Kunst der Nation
3
Geographie
und unsere bewußte Kunstsituatwn
Abhandlung zur Fra
Die Sachverhalte der Geographie sind unsere
überpersönlichen Schicksalsbestimmungen. Per-
sonen und Formen, Leistungen und Triebe, Wille
und Bedingtheit gebären und entwickeln sich aus
den Schichten des Ilberpersönlichen, aus Schichten,
die persönlicher Korrektur und persönlichem So-
und Anderswollen nicht mehr unterstehen, weil
sie bereits vor dem Bewußtwerden der Person als
ge des W e st - O st l i ch e n
vor sie denkend gefällt werden. So formen wir
fragend die Antithese West und Ost und messen
an unserer heutigen deutschen Kunst die Gewich-
tigkeit des einen oder anderen Teils.
Indessen wollen wir, um nicht die Tragweite
dieser Entscheidungen zu übersehen, historisch ge-
nug sein, um den gesamten Komplex abendländi-
scher Gestaltung in seinen Einzelphasen so zu
Edvard Munch, Dorfstrabe Photo Fr. Rompcl, Hamburg
Ausstellung „Das Bild der Landschaft", Kunsthallc Hamburg
irreale und allgemeine Werte bestanden. Das Ge-
schick formt sich aus dem Willeu des Geistes.
'Aber auch hiuter dem Geist steht bestimmend die
schicksalhafte Sendung, die ihm emgelagert ist vom
Blut und vom Rau m. Vom Raum als geistiger
Schicksalsbestimmung soll jetzt geredet werden.
Die Zwischenformen des deutschen Geistes, der
als zentraler Maßstab den Kern unserer inneren
Haltung ausmacht, sind seine Ausweichungen im
in,dl soino Znnkckgnngssn und
Auseinandersetzungen in seiner Substanz mil den
seclischen Grundhaltungen des Westlichen und des
Östlichen. Diese Zwischenformen erklären aber
gleichzeitig seine Substanz vom Raume her. Die
östlich verschobene Lage gegenüber dem Zentral-
punkt des allgemein eingängigen Begriffs
Europa, zu dem selbst Weißrußland in der Vor-
stellung nicht mehr recht gehört, hat einen ge-
schichtlichen und kulturellen deutschen Sinn,
aber auch einen europäischen und einen östlichen.
Diese Dreiheit bestimmt, so folgern wir abstrakt
und wissen es geschichtlich, Sinn und Aufgabe des
deutschen Geistes. Die Entscheidung für die
deutsche Geistesautonomie oder für den euro-
päischen Verband oder für die östliche Sendung
ist die Formel unseres geschichtlichen Verhaltens
in jeglichem Bezug. Die Frage der Wertung
dieser Verhaltungsweisen kann objektiv nie ent-
schieden werden, da diese Fragezone das Form-
problem unseres Geistes selbst ist, an ihrer Be-
antwortung sich der geschichtliche Fluß immer neu
und anders erprobt und demnach auch anders und
immer subjektiv wertet.
durchdenken. — Der Einsatz der abendländischen
Kunst baut über den zwei autonomen Grund-
faktoren, der Antike und den nationalen Formen,
eine Sonderform, die beide überwölbend und ein-
schließend einen dritten und allerwichtigsten Fak-
tor erstmalig und neu in Rechnung stellt, das
Östliche als Geist, als Seele und als Form. Als
Geist war es das noch nicht nationalisierte
Christentum, als Seele war es die Form kollek-
tiven, ganz und gar östlichen Gemeinscimk"its--
denkenL in Hirrbrcit^ng unrcr die religiöse <§0ee,
und als Form war es der Kunstbegriff des By-
zantinischen: kurz die Entscheidung fiel abendlän-
disch erstmalig auf das Östliche. Die historische
Aufgabe lag niemals so klar wie damals. Sie hieß
in der Folgezeit byzantinisch oder abendländisch
für alle Nationen gleich. Die Tatsache, daß noch
Mitte des 12. Jahrhunderts ein offenbar magde-
burgischer Erzgießer die Türen der Sophien-
kathedrale in Nowgorod fertigte, daß andererseits
die frühmittelalterlichen Chorschranken sich sicher
unter dem Einfluß der byzantinischen Ikonostasen
entwickelten, zeigt beispielhaft die hin und her
gehende gemeinsame Struktur der geistigen Äuße-
rungen des Östlichen und des Abendländischen in-
sofern, als sich das letztere weitgehend mit dem
ersteren gleichsetzte. Aber schon im Anfang des
11. Jahrhunderts, als die Monumentalplastik der
Hildesheimer Arbeiten die Kunst großmächtig Vor-
antrieb, findet sich ein Aufbruch, der nunmehr
autonom, also abendländisch zu nennen ist, der
sich bald schroff und antithetisch gegen das Byzan-
tinische verhält. So ist die Hochromanik schon
ein ganz Primär abendländisches Problem. Aber
indem sie das wurde, doppelte sich das Problem
schon, indem es sich differenzierte. Aus der Ein-
heitlichkeit der romanischen Kunstabsicht sondert
sich eine immer greifbarer werdende westliche
Form ab, die unter stärkster Zuhilfenahme des
Antiken eine ganz eigene westliche Formel erfand,
die in der französischen Kathedralplastik groß und
autonom sich durchsetzte und ihrerseits wieder öst-
lich zurückflutete. Von da ab datiert diese schick-
salhafte Antithese Westlich und Östlich, die für
Deutschland schon durchlebtes, schicksalhaftes
Problem wurde, ein Problem, das wir mit vollem
Recht ein geographisches nennen dürfen, weil es
aus der Voraussetzung des Raumes kommt. Ich
überdenke nun kurz: die Gotik entschied sich nicht
eindeutig. Sie war westlichen Ursprungs, wurde
aber in so viele nationale Besonderheiten gewan-
delt, daß sie für Deutschland bald ein nationales
Kunstverhalten wurde, das in den spätgotischen
Endleistungen des deutschen 15. Jahrhunderts
mächtig und eigenstämmig aufrauschte, eigen-
stämmig aber nicht ganz, denn indem ich das
schreibe, sehe ich überall ein östliches durch, in den
mystischen Gebärden einer ekstatischen Religiosi-
tät, im gesteigerten Pathos fanatischer Leidens-
begriffe, einer fremden Krausheit (ich denke etwa
an das Figurenalphabet des Meisters E. S.), die
irisch zu bestimmen oder nach der Languedoc
(Moissac, Beaulieu) zu verweisen doch nicht be-
friedigt. In diesen Widerstreit diametraler Be-
griffe, des Westlichen, des Autonomen und des
Östlichen, brach kräftig und männlich die Re-
naissance, die das Östliche mit Bewußtsein und
fürs erste einmal ganz zerbrach, aber auch das
Westliche unter ihrem Oberbegriff einheitlich in
Zucht nahm. So war die Renaissance ein wahr-
haft europäisches Ereignis. Die Leugnung dieser
beiden, von der Geographie ausgehenden seelischen
Strukturen erfolgte nicht aus Freiheit und Willen,
sondern wurde notwendig durch die Aufstellung
eines neuen Bedeutungswertes, der jetzt das Be-
wusstem der Persönlichkeit war. Entscheidungen
dieser Art zu fällen war eine Angelegenheit per-
sönlichen Dafürhaltens nicht gewußter Schick-
salsnotwendigkeiten. Von diesem Oberbegriff der
Persönlichkeit wird die ganze Folgezeit der Kunst
durchlebt, mehr oder weniger intensiv, je nach der
Machtbefugnis und inneren Machtmöglichkeit
selbstherrlich gewordener Institutionen. West-
liches und Östliches werden nicht mehr primär
und im weiten Rahmen erfahren, sie sind Spiel-
formen der Gesellschaft, die, wie es im 18. Jahr-
hundert ganz evident zu erkennen, sich westlich
zivilisiert und gleichzeitig — welch staunenswerter
Fall! — Ost-Asiatisches zwar nicht fundamental,
aber auch nicht unernst in ihr künstlerisches Blick-
feld einbaut.
So läßt sich knapp die Wichtigkeit unserer
Fragestellung nach der Bedeutung unseres Ver-
haltens zum Westlichen und Östlichen historisch
zeigen.
Die strukturelle Entwicklung der letzten Jahr-
zehnte bewies einen unendlich bedeutungsvollen
iloiwmch der vom deutschen Geiste ausgekämpft
werden mußte und ihm eine neue Sendung unter-
stellte. Die westlichen Theorien, die das aus-
gehende 19. Jahrhundert fast ganz beherrschten,
in der Kunst das westliche Gebot des Impressio-
nismus als günstig allenthalben durchsetzten,
fanden sich zu einer letzten und ganz großartigen
Straffung zusammen, die die Fundamente der
Kunst völlig neu setzte, indem sie sie zum Anfang
zurückbrachte. Gegen die Natur wurde die Form
stabilisiert. Der größte Malerheros des späten
19. Jahrhunderts, Cezanne, nahm diese Über-
führung vor und wurde damit zu einer
Art europäischen Apostels, war aber selbst
erhabenster Repräsentant westlicher Anschauung.
Von ihm gingen im Westen aus Picasso,
Braque, Juan Gris bis hin zu Fer-
nand Leger (während Signac, weniger Seurat
sich aus historischer Notwendigkeit totlaufen
mußten). Wie verhielt sich aber nun der Deutsche?
Den westlichen Anspruch, der mit Courbet, Manet
und den Hochimpressionisten an ihn herantrat,
erfüllte er durchaus. Auch den Anspruch, den Ce-
Eine bewußte Kunsthaltung, die zu erkennen
und immer neu bewußt zu halteu höchste Aufgabe
und Ziel der erkennenden Kritik ist, kann nicht
daran Vorbeigehen (insofern sie nur Sonder-
problem einer umfassenden geistigen Schau ist),
die Bedingungen und Fragen, die der geogra-
phische Raum allein durch seine so oder so geartete
Lage ihr stellte, zu übersehen.
^118 „ONlllllRN Nir^OÖDIL"
„Du rnöellto stell ein trostlos Vereinsamter
llein besseres L^rnbol -wällten können, als den
Ritter rnit Nock nnck Neutel, -wie illn uns Dürer
xe^eiellnet llat, cken ^ellarniscllten Ritter rnit
ckern erzenen, llarten Rlieke, cker seinen
LellreekensweZ-, unbeirrt ckurell seine grausen
Oetällrten unck ckoell llollnunAslos, allein rnit
Roll unck lckunck 2U nellrnen weill."
Unsere heutige Lage drängt zur neuen und
grundsätzlichen Entscheidung, die historische Lei-
stungen und Lösungen nicht mehr zu Rate ziehen
kann, weil die Gefahrenzone sich völlig verschoben
hat, weil über dem Gefüge der europäischen und
damit und sogar zuvörderst deutschen Geistigkeit
riesengroß die Gefahr des Fern-Östlichen aufsteht,
um gegeu deu europäisch stabilisierten Begriff
der Persönlichkeit die kollektive Form der geein-
ten Rassenverbände angreifend zu setzen. Die
wirtschaftliche und gesamtpolitische Gefahr ist un-
geheuerlich; Denken und Kunst werden sich wehren
müssen, nicht mit den Mitteln der Historie, son-
dern mit den Mitteln des Instinkts. Und der
Wertmaßstab des Instinktes einer Nation oder
einer Kultur ist ihre Kunst, die ahnend und gene-
rationsvoraus Entscheidungen vorwegnimmt, be-
E. Heckel, Schneeschmelzen im Erzgeb. Photo Fr. Rompel, Hamburg
Ausstellung „Das Bild der Landschast", Kunsthalle Hamburg
zanne an die europäische Malerei stellte und histo-
risch stellen mußte. Und es ist so groß und ehrend
für uns, daß ein völlig Vereinsamter unseres
Volkes, den historischen Anspruch Cezannes in
den Taten seiner Einsamkeit voll und deutsch vor-
wegnahm, das war Hans von Marees und Kon-
rad Fiedler, sein wundersamer Interpret. In-
dessen blieb sein zeitlicher Wirkungsbereich allzu
klein, denn man suchte die Entscheidung im
Westen. In Wirklichkeit aber fiel sie zwischen
West und Ost synthetisch. Die Kunstbekenntnisse
des Blauen Reiters und der Brücke, denen schon
die Gärungsformen der Worpsweder Genossen-
schaft, aus der unsere große Frau Paula Moder-
sohn herauswuchs, vorangingen, waren ein
schroffes, wenn auch nicht voll bewußtes Nein-
sagen zu den analytischen Malmethoden der neuen
Franzosen. Die nahezu pantheistische Anschauung,
die Marc malend vorschlug, verband ihn Wohl am
ehesten mit van Gogh, der aber selbst so unwest-
lich als möglich im Malen und in metaphysischer
Herbert Earbe
Anschauung war. Hier lag jetzt die Umbruchstelle
einer neuen deutschen Sendung. Die neue Be-
wegung sagte innerlich Nein zum Westen und
orientierte sich — Schicksalsbestimmung der Geo-
graphie — östlich. So unbiegsam gesagt, ist das
allzu rohe Setzung. Selbstverständlich verwandte
auch Marc die Strukturformen westlichen Ma-
lens, aber die innere Form (innere Malabsicht)
löste sich vom westlichen Denken los, indem sie
über die rationale Anschauung eine metaphysisch-
pantheistische setzte. Sie gab also zum Wert des
westlichen Malens einen dem fremden neuen
Wert hinzu, der innerlich deutsch und absichtsvoll
so war. Indem diese eine Absage zum Westen
aber so war, wurde das Östliche nun in einem
ganz neuen Sinne bewußt, dem Westen war man
in der Auseinandersetzung entraten, nun stand
groß und fremd der Osten vor dem deutschen
Künstler und rief zur Auseinandersetzung. Das
Interesse galt nun nicht mehr Jean Fouquet etwa,
sondern dem östlichen Jkonenbild, nicht mehr fran-
zösischem Rokoko, sondern persischer Miniatur oder
Persischem Schattenbild. Von alledem ist im
Blauen Reiter immer wieder zu sehen. In diesem
Sinne wurde jedes Malmittel überprüft und
modifiziert, die Form, die Linie und die Farbe,
die ganz überging zum Glutvollen, Emphatischen
und ganz Transzendenten des östlichen Bauern-
bildes und ausdrucksmäßig in dieselben Bezirke
hineinwuchs, in denen tiefgründig, leidvoll und
empfindlich die Jkonenmadonna verharrte. Die
Empfindung kam so dem Östlichen nahe, ganz
nahe, obwohl und wobei das Westliche noch immer
im Bewußtsein stand. Hier erhob sich jetzt die
Möglichkeit zu einer unendlich schöpferischen
Synthese der Jetztzeit, die der Blaue Reiter aus
sich schon fand, der den Westen als Erfahrung
hinter sich hatte und den Osten als Aufgabe vor
sich sah. Dem Blauen Reiter kam zu Hilfe, daß
Kandinsky und Jawlensky selbst schon auf den
Spuren alt-östlicher Malauffassung waren, so
daß die Auseinandersetzung direkt und persönlich
werden konnte.
So zeigt sich uns das Bild: über dem Funda-
ment der deutschen Eigensorm trug der moderne
Deutsche die neue Aufgabe des Östlichen in den
3
Geographie
und unsere bewußte Kunstsituatwn
Abhandlung zur Fra
Die Sachverhalte der Geographie sind unsere
überpersönlichen Schicksalsbestimmungen. Per-
sonen und Formen, Leistungen und Triebe, Wille
und Bedingtheit gebären und entwickeln sich aus
den Schichten des Ilberpersönlichen, aus Schichten,
die persönlicher Korrektur und persönlichem So-
und Anderswollen nicht mehr unterstehen, weil
sie bereits vor dem Bewußtwerden der Person als
ge des W e st - O st l i ch e n
vor sie denkend gefällt werden. So formen wir
fragend die Antithese West und Ost und messen
an unserer heutigen deutschen Kunst die Gewich-
tigkeit des einen oder anderen Teils.
Indessen wollen wir, um nicht die Tragweite
dieser Entscheidungen zu übersehen, historisch ge-
nug sein, um den gesamten Komplex abendländi-
scher Gestaltung in seinen Einzelphasen so zu
Edvard Munch, Dorfstrabe Photo Fr. Rompcl, Hamburg
Ausstellung „Das Bild der Landschaft", Kunsthallc Hamburg
irreale und allgemeine Werte bestanden. Das Ge-
schick formt sich aus dem Willeu des Geistes.
'Aber auch hiuter dem Geist steht bestimmend die
schicksalhafte Sendung, die ihm emgelagert ist vom
Blut und vom Rau m. Vom Raum als geistiger
Schicksalsbestimmung soll jetzt geredet werden.
Die Zwischenformen des deutschen Geistes, der
als zentraler Maßstab den Kern unserer inneren
Haltung ausmacht, sind seine Ausweichungen im
in,dl soino Znnkckgnngssn und
Auseinandersetzungen in seiner Substanz mil den
seclischen Grundhaltungen des Westlichen und des
Östlichen. Diese Zwischenformen erklären aber
gleichzeitig seine Substanz vom Raume her. Die
östlich verschobene Lage gegenüber dem Zentral-
punkt des allgemein eingängigen Begriffs
Europa, zu dem selbst Weißrußland in der Vor-
stellung nicht mehr recht gehört, hat einen ge-
schichtlichen und kulturellen deutschen Sinn,
aber auch einen europäischen und einen östlichen.
Diese Dreiheit bestimmt, so folgern wir abstrakt
und wissen es geschichtlich, Sinn und Aufgabe des
deutschen Geistes. Die Entscheidung für die
deutsche Geistesautonomie oder für den euro-
päischen Verband oder für die östliche Sendung
ist die Formel unseres geschichtlichen Verhaltens
in jeglichem Bezug. Die Frage der Wertung
dieser Verhaltungsweisen kann objektiv nie ent-
schieden werden, da diese Fragezone das Form-
problem unseres Geistes selbst ist, an ihrer Be-
antwortung sich der geschichtliche Fluß immer neu
und anders erprobt und demnach auch anders und
immer subjektiv wertet.
durchdenken. — Der Einsatz der abendländischen
Kunst baut über den zwei autonomen Grund-
faktoren, der Antike und den nationalen Formen,
eine Sonderform, die beide überwölbend und ein-
schließend einen dritten und allerwichtigsten Fak-
tor erstmalig und neu in Rechnung stellt, das
Östliche als Geist, als Seele und als Form. Als
Geist war es das noch nicht nationalisierte
Christentum, als Seele war es die Form kollek-
tiven, ganz und gar östlichen Gemeinscimk"its--
denkenL in Hirrbrcit^ng unrcr die religiöse <§0ee,
und als Form war es der Kunstbegriff des By-
zantinischen: kurz die Entscheidung fiel abendlän-
disch erstmalig auf das Östliche. Die historische
Aufgabe lag niemals so klar wie damals. Sie hieß
in der Folgezeit byzantinisch oder abendländisch
für alle Nationen gleich. Die Tatsache, daß noch
Mitte des 12. Jahrhunderts ein offenbar magde-
burgischer Erzgießer die Türen der Sophien-
kathedrale in Nowgorod fertigte, daß andererseits
die frühmittelalterlichen Chorschranken sich sicher
unter dem Einfluß der byzantinischen Ikonostasen
entwickelten, zeigt beispielhaft die hin und her
gehende gemeinsame Struktur der geistigen Äuße-
rungen des Östlichen und des Abendländischen in-
sofern, als sich das letztere weitgehend mit dem
ersteren gleichsetzte. Aber schon im Anfang des
11. Jahrhunderts, als die Monumentalplastik der
Hildesheimer Arbeiten die Kunst großmächtig Vor-
antrieb, findet sich ein Aufbruch, der nunmehr
autonom, also abendländisch zu nennen ist, der
sich bald schroff und antithetisch gegen das Byzan-
tinische verhält. So ist die Hochromanik schon
ein ganz Primär abendländisches Problem. Aber
indem sie das wurde, doppelte sich das Problem
schon, indem es sich differenzierte. Aus der Ein-
heitlichkeit der romanischen Kunstabsicht sondert
sich eine immer greifbarer werdende westliche
Form ab, die unter stärkster Zuhilfenahme des
Antiken eine ganz eigene westliche Formel erfand,
die in der französischen Kathedralplastik groß und
autonom sich durchsetzte und ihrerseits wieder öst-
lich zurückflutete. Von da ab datiert diese schick-
salhafte Antithese Westlich und Östlich, die für
Deutschland schon durchlebtes, schicksalhaftes
Problem wurde, ein Problem, das wir mit vollem
Recht ein geographisches nennen dürfen, weil es
aus der Voraussetzung des Raumes kommt. Ich
überdenke nun kurz: die Gotik entschied sich nicht
eindeutig. Sie war westlichen Ursprungs, wurde
aber in so viele nationale Besonderheiten gewan-
delt, daß sie für Deutschland bald ein nationales
Kunstverhalten wurde, das in den spätgotischen
Endleistungen des deutschen 15. Jahrhunderts
mächtig und eigenstämmig aufrauschte, eigen-
stämmig aber nicht ganz, denn indem ich das
schreibe, sehe ich überall ein östliches durch, in den
mystischen Gebärden einer ekstatischen Religiosi-
tät, im gesteigerten Pathos fanatischer Leidens-
begriffe, einer fremden Krausheit (ich denke etwa
an das Figurenalphabet des Meisters E. S.), die
irisch zu bestimmen oder nach der Languedoc
(Moissac, Beaulieu) zu verweisen doch nicht be-
friedigt. In diesen Widerstreit diametraler Be-
griffe, des Westlichen, des Autonomen und des
Östlichen, brach kräftig und männlich die Re-
naissance, die das Östliche mit Bewußtsein und
fürs erste einmal ganz zerbrach, aber auch das
Westliche unter ihrem Oberbegriff einheitlich in
Zucht nahm. So war die Renaissance ein wahr-
haft europäisches Ereignis. Die Leugnung dieser
beiden, von der Geographie ausgehenden seelischen
Strukturen erfolgte nicht aus Freiheit und Willen,
sondern wurde notwendig durch die Aufstellung
eines neuen Bedeutungswertes, der jetzt das Be-
wusstem der Persönlichkeit war. Entscheidungen
dieser Art zu fällen war eine Angelegenheit per-
sönlichen Dafürhaltens nicht gewußter Schick-
salsnotwendigkeiten. Von diesem Oberbegriff der
Persönlichkeit wird die ganze Folgezeit der Kunst
durchlebt, mehr oder weniger intensiv, je nach der
Machtbefugnis und inneren Machtmöglichkeit
selbstherrlich gewordener Institutionen. West-
liches und Östliches werden nicht mehr primär
und im weiten Rahmen erfahren, sie sind Spiel-
formen der Gesellschaft, die, wie es im 18. Jahr-
hundert ganz evident zu erkennen, sich westlich
zivilisiert und gleichzeitig — welch staunenswerter
Fall! — Ost-Asiatisches zwar nicht fundamental,
aber auch nicht unernst in ihr künstlerisches Blick-
feld einbaut.
So läßt sich knapp die Wichtigkeit unserer
Fragestellung nach der Bedeutung unseres Ver-
haltens zum Westlichen und Östlichen historisch
zeigen.
Die strukturelle Entwicklung der letzten Jahr-
zehnte bewies einen unendlich bedeutungsvollen
iloiwmch der vom deutschen Geiste ausgekämpft
werden mußte und ihm eine neue Sendung unter-
stellte. Die westlichen Theorien, die das aus-
gehende 19. Jahrhundert fast ganz beherrschten,
in der Kunst das westliche Gebot des Impressio-
nismus als günstig allenthalben durchsetzten,
fanden sich zu einer letzten und ganz großartigen
Straffung zusammen, die die Fundamente der
Kunst völlig neu setzte, indem sie sie zum Anfang
zurückbrachte. Gegen die Natur wurde die Form
stabilisiert. Der größte Malerheros des späten
19. Jahrhunderts, Cezanne, nahm diese Über-
führung vor und wurde damit zu einer
Art europäischen Apostels, war aber selbst
erhabenster Repräsentant westlicher Anschauung.
Von ihm gingen im Westen aus Picasso,
Braque, Juan Gris bis hin zu Fer-
nand Leger (während Signac, weniger Seurat
sich aus historischer Notwendigkeit totlaufen
mußten). Wie verhielt sich aber nun der Deutsche?
Den westlichen Anspruch, der mit Courbet, Manet
und den Hochimpressionisten an ihn herantrat,
erfüllte er durchaus. Auch den Anspruch, den Ce-
Eine bewußte Kunsthaltung, die zu erkennen
und immer neu bewußt zu halteu höchste Aufgabe
und Ziel der erkennenden Kritik ist, kann nicht
daran Vorbeigehen (insofern sie nur Sonder-
problem einer umfassenden geistigen Schau ist),
die Bedingungen und Fragen, die der geogra-
phische Raum allein durch seine so oder so geartete
Lage ihr stellte, zu übersehen.
^118 „ONlllllRN Nir^OÖDIL"
„Du rnöellto stell ein trostlos Vereinsamter
llein besseres L^rnbol -wällten können, als den
Ritter rnit Nock nnck Neutel, -wie illn uns Dürer
xe^eiellnet llat, cken ^ellarniscllten Ritter rnit
ckern erzenen, llarten Rlieke, cker seinen
LellreekensweZ-, unbeirrt ckurell seine grausen
Oetällrten unck ckoell llollnunAslos, allein rnit
Roll unck lckunck 2U nellrnen weill."
Unsere heutige Lage drängt zur neuen und
grundsätzlichen Entscheidung, die historische Lei-
stungen und Lösungen nicht mehr zu Rate ziehen
kann, weil die Gefahrenzone sich völlig verschoben
hat, weil über dem Gefüge der europäischen und
damit und sogar zuvörderst deutschen Geistigkeit
riesengroß die Gefahr des Fern-Östlichen aufsteht,
um gegeu deu europäisch stabilisierten Begriff
der Persönlichkeit die kollektive Form der geein-
ten Rassenverbände angreifend zu setzen. Die
wirtschaftliche und gesamtpolitische Gefahr ist un-
geheuerlich; Denken und Kunst werden sich wehren
müssen, nicht mit den Mitteln der Historie, son-
dern mit den Mitteln des Instinkts. Und der
Wertmaßstab des Instinktes einer Nation oder
einer Kultur ist ihre Kunst, die ahnend und gene-
rationsvoraus Entscheidungen vorwegnimmt, be-
E. Heckel, Schneeschmelzen im Erzgeb. Photo Fr. Rompel, Hamburg
Ausstellung „Das Bild der Landschast", Kunsthalle Hamburg
zanne an die europäische Malerei stellte und histo-
risch stellen mußte. Und es ist so groß und ehrend
für uns, daß ein völlig Vereinsamter unseres
Volkes, den historischen Anspruch Cezannes in
den Taten seiner Einsamkeit voll und deutsch vor-
wegnahm, das war Hans von Marees und Kon-
rad Fiedler, sein wundersamer Interpret. In-
dessen blieb sein zeitlicher Wirkungsbereich allzu
klein, denn man suchte die Entscheidung im
Westen. In Wirklichkeit aber fiel sie zwischen
West und Ost synthetisch. Die Kunstbekenntnisse
des Blauen Reiters und der Brücke, denen schon
die Gärungsformen der Worpsweder Genossen-
schaft, aus der unsere große Frau Paula Moder-
sohn herauswuchs, vorangingen, waren ein
schroffes, wenn auch nicht voll bewußtes Nein-
sagen zu den analytischen Malmethoden der neuen
Franzosen. Die nahezu pantheistische Anschauung,
die Marc malend vorschlug, verband ihn Wohl am
ehesten mit van Gogh, der aber selbst so unwest-
lich als möglich im Malen und in metaphysischer
Herbert Earbe
Anschauung war. Hier lag jetzt die Umbruchstelle
einer neuen deutschen Sendung. Die neue Be-
wegung sagte innerlich Nein zum Westen und
orientierte sich — Schicksalsbestimmung der Geo-
graphie — östlich. So unbiegsam gesagt, ist das
allzu rohe Setzung. Selbstverständlich verwandte
auch Marc die Strukturformen westlichen Ma-
lens, aber die innere Form (innere Malabsicht)
löste sich vom westlichen Denken los, indem sie
über die rationale Anschauung eine metaphysisch-
pantheistische setzte. Sie gab also zum Wert des
westlichen Malens einen dem fremden neuen
Wert hinzu, der innerlich deutsch und absichtsvoll
so war. Indem diese eine Absage zum Westen
aber so war, wurde das Östliche nun in einem
ganz neuen Sinne bewußt, dem Westen war man
in der Auseinandersetzung entraten, nun stand
groß und fremd der Osten vor dem deutschen
Künstler und rief zur Auseinandersetzung. Das
Interesse galt nun nicht mehr Jean Fouquet etwa,
sondern dem östlichen Jkonenbild, nicht mehr fran-
zösischem Rokoko, sondern persischer Miniatur oder
Persischem Schattenbild. Von alledem ist im
Blauen Reiter immer wieder zu sehen. In diesem
Sinne wurde jedes Malmittel überprüft und
modifiziert, die Form, die Linie und die Farbe,
die ganz überging zum Glutvollen, Emphatischen
und ganz Transzendenten des östlichen Bauern-
bildes und ausdrucksmäßig in dieselben Bezirke
hineinwuchs, in denen tiefgründig, leidvoll und
empfindlich die Jkonenmadonna verharrte. Die
Empfindung kam so dem Östlichen nahe, ganz
nahe, obwohl und wobei das Westliche noch immer
im Bewußtsein stand. Hier erhob sich jetzt die
Möglichkeit zu einer unendlich schöpferischen
Synthese der Jetztzeit, die der Blaue Reiter aus
sich schon fand, der den Westen als Erfahrung
hinter sich hatte und den Osten als Aufgabe vor
sich sah. Dem Blauen Reiter kam zu Hilfe, daß
Kandinsky und Jawlensky selbst schon auf den
Spuren alt-östlicher Malauffassung waren, so
daß die Auseinandersetzung direkt und persönlich
werden konnte.
So zeigt sich uns das Bild: über dem Funda-
ment der deutschen Eigensorm trug der moderne
Deutsche die neue Aufgabe des Östlichen in den