Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst der Nation — 2.1934

DOI article:
Pinder, Wilhelm: Vom Wikingertum unserer Kultur: im Spiegel der neueren deutschen Kunstentwicklung
DOI article:
Paul, F.: Zur Problematik Hodlers
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66550#0073

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext

7. Juli-Nr. II. Ihg., Nr.13

Verlag Kunst der Nation G. m. b. Ä., Berlin W 62, Kurfürstenstr. 118. Telefon: B 5, Barbarossa 1260.
Bankkonto: Commerz- und Privatbank A.G, Dep.-Kasse M., Berlin W50, Tauenhienstraße 18a. Postscheck-
konto Berlin Nr. 55241. Erscheinungstermin: 1. und 15. jeden Monats. Bezugspreis: vierteljährlich
1,80 Mk., jährlich 7,20 Mk. Zu beziehen beim Verlag, bei der Post oder beim Buchhändler.

Einzelpreis 30 Pfennige

Vom Wikingertllm
unserer Kultur
im Spiegel der neueren deutschen
Kunstentwiülung
Von
Wilhelm Pinder
„Wikingertllm" ist ein Übertrageller Begriff
— übertragen voll einer geschichtlichen Tatsache
her. Die Gefahr des Mißbrauchs verpflichtet
gerade den an der Verbreitung des Wortes
Mitschuldigen zu genauerer Erklärung. Gemeint
ist die für das Abendland bezeichnende geschicht-
liche Lebensform der schnellen, tätigen Wand-
lung; der Trieb zu entdecken, zu erfinden, zu be-
herrschen — nicht nur Menschen, sondern heute
besonders „Erscheinungen" jeder Art; dabei sich
ständig selber zu verwandeln. Ein geistiger See-
fahrermut. Als Wikinger entdeckt man — man
läßt sich nicht entdecken. Ein männlicher Grund-
zug. Die geschichtliche und biologische Grund-
lage ist fraglos. Das Blut der nordischen Völker,
das in den Wikingern besonders reine Form ge-
wann, durchsetzt bis aus dell heutigell Tag, nur
in sehr verschiedenen Graden, alle europäischen
Völker. Dies gilt u. a. besonders stark für Italien,
das nicht nur germanische, sondern im engeren
Sinne deutsche Einwanderung reichlich erfahren
hat. Das geistige Erbe deckt sich nicht völlig mit
dem leiblichen. Die deutsche Kunst zeigt es weit
deutlicher als die skandinavische. Für die Frage
der Wandlungsfähigkeit vergleiche man gewisse
Erscheinungen der Ncgerkunst. In dieser sollen
aelp^ntlicb mehr ms n-bu Generatwnen in einer
Familie das gleiche Götzenbild unverändert yer-
stellen können. Im Abendlande kann ein ein-
ziger großer Mensch (Douatello, Rembrandt,
Goethe) geradezu drei bis fünf Generationen ver-
wirklichen. Der Unterschied eines Jahres kann
bei großen Abendländern wirklich einen Unter-
schied der Geschichtslage bedeuten. Selbst das
Vollendungsideal asiatischer Hochkulturen enthält
uns zu viel vom Ende, zu wenig vom Werden.
Wandlung kann uns Selbstzweck und Selbstwert
bedeuten. Wir kreisen dauernd um ein großes
Problem: wir wissen, daß wir bedingte, ver-
gängliche Wesen sind, sterblich im Flusse ewigen
Zeugens und Sterbens mitschwimmend; und wir
möchten dennoch uns wie etwas Einmaliges, Un-
bedingtes behaupten. Das Wissen, bedingt zu
sein, und der Wunsch, es nicht zu sein, treiben
uns zu unablässigem Kampf in immer neuen
Schöpfungen. Im Symbol der künstlerischen
Form sagen wir bald ja, bald nein zur Bedingt-
heit. Wo aber unser Wikingergeist bestimmt, d. h.
in allen starken Zeiten, sagen wir ein freudiges
Ja. Wir sind bilderfreundlich. Ein Dürersches
Hasenfell, Lionardos Gefühl für Wolken und
Staub, die triumphale Steigerung vorder-
gründiger Gestalten zur Ahnung des Unendlichen
bei Rubens sind Beispiele für das tapfere Ja.
Die Jndividuationsfeindlichkeit der klassizistischen
Richtung um 1800, ihre Angst vor der Farbe,
ihre Neigung zu Gips, Kartou, kalter Ver-
allgemeinerung sind im letzten Grunde Ableug-
nung des Werdens und Nein zum Tode. Je all-
gemeiner die Form, desto weniger läßt sie die
Vergänglichkeit spüren. Die Pyramiden, Formen
niederster Geometrie in riesigem Maßstabe,
sprachen ein Nein. Dieses bei uns sehr seltene
Nein wurde schon um 1800 durch die Romantik
wieder bestritten. Sie ist u. a. ein Ja zur Selbst-
verwandlung, freilich auch ein vom Weiblichen
angestecktes Bekenntnis zum Tode. Wandlung
ist der Sinn des epochalen Rhythmus. Sie ist
nicht Fortschritt (Weg zum „üapp^ enck"). Wir
haben nicht Fortschrittsglauben, sondern Ur-
sprungsglauben. Gute Zukunft versprechen wir
uns nur auf Grund guter Herkunft. In der
deutschen Kunst läßt sich der unurittelbare Aus-
druck des Wikingischen als eine immer wieder-
kehrende, wenn auch keineswegs immer unmittel-
bar sichtbare Grundmöglichkeit nachweisen. Ein
gotländischer Bronzebeschlag, für bewegliches
Zaumzeug bestimmt, zeigt gleichen Grund-
charakter wie noch um 1725 die Treppe von
Schloß Mirabell in Salzburg. Er ist mathe-
matisch bestimnrbar als der Gegensatz von Chaos,
als Polyphonie: gleichsam die Doppelfuge einer
noch vormusikalischen Epoche, ein Versprechen,
das Bach restlos einlöst. Der Sinn der Form
ist unabhängig von der Ausdehnung. Auch dies
gilt wie für das Wikingerornament, so für
weiteste Strecken bester deutscher Kunst. Jenes
Ornament war nicht für einen festen Raum be-
rechnet. Es vermeidet Winkel und Gerade. Es
bewegt sich in Krümmungslinien der höheren
Mathematik. Seine Gesetzlichkeit — das Gegen-
teil der uns häufig nachgesagten „Formlosigkeit"
— ist später, u. a. in den deutschen Altären vor
und nach 1500, ebenso in den Gewölben deut-


Kopf des Gero-Kreuzes. Nm 1180—90. Köln, Dom

Photo: Staat!. Bildstelle

schen Spätbarocks unverkennbar. Die Herkunft
der einzelnen Elemente ist Nebensache, das kom-
positionelle Gesetz entscheidet. Der Ausdruck ist
ausgesprochen aktiv in Abstraktion: nicht Reiter,
sondern Ritt, nicht Schiff, sondern Fahrt;
ursprünglich bildlose Bewegung. Diese kann die
später erworbene Erscheinungswelt gleichsam ans
den Rücken ihrer Wogenkämme nehmen. So ist
auch die Plastik der Georgenchorschranken von
Bamberg im höchsten Falle zeitlich-polyphon zu
lesen. Selbst der nur in Deutschland, nicht in
Frankreich, erreichte Übergang zur in sich ge-
schlossenen Einzelstatue wahrt noch den Sinn der
geheimen Bewegung (Bamberger „Sibylle", selbst
Naumburger „Uta"). Dieser Grundsatz des
schöpferischen Verhaltens ist noch etwas anderes
als die Spiegelung des leiblichen Wikingerideals.
Sie ist selten, aber am stärksten wieder in Deutsch-
land zu sehen. Noch im Augsburger Michael des

Hans Reichle ist das Ideal des Bamberger Reiters
unbewußt enthalten. Doch vergesse man nicht,
daß im Erlanger gezeichneten Selbstbildnis des
jungen Albrecht Dürer das Abbild seelischen und
geistigen Wikingertumes sehr tief gefaßt ist. Ein
Gang durch die Geschichte deutscher Kunst würde
das Kompositionsgesetz wikingerscher Ornamentik
geradezu als Geschichtsform erweisen.
IurproblemM Hodlers
Der Weg Hodlers aus dem Naturalismus der
70er Jahre zu einem eigenen Ausdrucksstil ist so
typisch für die Entwicklung der modernen Malerei,
daß man diesen Künstler früher mit Cezanne,
van Gogh und Munch zu den Begründern des
Expressionismus gerechnet hat. Vergleicht man

seine Wirkung mit der jener andern Bahnbrecher
neuer Geistigkeit, so wird man mit Erstaunen
eine Fehlanzeige feststellen. Und dieser Mangel
an Resonanz hat seine Gründe in der unleug-
baren und freilich tragischen Verdoppelung in
Hodlers Problematik, die beide Schaffensperioden
an ihm erfüllt und beide letzten Endes unfruchtbar
gemacht hat.
Am schönsten hat man ihn selber und seine
relative Wirkung in der unvergleichlichen großen
Ausstellung Schweizer Kunst kennen lernen
können, die 1925 in Karlsruhe gezeigt wurde.
Aber auch in Schweizer Museen kann man jeder-
zeit seine Eindrücke nachprüfen, am besten natür-
lich in dem sehr reichhaltigen und gut disponierten
zu Genf.
Wenn ich sagte, daß es keine Nachwirkung
Hodlers gäbe, so ist das auf seine idealistische
Periode zu beziehen; daß der höchst kraftvolle und
 
Annotationen