Nr. 2H Zweiter Jahrgang
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Zweite Gktober-Nr., 1<?34
Nietzsche und die Kunst
Au seinem 90. Geburtstag am 15.Oktober 1934
Von
Richard H. Grtttzmacher
Nietzsche ist der Kunst dreifach verbunden: durch
seine tiefe Empfänglichkeit ihr gegenüber, durch
eigenes Schöpfertum und durch die hervorragende
Einordnung der Kunst in seine Lebensanschauung.
Die klassische Philologie führte den Gelehrten
zu antiker Plastik und Architektur. Er betrachtete
sie aber nicht nur als Archäologe, sondern künst-
gegen den Willen zur Verneinung des Lebens, sie
ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große
Verführerin zum Leben, die Erlösung des Er-
kennenden, des Handelnden, des Leidenden".
Kunst und Künstler habe Nietzsche viel zu bati-
ken an seinem 90. Geburtstag.
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lerisch als gegenwärtige und zukunftsträchtige Er-
scheinung. Die von Geist und Macht beseelten
Köpfe eines Epicur und Brutus, vornehmlich ein
Bronzekopf in Neapel, der Plato darftellen sollte,
galten ihm als zeitlose Symbole. Die Römer
bauten „für die Ewigkeiten". In der Renaissance-
architektur verkörperte der Palazzo Pitti Stärke
und Sicherheit — wegweisend auch für den Ban
des 19. und 20. Jahrhunderts. Michelangelo wuchs
für Nietzsche in und mit seinen Werken — im
Sinne der eigenen Weltanschauung — zum „Ge-
setzgeber neuer Werte, der über Mitleiden erhaben
war und das ihm Unzugehörige zerschmetterte".
Das Nordische in Nietzsche griff zu Dürers ver-
wandtem Kupferstich: „Ritter, Tod und Teufel",
der Kraft zum Kampfe gab. Auch in der Land-
schaft Clade Lorrains, die ihm von früh an ver-
traut war, packte der heroische Zug.
Der bildenden Kunst aeaenüber war Nietückie
nur der Empfangende; aber s o, daß pe feine
innerste Persönlichkeit und deren Rhthmus mitge-
staltete. Die Brücke vom künstlerischen Empfang
zu eigener Schöpfung bildete die Musik. Er ver-
stand Wagner in dem Maße, daß dieser in die er-
staunte Frage ausbrach: „Wo haben sie nur die
Erfahrung von mir her?" Nietzsche beherrschte
vollkommen die Technik des Klavierspieles und
schuf von früh an eigene Kompositionen. Mochten
diese auch nicht zum anerkannten Werke werden,
so waren sie doch Ausdruck einer innersten Ver-
bundenheit mit der Musik. Nietzsche hatte darum
nicht unrecht, wenn er sagte: „Sie hätte singen
sollen — diese neue Seele" — eine Wesens-
erfassung, in die auch Stefan George sein Zeit-
gedicht über Nietzsche münden läßt.
Schöpferisch im höchsten Maße wird Nietzsches
Künstlertum in seiner durch Klang und Rythmns
der Musik eng verbundenen Rede. Er rühmt sich
nicht ohne Recht, einen weiteren Schritt über
Luther, dessen Bibel er das bisherige beste deutsche
Buch nennt, ja sogar über Goethe hinaus in der
Gestaltung der deutschen Sprache getan zu haben.
Denn sein Stil verfügt über eine sinnliche An-
schaulichkeit ohnegleichen. Die ganze Glut der
Farben ist ins Wort gebannt: „Das tiefe Gelb
und das heiße Rot: so will es mein Geschmack, der
mischt Blut in alle Farben". Das Nietzsche so
verwandte Meer ist in seinen Gleichnissen hörbar
und schaubar: „In grünen Lichtern spielt Glück
noch der braune Abgrund herauf". In Zarathustra
spricht einmal ein alter Prophet — wie in Bibel
und Koran —, dessen eherne Stimme wie Glocken-
klang von hohem Berge herabhallt, aber es singt
in ihm auch eine moderne Seele in „Nachtlied",
„Grablied", „Tanzlied", die aus duukler Tiefe
nach froher Bewegung ringt.
Eine der Kunst im Erleben und Schaffen so
tief verbundene Persönlichkeit mußte ihr auch in
Welt- und Lebensanschauung eine hervorragende
Stellung geben. Nietzsches für die Ästhetik be-
deutsamstes und — trotz aller Zusammenhänge
mit Schopenhauer und Wagner selbständigstes
Werk: „Die Geburt der Tragödie" schätzt die Kunst
„als höchste Aufgabe und eigentlich metaphysische
Tätigkeit des Lebens". Sie läßt das Dasein der
Welt „nur als ästhetisches Phänomen ewig ge-
rechtfertigt sein". Hier grub Nietzsche die doppelte
Wurzel der Kunst aus und gab ihr die seitdem
herrschenden Namen des Dionysischen und Apolli-
nischen. Das erstere wurzelt inr Rausch, im Unbe-
wußten, im Mysterium, das zweite erwächst aus
ruhigem Traumbild, welches die Klarheit des
Tages durch den Verstand weiter ausbildet.
Vollendete Kunst enthält das Dionysische gebändigt
durch das Apollinische. Mochte Nietzsche in seiner
mittleren, Positivistischen Periode die Kunst stark
zurückdrängen, so lebt seine ganze Begeisterung
noch einmal ans in seiner letzten, jasagenden
Philosophie, die sich um den Willen zur Macht
gruppiert. „Die Kunst und nichts als die Knnst.
Die Kunst ist die einzige überlegene Gegenkraft
Otto Dix, Nichschc-Biistc
Mhsche-Mdnisse
Seit Klingers Nietzschebüste hat es einige
bedeutende Künstler immer wieder gereizt, diesen
ungeheuren Kopf darzustellen. Sein Bild lebt in
unserm Gedächtnis fort, wie Klinger es in seiner
Photo Hugo Erfurth, Dresden, mit Genehmigung der
Bronze uns vorgefühlt, ja vorgeschrieben hat, und
nicht etwa in der Nachbildung der Wirklichkeit, die
Photographen und ihnen nachstammelnde Stahl-
stecher von den Lebenden mit zahmer Bürgerlich-
keit genommen haben. Man findet diese in ver-
schiedenen Bänden der Gesamtausgabe vor, je-
doch mit geringen Vergnügen. Es offenbart
sich hier in auffallendem
Maße die Wahrheit, die
an dieser Stelle prinzi-
piell für das Bildnis
ausgesprochen wurde
(Kst. d. Nat., I. Sep-
temberheft), daß wir mit
„naturechten" Nachbil-
dungen eines bedeuten-
den Menschen wenig an-
sangen können, und daß
erst der Künstler mit in-
tuitivem Erfassen des
Kongenialen das Blei-
bende einer großen Er-
scheinung uns sinnlich
deuten könne. Und es
folgt beim Anschauender
kommenden Nietzsche-
Bildnisse auch die Be-
stätigung des Satzes, daß
die kühnste Interpreta-
tion aus der Vorstellung
heraus die am stärksten
überzeugende sei. Max
Klinger griff schon über
die sehr verdienstvolle
und starke Radierung
von Hans Olde
hinaus und begründete
unsere Vorstellung von
dem großen Umwerter
aller Werte in starker
Kontrastierung der
Stirnpartie mit den
Haarmassen von Kopf
und Schnurrbart und
mit den tief beschatteten
Augenhöhlen. Vortreff-
liche Bildhauer wie
Max Kruse und
Zschokke fügten diesem
plastischen Bilde nicht
viel hinzu, ihre Büsten
verstärkten indes den
einmal erlebten Ein-
druck einer höchst genia-
len und ungewöhnlichen
Bildung. Und doch gab
es noch eine Form über
sie hinaus, die den dem
Wahnsinn nah verwand-
ten Dämon Nietzsches
noch prägnanter und un-
mittelbarer versinnlichen
konnte. Ein Bildnis von
Edvard Munch in
Stockholm zeigt diese tiefe
Erfassung des Geistes-
menschen durch einen
kongenialen Künstler. Er
hat Nietzsche noch in
Weimar, nicht lange vor
seinem Tode, und also
schon in geistiger Um-
nachtung gemalt drei-
viertel Figur in einer
frei erfundenen Land-
schaft, die in echt Munch-
scher Art die geistige
Grundhaltung begleitet
und unterstreicht: die
hoffnungslose Einsamkeit
gescheiterten Titanen.
Die karge, fast symbolische Linienführung, das
streng dnrchgeführte Umrißprinzip seiner Malerei
und die auffällige Stellung des Kopfes zwischen
zusammenlaufenden Landschaftslinien, die ihn wie
in einen Schraubstock nehmen, verstärken den Ein-
druck der gewaltigen Physiognomie und steigern
und Verwirrung des