Äunst der Nation
3
Ganz falsch wäre es vollends, die Schlichtheit
und scheinbare geistige Anspruchslosigkeit dieses
„magischen Realismus" mit Primitivität zu ver-
wechseln. Auch dies ist geschehen, und sogar von
seiten geistreicher Menschen. Primitivismus setzt
immer eine Stufe früher Entwicklung der
Menfchenseele voraus. Zweifellos siud die Skulp-
turen afrikanischer Neger und der Südseevölker
.primitiv", weil sie einer frühen Stufe religiöser
Vorstellungen entsprungen sind, sehr einfache Ver-
bindungen von Seele und Gottheit zur Voraus-
setzung haben, denen dann die andeutende Ge-
staltung ihrer Vorstellung von Tabu und Dämon
entspricht. Wegen der Unmittelbarkeit ihrer Form
sind die Skulpturen dieser uns sehr fern stehen-
den Exoten unserem Empfinden nahegekommen.
In Wahrheit haben sie uns nichts zu geben als
ästhetische Anregungen auf der Oberfläche. Und
die Differenz zwischen der seelisch so unergründ-
lichen und subtilen Dynamik unserer neuen Sach-
lichkeit und der manchmal auch haarscharfen Ge-
nauigkeit der Negerplastik ist so abgründig, datz
man diese Dinge überhaupt nicht in einem Atem
nennen sollte. Wir können primitive Kunstwerke
um der herrlichen Einfalt ihrer Form willen
lieben, wie wir Giotto oder ägyptische Skulpturen
lieben; an den Pegel unserer seelischen Angelegen-
heiten, an die geistige Höhe unserer Sachlichkeit
reichen sie nicht heran. R. Ünrll
Archäologie und Politik
Immer wieder ist es für das faschistische Re-
gime in Italien typisch, die-Archäologie in Italien
aus ihrem rein musealen Dasein erlöst zu haben
und sie mit dem gegenwärtigen Leben des ita-
lienischen Volkes in Verbindung zu bringen. Rom
mit seinen Ausgrabungen ist das beste Zeug-
nis dafür; aber hier liegen die Dinge verhält-
nismäßig einfach; man knüpft an das römische
Kaiserreich an und betrachtet das faschistische
Italien als die Fortsetzung des alten Reiches; die
alten Zeugnisse einer Macht werden als die na-
tionalen Besitztümer abgestempelt, die eben die
Vergangenheit der Volksgeschichte darftellen. So
werden die Forums, die Theater, die Tempel
Roms zu Bauwerken des italienischen Volkes und
man erweckt in dem heutigen Italiener das Ge-
fühl, es sei das eigene Volk gewesen, das diese
Großtaten der Baukunst errichtete. Der Zusam-
menhang der Nation wird bis in die Cäsaren-
zeit hinein gespannt. Schwieriger lagen die
Dinge, sobald man irr die vorchristliche Ara hin-
aus stieß. Vom republikanischen Rom ist herz-
lich wenig übriggeblieben. Außerhalb Latiums
aber blieb der politische Eutscheid zu treffen,
welchen Völkerschaften man das Vorfahrenrecht,
sagen wir ruhig die Zugehörigkeit zum italieni-
schen Volke, zngeftehen wollte. Der etruskische
Fall war typisch; man hat lange genug gezögert,
bevor man die -Etrusker mit zu den großen Vor-
fahren rechnete, denn die Kämpfe Roms mit den
etruskischen Völkerschaften stellten ein Hindernis
dar. Aber das Aufgehen des etruskischen Volkes
in der Bevölkerung Italiens schon nur die Zeit
Stellung im Seelenleben des heutigen Italieners
zuweift. Diese Einstellung beweist sich ganz ein-
deutig, sobald es sich um Funde der frühen Jahr-
hunderte in Süditalien handelt. Es ist typisch,
daß am Fuße des Monte Pellegrino in Palermo
karthagische Bauwerke des alten Panormus sicht-
bar aus dem Erdreich hervorragen und niemand,
auch die bestellten Archäologen nicht, an eine
ernste Untersuchung denken. Was das semitische
Phönizien in Süditalien schuf, was die Karthager
und Punier in dem vorchristlichen Jahrtausend
eventuell im Mittelmeer bedeutet haben, das ist
bis zur Stunde ernsthaft, von den Italienern
nicht untersucht worden, man will nicht; man
hat von Rom aus Karthago als die große Fein-
din vernichtet, man hat die feindliche Einstellung
noch heute, und zwar ist es eine ausgesprochen
noch immer aktuelle politische Feindschaft.
Aber wenn schon die karthagische Frage ganz
schläft und man sie nie berührt, so richtet sich
die Spitze, ohne daß man es sagt, bei allen neuen
Ausgrabungen gegen das dorische Griechentum
der Jahrhunderte 700—400 v. Ehr. in Süditalien.
Die feftgefaßte Meinung, Italien sei durch die
Griechen kultiviert und eigentlich erst zu einem
Wachen Leben erweckt worden, wird, ohne daß
man von dieser These direkt spricht, mit allen
Mitteln der heutigen Archäologie bekämpft, und
zwar in der Seele des modernen Italieners. Es
sollen nicht die eingewanderten und kolonisieren-
den Griechen sein, die Süditalien machten; es
sollen vielmehr jene alten und bislang recht
wenig bekannten italienischen Völkerschaften sein,
welche in den Bergen lebten, schließlich im vierten
vorchristlichen Jahrhundert ihre großen Brand-
schatzungen unternahmen, die griechischen Kolonien
zerstörten und teilweise wenigstens die Städte um-
formten. Die große Bedeutung und Öffentlichkeit,
welche man dem Apollon-Fund vom Kap Alice
gab, als einer nichtgriechischen Arbeit, als einem
Heiligtum, dessen Anfänge vielleicht durch die
Dorer gelegt wurden, dessen geistiger Inhalt und
Form aber durch italienische Völkerschaften schon
um 600 vor Christi bestimmt wurde, die Absichten,
in Terracina, d. h. am Monte Circeo, auszu-
graben, obwohl nur wenige Hoffnungen aus
pchere Funde bestehen können (aber es handelt
pa- nur eine nachweislich mchtgriechstcye nukt-
statte wahAcheinlicy sehr yohen Alters, und hier
will malr über das Leben wirklich italienischer
Völker, über das Leben der Vorfahren des heu-
tigen Italieners Ausschlaggebendes erfahren), sind
ebenso bezeichnend dafür, wie die jetzige Behand-
lung Paestums. Wenn man in Europa dell
Namen Paestum ausspricht, so denkt ein jeder
naturgemäß an das dorische Poseidonion mit
seinem herrlichen Tempel. In der politischen
Archäologie des gegenwärtigen Italiens tritt
dieser schönste dorische Tempel aus italienischem
Boden deutlich in den Hintergrund, um einem
Rest Platz zu machen, von dem vorläufig nichts
als das Fundament vorhanden ist. Es handelt
sich auch hier um einen Tempel, den man aus
einem nicht bekannten Grunde den Friedens-
tempel genannt hat. Dieser Tempel ist fraglos
keine griechische, aber auch keine römische Kon-
struktion. Er ist nach den gegenwärtigen Inter-
pretierungen eill Bau der Lukanier, die im
vierten vorchristlichen Jahrhundert das dorische
Poseidonion verbrannten,
Paestum aus ihm mach-
ten und es etwa 100
Jahre lang beherrschten.
Mall steht in diesem Fall
der vorrömischen süd-
italienischen Geschichte vor
einem der ganz seltenen
Fälle, in denen die süd-
italienischen Völkerschaf-
ten (und nicht die mittel-
italienische etruskisch-sabi-
nisch-volskische Gruppe,
welche die Städte am
Golf voll Neapel unter-
jochte), eine griechische
Stadtgründung nicht nur
vernichteten, sondern wei-
ter benutzten. Dieser
Tcmpelrest besteht im
Fundament, das als hoher
Sockel deutlich von der
griechischen Stufenform
abweicht und sich etrus-
kischer Bauart anschließt,
das mit seiner Nordsüd-
richtung der Ostwestrich-
tung der griechischen Tem-
pel zuwiderläuft. Die
Kapitellgestaltung ist ver-
schieden, die Säulenform
war aller Wahrscheinlich-
keit nach verschieden.
Diesen Tempel, von dem
einige Kapitelle übrig-
geblieben sind, und zwar,
weil normannische Er-
Erich Heckel, Bildnis meiner Schwester. Essen, Folkwang-Museum
oberer sie in den salerni-
taner Bauten benutzten,
des Lebens Christi, schließlich die deutlichen soma-
tischen Spuren, welche die Etrusker uoch im heu-
tigen Italien, namentlich in der toskanischen
wird rekonstruiert. Er
wird „Der italische Tempel" genannt. Die
Rekonstruktionsarbeiten sind nicht, wie das
gemeinhin geschieht, eben schlicht und ohne Auf-
Landschaft, hinterlassen haben, gaben den etruski-
schen Forschungen die Stütze, und was heute auch
immer an etruskischen Resten ausgegraben wer-
sehen durch die Wissenschaftler begonnen worden;
sondern der Erziehungsminister, der italienische
Kronprinz und andere wichtige Persönlichkeiten
den kann, das genießt den ersten Platz und die
volle Anerkennung. Wohlbemerkt, es handelt sich
hier nicht um den größeren oder geringeren Ernst,
mit welchem archäologisch-wissenschaftliche Unter-
suchungen auf italienischem Boden geführt wer-
den; dieser Ernst ist überall gleich groß; aber es
handelt sich darum, bis zu welchem Punkt die
Funde ausgenutzt und populär gemacht werden,
bis zu welchem Punkt man sie mit dem heutigen
Leben des italienischen Volkes in Verbindung
bringt, das heißt, die Geschichte des italienischen
Volkes mit ihnen unterbaut, dem künstlerischen
Ausdruck einer fernen Vergangenheit somit eine
sind zur Eröffnung der Arbeiten erschienen; alle
Zeitungen haben große Ausführungen gebracht;
der italische Tempel, den man wiederbaut —
denn so muß man Wohl diese Rekonstruktion aus
einem Fundament und sechs bis acht Kapitellen
bezeichnen —, wird zu einem Denkmal des heuti-
gen Italieners als dem ersten Bauwerke seines
eigenen Volkes. Die Verbindung zum alten
italischen Volk über Rom hinaus und vor allem
unter Ausschaltung des landfremd gebliebenen
Griechentums in Süditalien ist mit dieser Rekon-
struktion gelungen; daher ihre Wichtigkeit in der
Kunstpolitik des Regimes. . 6. R.
D^.8 IRäDBNLIBDML DRR BO(AIKR^I88^6R:
8Bö^8TI^O DBB BIONBO
sis Lsllvsa vis Drvditektur rÜ8 Ls8vLLll2 vsr ksrsöalivklrslt uvä varum dru itirs Us-ts^ei
vkn nrölütkirtouisellsu Oruuv uuä vis araditstztonisoks LsdalläluvA tür vis pi^ur in
sinsiu Nialls Tkt'oräsrt, Vas sis von Vsutsviisr bliuxtiuvung: >vsit abrüeüt." ö11 t' 11 u
Crn ckas llallr 1515, Kur2 naell seiner Übersiecklnnx naell Rorn, sellaRtz cker Venezianer Lo-
bastiano ckel Biornbo ckas Rranonbilcknis, ckrnller 2iercke einer cker grollte Berliner Rrivatzsarnin-
lun^en. Zusammen mit ckem Orbinaten RaRael unck ckem Florentiner lAiellelanAelo wird cker
l^iorckitaliener Lebastiano, xesellult an Bellini unck 6ior§ione, ?um Repräsentanten cker Kursen
Blüte cker römisellen Boellrenaissanee. In -wenigen llallren vollsiellt siell cker ^Vanckel von cker
^eloekerteren. maleriseller erckaBten OestaltunA ckes venesianisellen Rrauenickeals su cker streng
tektonisellen OesetsmäBixkeit unck statuarisellen Rlarlleit, ckie ckas römiselle Bilcknis bestimmt:
ckie trüber Rattael su^esebriebene „Rornarina" cker Ottisien von 1512 unck ckas wenix später ent-
standene Rrauenporträt cker Berliner Oalerie sind ckeutliebe Marksteine dieser BntvckeklunZ-.
IVobl verrät sieb in cker Rüllo ckes maleriseben Vertrags, in ckem sonoren Rarbenklanx unck
ckem üppi§ sxviseben xlänsencke Lebatten eingebetteten Ton ckie venesianisebe Berkuntt niebt
minder als in ckem in abenckliebem (Banse dämmernden Bancksebattsaussebnitt, Erinnerung an
ckie von Ciorgione unck vom jungen Tisian verewigte Terra Rerma. ^.ber ckie Lteigerung ckes
Nallstäblieben, ckie plastiseb-bsstimmte RaBbarkeit cker (Gestalt, ckie repräsentative, in Knappen
Cesten unck wenigen klaren Notiven verankerte Komposition, ckie Binckringliebkeit cker Bewe-
gungsgegensätse unck ckie Verankerung cker Rigur im Raume weisen gleiebseitig aut eine Ltei-
gerung ckes Daseins- unck Bebensgetübls bin, ckie andernorts undenkbar wäre. Rs ist niebt
nur ckie Rrsebeinung vornebmer Rasse, gemisebt mit männlieber Ltrattbeit, niebt nur ckie ideale
Linnliebkeit unck Vollblütigkeit cker Dargestellten, wie sie aus Haltung unck Ausdruck spriebt,
ckie den Rinckruek allein bestimmt: ckie Rigur in ibrer Qesamtbeit, sebaubar autgebaut in ibrer
arebitektoniseben Ltruktur — man beaebte, wie cker Kopt in taBbarer Klarbeit aus den waage-
reebten Komponenten cker Ltirn, cker ^.ugen unck ckes Nunckes unck den senkreebten cker sebart-
gesebnittenen, in Kinn unck Blalslinie sieb tortsetsencken blase gegliedert, wie ckie Borisontalen
cker Tisebkante, ckes (llürtels unck Brustausscbnittes kontrastiert werden ckureb ckie vertikal
autsteigencke Bewegungslinio von Band su Band unck von da su ckem Raupte —, wird sur grollen,
einmaligen Oebärcke. Das IVeib von Rleiseb unck Blut wird über ibre Diesseitigkeit binausge-
boben, wird su einer Lebwester jener Libellen Niebelangelos, s^mbolbatt verwandt cker Rugung
arebitektoniseben Denkens. D.
Awas über Landschastsmalerei
18Ü8>
Der Mensch ist mir tausendfältigem Verlangen und un-
endlichen Begierden ausgestattet und so in eine Welt gesandt
worden, die reich genug sein würde, noch viel mehr zu ge-
währen, als er begehren kann. Jede Glut des Herzens findet
ihren Schatten, jeder Durst seine Welle, jede Sehnsucht ihre
Ferne, und unzählige, heimliche, fest beschirmte Zufluchts-
stätten sind bereitet für die Seele, welche nach Sicherheit und
Ruhe strebt. — Und so werden dann die landschaftlichen For-
men im fortschreitenden Leben dem Eemüte so bedeutend:
die Erinnerung an irgendein schönes Verlangen wird von
jedem Baume, jedem Bergeshangc leise angeregt, jeder Licht-
strahl, der über die Gegend fällt, scheint ein Orakel mit
sich zu führen, und jedes Wolkengewebe ist eine geheimnis-
volle Schrift. Wie verschiedenartig nun auch die einzelnen
Töne sein mögen, die eine reiche Landschaft in der Brust
aufrührt, sie werden doch alle harmonisch verbunden durch
einen immer wiederkehrenden Grundakkord. Überall näm-
lich, wo der Mensch wandelt, ist sein Auge so gestellt, daß
er das himmlische und irdische Element mit einem Blicke auf-
fassen muß: eine Andeutung für die Seele, daß sie allent-
*) Aus: Dr. A. Müller, Die Kunstanschau-
ung der jüngeren Romantik. Deutsche Lite-
ratur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler
in Entwicklungsreihen. Reihe „Romantik", in 24 Bänden
hgg. von Univ.-Prof. Dr. Paul Kluckhohn, Bd. 12. Ver-
lag Philipp Reclam, Leipzig.
halben desgleichen tue. Das, was den Menschen unmittel-
bar umgibt, seine Hütte, die Bäume seines Gartens, alles
dieses erscheint in schroffem Gegensatz fest, deutlich und klar,
neben dem formlosen, flüssigen Äther; nun hebt sich sein
Auge, dah es eine größere Ferne beherrschen kann, und die
Umrisse der irdischen Dinge werden weicher, die Farben
sanfter: Luft und Erde scheinen zusammenzufließen; sie
tauschen auch mit lieblicher Vertraulichkeit ihre Plätze: in den
Wolken scheint die Erde auf die Seite des Himmels her-
überzutreten, in den Seen und Flüssen der Himmel auf die
Seite der Erde — und in der weitesten Weite verlieren sich
die Grenzen, bleichen die Farben ineinander, was dem Him-
mel, was der Erde angehöre, läßt sich nicht mehr sagen. So
erscheint, von den schroffen Klippen der Gegenwart betrachtet,
dem Menschen seine früheste Kindheit: nahe Verwandtschaft
von Himmel und Erde, aber das Gedächtnis jener Tage ein-
farbig und wie verwittert; so muß ihm auch erscheinen,
weil die Ferne den Ursprung und das Ende gleich richtig
abbildet, das künftige einsinkende Alter: kein Ineinander-
stürzen der Elemente, aber eine sanfte Vermählung. — An
diesen Grundakkord nun binden sich alle die einzelnen har-
monischen Gefühle, welche die zerstreuten Teile der Land-
schaft anregen mögen, an diese Weltallegorie unzählige kleine
Allegorien und Träume: ein großer göttlicher Gedanke be-
herrscht und regelt alle die kleinen Vergötterungen, welche
der Mensch mit der umgebenden Natur vorzunehmen liebt. —
Darum ist die Landschaftsmalerei überhaupt mehr allegorischer
als plastischer Natur: sie neigt sich zu den redenden, tönenden
Künsten herüber, und wenn die Bildhauerei die Ewigkeit in
einen Moment zusammendrängt, so stellt die Landschafts-
malerei sie symbolisch in einer Reihe, ich möchte sagen, in
einer Folge von Raummomenten dar.
Es ist nicht nötig, daß der von mir angezeigte Grund-
akkord dem kalten Verstand allemal klar werde; es soll auch
nicht gesagt werden, daß die dämmernden Fernen in der
3
Ganz falsch wäre es vollends, die Schlichtheit
und scheinbare geistige Anspruchslosigkeit dieses
„magischen Realismus" mit Primitivität zu ver-
wechseln. Auch dies ist geschehen, und sogar von
seiten geistreicher Menschen. Primitivismus setzt
immer eine Stufe früher Entwicklung der
Menfchenseele voraus. Zweifellos siud die Skulp-
turen afrikanischer Neger und der Südseevölker
.primitiv", weil sie einer frühen Stufe religiöser
Vorstellungen entsprungen sind, sehr einfache Ver-
bindungen von Seele und Gottheit zur Voraus-
setzung haben, denen dann die andeutende Ge-
staltung ihrer Vorstellung von Tabu und Dämon
entspricht. Wegen der Unmittelbarkeit ihrer Form
sind die Skulpturen dieser uns sehr fern stehen-
den Exoten unserem Empfinden nahegekommen.
In Wahrheit haben sie uns nichts zu geben als
ästhetische Anregungen auf der Oberfläche. Und
die Differenz zwischen der seelisch so unergründ-
lichen und subtilen Dynamik unserer neuen Sach-
lichkeit und der manchmal auch haarscharfen Ge-
nauigkeit der Negerplastik ist so abgründig, datz
man diese Dinge überhaupt nicht in einem Atem
nennen sollte. Wir können primitive Kunstwerke
um der herrlichen Einfalt ihrer Form willen
lieben, wie wir Giotto oder ägyptische Skulpturen
lieben; an den Pegel unserer seelischen Angelegen-
heiten, an die geistige Höhe unserer Sachlichkeit
reichen sie nicht heran. R. Ünrll
Archäologie und Politik
Immer wieder ist es für das faschistische Re-
gime in Italien typisch, die-Archäologie in Italien
aus ihrem rein musealen Dasein erlöst zu haben
und sie mit dem gegenwärtigen Leben des ita-
lienischen Volkes in Verbindung zu bringen. Rom
mit seinen Ausgrabungen ist das beste Zeug-
nis dafür; aber hier liegen die Dinge verhält-
nismäßig einfach; man knüpft an das römische
Kaiserreich an und betrachtet das faschistische
Italien als die Fortsetzung des alten Reiches; die
alten Zeugnisse einer Macht werden als die na-
tionalen Besitztümer abgestempelt, die eben die
Vergangenheit der Volksgeschichte darftellen. So
werden die Forums, die Theater, die Tempel
Roms zu Bauwerken des italienischen Volkes und
man erweckt in dem heutigen Italiener das Ge-
fühl, es sei das eigene Volk gewesen, das diese
Großtaten der Baukunst errichtete. Der Zusam-
menhang der Nation wird bis in die Cäsaren-
zeit hinein gespannt. Schwieriger lagen die
Dinge, sobald man irr die vorchristliche Ara hin-
aus stieß. Vom republikanischen Rom ist herz-
lich wenig übriggeblieben. Außerhalb Latiums
aber blieb der politische Eutscheid zu treffen,
welchen Völkerschaften man das Vorfahrenrecht,
sagen wir ruhig die Zugehörigkeit zum italieni-
schen Volke, zngeftehen wollte. Der etruskische
Fall war typisch; man hat lange genug gezögert,
bevor man die -Etrusker mit zu den großen Vor-
fahren rechnete, denn die Kämpfe Roms mit den
etruskischen Völkerschaften stellten ein Hindernis
dar. Aber das Aufgehen des etruskischen Volkes
in der Bevölkerung Italiens schon nur die Zeit
Stellung im Seelenleben des heutigen Italieners
zuweift. Diese Einstellung beweist sich ganz ein-
deutig, sobald es sich um Funde der frühen Jahr-
hunderte in Süditalien handelt. Es ist typisch,
daß am Fuße des Monte Pellegrino in Palermo
karthagische Bauwerke des alten Panormus sicht-
bar aus dem Erdreich hervorragen und niemand,
auch die bestellten Archäologen nicht, an eine
ernste Untersuchung denken. Was das semitische
Phönizien in Süditalien schuf, was die Karthager
und Punier in dem vorchristlichen Jahrtausend
eventuell im Mittelmeer bedeutet haben, das ist
bis zur Stunde ernsthaft, von den Italienern
nicht untersucht worden, man will nicht; man
hat von Rom aus Karthago als die große Fein-
din vernichtet, man hat die feindliche Einstellung
noch heute, und zwar ist es eine ausgesprochen
noch immer aktuelle politische Feindschaft.
Aber wenn schon die karthagische Frage ganz
schläft und man sie nie berührt, so richtet sich
die Spitze, ohne daß man es sagt, bei allen neuen
Ausgrabungen gegen das dorische Griechentum
der Jahrhunderte 700—400 v. Ehr. in Süditalien.
Die feftgefaßte Meinung, Italien sei durch die
Griechen kultiviert und eigentlich erst zu einem
Wachen Leben erweckt worden, wird, ohne daß
man von dieser These direkt spricht, mit allen
Mitteln der heutigen Archäologie bekämpft, und
zwar in der Seele des modernen Italieners. Es
sollen nicht die eingewanderten und kolonisieren-
den Griechen sein, die Süditalien machten; es
sollen vielmehr jene alten und bislang recht
wenig bekannten italienischen Völkerschaften sein,
welche in den Bergen lebten, schließlich im vierten
vorchristlichen Jahrhundert ihre großen Brand-
schatzungen unternahmen, die griechischen Kolonien
zerstörten und teilweise wenigstens die Städte um-
formten. Die große Bedeutung und Öffentlichkeit,
welche man dem Apollon-Fund vom Kap Alice
gab, als einer nichtgriechischen Arbeit, als einem
Heiligtum, dessen Anfänge vielleicht durch die
Dorer gelegt wurden, dessen geistiger Inhalt und
Form aber durch italienische Völkerschaften schon
um 600 vor Christi bestimmt wurde, die Absichten,
in Terracina, d. h. am Monte Circeo, auszu-
graben, obwohl nur wenige Hoffnungen aus
pchere Funde bestehen können (aber es handelt
pa- nur eine nachweislich mchtgriechstcye nukt-
statte wahAcheinlicy sehr yohen Alters, und hier
will malr über das Leben wirklich italienischer
Völker, über das Leben der Vorfahren des heu-
tigen Italieners Ausschlaggebendes erfahren), sind
ebenso bezeichnend dafür, wie die jetzige Behand-
lung Paestums. Wenn man in Europa dell
Namen Paestum ausspricht, so denkt ein jeder
naturgemäß an das dorische Poseidonion mit
seinem herrlichen Tempel. In der politischen
Archäologie des gegenwärtigen Italiens tritt
dieser schönste dorische Tempel aus italienischem
Boden deutlich in den Hintergrund, um einem
Rest Platz zu machen, von dem vorläufig nichts
als das Fundament vorhanden ist. Es handelt
sich auch hier um einen Tempel, den man aus
einem nicht bekannten Grunde den Friedens-
tempel genannt hat. Dieser Tempel ist fraglos
keine griechische, aber auch keine römische Kon-
struktion. Er ist nach den gegenwärtigen Inter-
pretierungen eill Bau der Lukanier, die im
vierten vorchristlichen Jahrhundert das dorische
Poseidonion verbrannten,
Paestum aus ihm mach-
ten und es etwa 100
Jahre lang beherrschten.
Mall steht in diesem Fall
der vorrömischen süd-
italienischen Geschichte vor
einem der ganz seltenen
Fälle, in denen die süd-
italienischen Völkerschaf-
ten (und nicht die mittel-
italienische etruskisch-sabi-
nisch-volskische Gruppe,
welche die Städte am
Golf voll Neapel unter-
jochte), eine griechische
Stadtgründung nicht nur
vernichteten, sondern wei-
ter benutzten. Dieser
Tcmpelrest besteht im
Fundament, das als hoher
Sockel deutlich von der
griechischen Stufenform
abweicht und sich etrus-
kischer Bauart anschließt,
das mit seiner Nordsüd-
richtung der Ostwestrich-
tung der griechischen Tem-
pel zuwiderläuft. Die
Kapitellgestaltung ist ver-
schieden, die Säulenform
war aller Wahrscheinlich-
keit nach verschieden.
Diesen Tempel, von dem
einige Kapitelle übrig-
geblieben sind, und zwar,
weil normannische Er-
Erich Heckel, Bildnis meiner Schwester. Essen, Folkwang-Museum
oberer sie in den salerni-
taner Bauten benutzten,
des Lebens Christi, schließlich die deutlichen soma-
tischen Spuren, welche die Etrusker uoch im heu-
tigen Italien, namentlich in der toskanischen
wird rekonstruiert. Er
wird „Der italische Tempel" genannt. Die
Rekonstruktionsarbeiten sind nicht, wie das
gemeinhin geschieht, eben schlicht und ohne Auf-
Landschaft, hinterlassen haben, gaben den etruski-
schen Forschungen die Stütze, und was heute auch
immer an etruskischen Resten ausgegraben wer-
sehen durch die Wissenschaftler begonnen worden;
sondern der Erziehungsminister, der italienische
Kronprinz und andere wichtige Persönlichkeiten
den kann, das genießt den ersten Platz und die
volle Anerkennung. Wohlbemerkt, es handelt sich
hier nicht um den größeren oder geringeren Ernst,
mit welchem archäologisch-wissenschaftliche Unter-
suchungen auf italienischem Boden geführt wer-
den; dieser Ernst ist überall gleich groß; aber es
handelt sich darum, bis zu welchem Punkt die
Funde ausgenutzt und populär gemacht werden,
bis zu welchem Punkt man sie mit dem heutigen
Leben des italienischen Volkes in Verbindung
bringt, das heißt, die Geschichte des italienischen
Volkes mit ihnen unterbaut, dem künstlerischen
Ausdruck einer fernen Vergangenheit somit eine
sind zur Eröffnung der Arbeiten erschienen; alle
Zeitungen haben große Ausführungen gebracht;
der italische Tempel, den man wiederbaut —
denn so muß man Wohl diese Rekonstruktion aus
einem Fundament und sechs bis acht Kapitellen
bezeichnen —, wird zu einem Denkmal des heuti-
gen Italieners als dem ersten Bauwerke seines
eigenen Volkes. Die Verbindung zum alten
italischen Volk über Rom hinaus und vor allem
unter Ausschaltung des landfremd gebliebenen
Griechentums in Süditalien ist mit dieser Rekon-
struktion gelungen; daher ihre Wichtigkeit in der
Kunstpolitik des Regimes. . 6. R.
D^.8 IRäDBNLIBDML DRR BO(AIKR^I88^6R:
8Bö^8TI^O DBB BIONBO
sis Lsllvsa vis Drvditektur rÜ8 Ls8vLLll2 vsr ksrsöalivklrslt uvä varum dru itirs Us-ts^ei
vkn nrölütkirtouisellsu Oruuv uuä vis araditstztonisoks LsdalläluvA tür vis pi^ur in
sinsiu Nialls Tkt'oräsrt, Vas sis von Vsutsviisr bliuxtiuvung: >vsit abrüeüt." ö11 t' 11 u
Crn ckas llallr 1515, Kur2 naell seiner Übersiecklnnx naell Rorn, sellaRtz cker Venezianer Lo-
bastiano ckel Biornbo ckas Rranonbilcknis, ckrnller 2iercke einer cker grollte Berliner Rrivatzsarnin-
lun^en. Zusammen mit ckem Orbinaten RaRael unck ckem Florentiner lAiellelanAelo wird cker
l^iorckitaliener Lebastiano, xesellult an Bellini unck 6ior§ione, ?um Repräsentanten cker Kursen
Blüte cker römisellen Boellrenaissanee. In -wenigen llallren vollsiellt siell cker ^Vanckel von cker
^eloekerteren. maleriseller erckaBten OestaltunA ckes venesianisellen Rrauenickeals su cker streng
tektonisellen OesetsmäBixkeit unck statuarisellen Rlarlleit, ckie ckas römiselle Bilcknis bestimmt:
ckie trüber Rattael su^esebriebene „Rornarina" cker Ottisien von 1512 unck ckas wenix später ent-
standene Rrauenporträt cker Berliner Oalerie sind ckeutliebe Marksteine dieser BntvckeklunZ-.
IVobl verrät sieb in cker Rüllo ckes maleriseben Vertrags, in ckem sonoren Rarbenklanx unck
ckem üppi§ sxviseben xlänsencke Lebatten eingebetteten Ton ckie venesianisebe Berkuntt niebt
minder als in ckem in abenckliebem (Banse dämmernden Bancksebattsaussebnitt, Erinnerung an
ckie von Ciorgione unck vom jungen Tisian verewigte Terra Rerma. ^.ber ckie Lteigerung ckes
Nallstäblieben, ckie plastiseb-bsstimmte RaBbarkeit cker (Gestalt, ckie repräsentative, in Knappen
Cesten unck wenigen klaren Notiven verankerte Komposition, ckie Binckringliebkeit cker Bewe-
gungsgegensätse unck ckie Verankerung cker Rigur im Raume weisen gleiebseitig aut eine Ltei-
gerung ckes Daseins- unck Bebensgetübls bin, ckie andernorts undenkbar wäre. Rs ist niebt
nur ckie Rrsebeinung vornebmer Rasse, gemisebt mit männlieber Ltrattbeit, niebt nur ckie ideale
Linnliebkeit unck Vollblütigkeit cker Dargestellten, wie sie aus Haltung unck Ausdruck spriebt,
ckie den Rinckruek allein bestimmt: ckie Rigur in ibrer Qesamtbeit, sebaubar autgebaut in ibrer
arebitektoniseben Ltruktur — man beaebte, wie cker Kopt in taBbarer Klarbeit aus den waage-
reebten Komponenten cker Ltirn, cker ^.ugen unck ckes Nunckes unck den senkreebten cker sebart-
gesebnittenen, in Kinn unck Blalslinie sieb tortsetsencken blase gegliedert, wie ckie Borisontalen
cker Tisebkante, ckes (llürtels unck Brustausscbnittes kontrastiert werden ckureb ckie vertikal
autsteigencke Bewegungslinio von Band su Band unck von da su ckem Raupte —, wird sur grollen,
einmaligen Oebärcke. Das IVeib von Rleiseb unck Blut wird über ibre Diesseitigkeit binausge-
boben, wird su einer Lebwester jener Libellen Niebelangelos, s^mbolbatt verwandt cker Rugung
arebitektoniseben Denkens. D.
Awas über Landschastsmalerei
18Ü8>
Der Mensch ist mir tausendfältigem Verlangen und un-
endlichen Begierden ausgestattet und so in eine Welt gesandt
worden, die reich genug sein würde, noch viel mehr zu ge-
währen, als er begehren kann. Jede Glut des Herzens findet
ihren Schatten, jeder Durst seine Welle, jede Sehnsucht ihre
Ferne, und unzählige, heimliche, fest beschirmte Zufluchts-
stätten sind bereitet für die Seele, welche nach Sicherheit und
Ruhe strebt. — Und so werden dann die landschaftlichen For-
men im fortschreitenden Leben dem Eemüte so bedeutend:
die Erinnerung an irgendein schönes Verlangen wird von
jedem Baume, jedem Bergeshangc leise angeregt, jeder Licht-
strahl, der über die Gegend fällt, scheint ein Orakel mit
sich zu führen, und jedes Wolkengewebe ist eine geheimnis-
volle Schrift. Wie verschiedenartig nun auch die einzelnen
Töne sein mögen, die eine reiche Landschaft in der Brust
aufrührt, sie werden doch alle harmonisch verbunden durch
einen immer wiederkehrenden Grundakkord. Überall näm-
lich, wo der Mensch wandelt, ist sein Auge so gestellt, daß
er das himmlische und irdische Element mit einem Blicke auf-
fassen muß: eine Andeutung für die Seele, daß sie allent-
*) Aus: Dr. A. Müller, Die Kunstanschau-
ung der jüngeren Romantik. Deutsche Lite-
ratur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler
in Entwicklungsreihen. Reihe „Romantik", in 24 Bänden
hgg. von Univ.-Prof. Dr. Paul Kluckhohn, Bd. 12. Ver-
lag Philipp Reclam, Leipzig.
halben desgleichen tue. Das, was den Menschen unmittel-
bar umgibt, seine Hütte, die Bäume seines Gartens, alles
dieses erscheint in schroffem Gegensatz fest, deutlich und klar,
neben dem formlosen, flüssigen Äther; nun hebt sich sein
Auge, dah es eine größere Ferne beherrschen kann, und die
Umrisse der irdischen Dinge werden weicher, die Farben
sanfter: Luft und Erde scheinen zusammenzufließen; sie
tauschen auch mit lieblicher Vertraulichkeit ihre Plätze: in den
Wolken scheint die Erde auf die Seite des Himmels her-
überzutreten, in den Seen und Flüssen der Himmel auf die
Seite der Erde — und in der weitesten Weite verlieren sich
die Grenzen, bleichen die Farben ineinander, was dem Him-
mel, was der Erde angehöre, läßt sich nicht mehr sagen. So
erscheint, von den schroffen Klippen der Gegenwart betrachtet,
dem Menschen seine früheste Kindheit: nahe Verwandtschaft
von Himmel und Erde, aber das Gedächtnis jener Tage ein-
farbig und wie verwittert; so muß ihm auch erscheinen,
weil die Ferne den Ursprung und das Ende gleich richtig
abbildet, das künftige einsinkende Alter: kein Ineinander-
stürzen der Elemente, aber eine sanfte Vermählung. — An
diesen Grundakkord nun binden sich alle die einzelnen har-
monischen Gefühle, welche die zerstreuten Teile der Land-
schaft anregen mögen, an diese Weltallegorie unzählige kleine
Allegorien und Träume: ein großer göttlicher Gedanke be-
herrscht und regelt alle die kleinen Vergötterungen, welche
der Mensch mit der umgebenden Natur vorzunehmen liebt. —
Darum ist die Landschaftsmalerei überhaupt mehr allegorischer
als plastischer Natur: sie neigt sich zu den redenden, tönenden
Künsten herüber, und wenn die Bildhauerei die Ewigkeit in
einen Moment zusammendrängt, so stellt die Landschafts-
malerei sie symbolisch in einer Reihe, ich möchte sagen, in
einer Folge von Raummomenten dar.
Es ist nicht nötig, daß der von mir angezeigte Grund-
akkord dem kalten Verstand allemal klar werde; es soll auch
nicht gesagt werden, daß die dämmernden Fernen in der