhelms des
Großen", der Raschdorfsche Dom, der Schinkels
Museum ebenso ruiniert wie Schlüters Schloßbau,
die sinnlose Erhöhung des Sockels an desselben
Schlüters Großen Kurfürsten, mit der Wirkung,
daß die gefesselten Sklaven mit den Beinen in der
Luft baumeln, und das Herausreißen von Lang-
Hansens Charlottenburger Schloßtheater.
In Südwestdeutschland, wo der fränkische und
schwäbische Barock Triumphe feierten, haben
unsere lieben „Biedermeiers", die man häufig als
erlesene Kulturträger feiert, wahre Vernichtungs-
feldzüge geführt gegen diesen Stil. In Würz-
burg haben sie die schmiedeeiserne Einfassung
des Ehrenhofes abgerissen und als Alteisen ver-
kauft. Hinterher kam es den braven Bürgern
dann doch wieder zu nackt vor; also stellten sie
einen kleinlichen, schäbigen „Frankoniabrunnen"
vor die Mitte der Fassade. Die Klosterkirche von
Münsterschwarzach, eines der bedeutendsten
Werke desselben Balthasar Neumann, wurde von
1822 an „ohne Grund abgebrochen", wie sich Dehio
vorsichtig ausdrückt. Aus dem Sommerschloß der
Schönborns, Werneck, einer anderen Meister-
schöpfung Neumanns, wurde eine — Kreisirren-
anstalt gemacht und bei der Gelegenheit die ganze
kostbare Inneneinrichtung samt Treppenhaus, die
der Würzburger Residenz nicht viel nachgegeben
haben, herausgerissen. So geschehen unter den
„kunstsinnigen" Wittelsbachern. Das künstlerisch
ebenfalls hochbedeutende Kloster Ebrach im
Frankenwald wurde in ein Zuchthaus verwandelt,
ebenso das kurhessische
Sommerschloß Wa bern.
Der ebenfalls „kunst-
sinnige" Friedrich Wil-
helm IV. von Preußen
ließ einen Flügel des Ba-
rockschlosses in Trier
abbrechen, um die Reste
einer römischen Basilika,
in die es hineingebaut ist,
sreizulegen. Später
wurde der französische
Park abgeholzt und in
einen Exerzierplatz ver-
wandelt: die „Palast-
kaserne" war fertig. Die
Könige von Württemberg
ließen das Stuttgar-
ter „Lusthaus" vom
Ende des 16. Jahrhun-
derts, einen der besten
Renaissancebauten auf
deutschem Boden, und die
gesamte Rokokoausstat-
tung des Ludwigs-
V r, LI c>. DchWsstS Ver-
nichten. Die Verwand-
lung des Oranien-
burger Schlosses in der
Mark in eine Schwefel-
säurefabrik uuter Fried-
rich Wilhelm III. darf
ebenfalls als ein Genie-
stück bezeichnet werden.
Nichts war diesen Ba-
nausen heilig, denen Ka-
sernen, Fabriken, Zucht-
häuser und Irrenhäuser
mehr am Herzen lagen
als Kirchen und Paläste.
Wenn sie sich aber doch
für ein altes Bauwerk
interessierten und es „re-
staurieren" ließen, wurde
die Sache womöglich uoch
ärger. Das Heidel-
berger Schloß, nachdem es durch die freche
Nachbarschaft unzähliger Protzenvillen und eines
Hotelkastens aufs empfindlichste beeinträchtigt wor-
den war, sollte kurz nach 1900 ganz wiederherge-
stellt werden. Das Kostpröbchen, das der berüch-
tigte Karl Schäfer mit dem srischlackierten
„Friedrichsbau" gab, genügte zur Abschreckung.
Jetzt präsentiert es sich höchst eigenartig als Halb-
ruine. Wie die Freiburger Stadttore: weder alt
noch neu.
Hoffentlich kehrt diese Barbarei nie, nie
wieder ... HarrnaunHiabar

Zur „Neuen Sachlichkeit"
oder
^u8tlruelL, >^nolilillil<oit mn! kriimtivismug
Nach so vielen Wandlungen der Ausdrucks-
formen scheint unsere Kunstentwicklung sich in
einem Zustand der Beruhigung zu gefallen;
vielleicht kann man sagen: zu erholeu. Der Wechsel
der Formgesiunung war seit dem Neoimpressionis-
mus und dem Auftreten von Munch und van
Gogh in einem so starken Tempo vor sich ge-
gangen, daß dem Genius eine Atempause dringend
erwünscht schien.
Wir sind also vor mehr als einem Jahrzehnt
bei der sogenannten Sachlichkeit vor Anker ge-
gangen. Ab und zu wurde der Friede freilich
durch Kriegsgeschrei unterbrochen; die bedeu-
tendste oppositionelle Regung ging bisher von den
Künstlern eines sehr durchgeistigten „malerischen
Barocks" aus, von dem Wohl einmal ein Anstoß
zu maßgeblich Neuem ausgehen könnte; ich nenne
z. B. Kriegel und Werner Scholz. Aber der An-
laß zu einer so grundstürzenden Reform scheint
noch nicht gekommen zu sein. Es ist überhaupt
sehr schwer, heute einen Zusammenhang von ge-
schichtlichen Motiven und reinmalerischem Aus-
druck zu finden (wie das z. B. zwischen Gegen-
reformation und Barockmalerei so glücklich und

fruchtbar zu vollziehen ist); wenigstens aus deut-
schem Kulturgebiet. Unsere großen spezifischen
Maler wie Grünewald, Menzel oder Leibl, stehen
immer etwas isoliert im Volksgeschehen. Darum
muß man sich heute um so strenger an die vor-
herrschende Richtung halten als an den Ausdruck
unseres volksmäßigen Empfindens.
Die „neue Sachlichkeit" begann als ein ent-
schiedener Protest gegen das Gefühlschaotische der
Ausdruckskunst, zur Zeit des Kriegsausgangs.
Die Malerei der Heckel, Nolde oder Beck-
mann war künstlerischer Niederschlag der Welt-
untergangsstimmung vor dem Kriege gewesen,
und sehr geklärter, formalgebändigter Abglanz
des Chaos, in das die Zivilisation von 1900 un-
aufhaltsam hineinstürzte. Kunst ist nicht als
Kritik, sondern als objektives Spiegelbild mensch-
lichen Geschehens und Wollens zu nehmen: also
sind Noldes und der andern Bilder nicht etwa
selber chaotisch, sondern durchaus formvolle und
oft so bedeutende Kunstwerke, daß sie an die
größten Zeiten deutscher Kunst heranreichen; nur
der geistige Urgrund, aus dem sie erwuchsen, das
Wollen der Zeit, das sie unbewußt und notwen-
dig spiegeln, grenzt an das Nichts. Dieser Unter-
schied zwischen Darstellung und Dargestelltem
wird nur zu oft und gern übersehen.
Es war kein moralischer Protest, den die
Maler der neuen Sachlichkeit gegen diesen Ex-
pressionismus erhoben, sondern ein gewandeltes
Gefühl, das ihnen von Grund aus andere Form
und Einstellung zur Welt diktierte. Das Chaos
war nun allerdings nach dem Weltkriege keines-
wegs einer strahlenden Ordnung gewichen. Aber
die jüngeren und witterungsfähigen Künstler
spürten die neue Luft und die andersartige
geistige Einstellung zur Welt, die laugsam ein-
setzte. Mit dem Gefühlsausbruch angesichts der
Weltverderbnis war es nicht mehr getan. Zu-
nächst freilich setzte eine hanebüchene Kritik an

allen Zuständen unseres Europa ein, eine wilde
Negation aller liebgewordenen Vorstellungen und
Werte wurde gemalt und gezeichnet. Schon darin
gab sich eine grundsätzliche Änderung des Wollens
gegenüber dem mehr auf mittelbare und formale
Symbolik ausgehenden Expressionismus zu er-
kennen: man Packte den Stier bei den Hörnern
und gab den Inhalt mit allerschärfster Deutlich-
keit der Details. Eine so krasse Betonung des
Gegenstandes war seit den Zeiten der Genre-
maler im 19. Jahrhundert nicht mehr dagewesen:
sie wirkte aufreizend schon durch die ganz unge-
wohnte Nacktheit ihrer Form und konnte in der
Tat, nach so vielen Irrfahrten reiner Formerleb-
nisse nur durch eine äußerste Hervorkehrung in-
haltlich-aggressiver Ideen neu erzeugt werden.
Erst die krasse Gesellschaftskritik um 1920, erst
der Hohn von Karikaturisten war imstande, gegen
die üppige und hemmungslos scheinende Fort-
zeugung reiner Formkunst den bitteren Ernst der
Sachlichkeit zu setzen.
Sehen wir ab von der Gesinnung und Absicht
jener Wildlinge der Gesellschaftskritik, die Psycho-
logisch freilich notwendig war, um einen ganz
unerwarteten Anstoß zu ueuer Formbildung zu
geben: was nach ihrer heftigen, aber kurzen Re-
volte blieb, diese neue Formanschauung, ist Grund-
lage heutiger Kuust geworden. Das Friedfertige
ihres länger dauernden Zustandes darf nicht über
die Spannungsmöglichkeiten der errungenen Form
Hinwegtäuschen. Es handelt sich nicht um die
Stagnation einer neuen Biedermeierkunst, wie
es für oberflächliche Betrachter manchmal aus-
sehen mag. Das Durchdringende und die Prä-
zision der Formen, mit denen der Natur in den
Bildern der „Sachlichen" nachgegangen wird, hat
wenig zu tun mit der satten Zufriedenheit, die
uns aus den Bildchen der Biedermeier vor
100 Jahren anstrahlt. Dieser Naturalismus ist
uicht identisch mit dem Optimismus jener behag-
lichen Bürgerkultur von damals. Die Schärfe,
mit der unsere Künstler den Dingen der Wirk-
lichkeit nachgehen, ist erfüllt von der Bitterkeit
des Wissenden; nur wer mit diesem Adlerblick
über die Erde sieht, kann sie durchschauen.

Kops eines jugendlichen Heiligen. Ulm, um 1498. Stuttgart, Museum
 
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