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Kunst der Nation — 2.1934

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Fürst, Leonhard: Das Musikererlebnis und seine Bedeutung für die Freizeitgestaltung
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Einzelpreis 30 Pfennige

Das Musikerlebnis und seine
Bedeutung für die Freizeitgestaltung
Von
Leonhard Fürst

i.
Das Musikerlebnis kann theoretisch zwei, prak-
tisch mehrere Grundformen annehmen. Eine ein-
deutige, für das Individuum allein verständliche:
das Erlebnis des schaffenden Künstlers, für wel-
ches die bei der Wiedergabe erklingenden Töne nur
die Bedeutung eines dahinterliegenden Psychischen
sind, und eine andere, unendlich variable Gestalt,
die sich im Erlebnis dessen ansprägt, der diese
Musik in sich aufnimmt, wobei vorerst gleichgültig
ist, ob er sie reproduziert oder wahrnimmt.
Diese grundsätzlich nicht übereinstimmenden
Erscheinungen, die einander als Urbild und Ab-
bild begleiten sollten, waren ursprünglich ver-
schmolzen. Bei einer Betrachtung der Entwick-
lungsgeschichte der Tonkunst wird man als Arn-
wort auf die Frage nach dem Ursprung der Musik
zu der Feststellung kommen, daß die Ele-
mente des Schaffens und des Aus-
übens wie des Genieße ns in ein und
derselben Person vereinigt waren.
Die Musik verdankt ihre Entstehung
einem vitaler: Kraftgefühl des Men-
schen, sie war in ihren Uranfängen
nichts weiter als ein unartikuliert-
einem mehr oder weniger geord-
neten Spiel der Muskeln. Genau so,
wie der unserer Kultursphäre angehörende
Mensch, wenn er aus dem Schlaf erwacht, sich
reckt und streckt wie der erwachende Hund oder die
buckelnde Katze, und dabei Kehllaute von sich gibt,
wie das Tier es tut, Laute, die uns selbst absolut
kindlich, besser primitiv erscheinen, genau so folgte
der erste Mensch unbewußt den physiologischen
Abläufen seines Organismus. Das „Körpergefühl"
drängte auf einen ganz bestimmten Zweck, zum
Muskeltraining. Der normal sich entladende
Affekt eines Teils der im Organismus nicht ver-
brauchten Gesamtkraft führte zu einer geordneten
Übung, zur taktmäßigen Körperbewegung mit Be-
gleitung der Stimme, die das gemeinsame Aus-
üben erleichtern sollte. In den taktmäßigen Be-
wegungen liegen die Keime des Rhythmischen, in
den Lautgebungen, die anfangs wesentlich nur
dazu da sind, das Einhalten des Taktes zu stützen,
die Ansätze zum Melodischen. Aber keineswegs
war diese Form schon Kunst; erst war sie Spiel.
Als aber die Freude an der Wiederholung das
Spiel belebte, und der Nachahmungstrieb, die Ge-
meinsamkeit, hier vor allem das Mitteilungs-
prinzip, die Sprache bedingte, da wurde ein an
sich normaler körperlicher Vorgang in die Ebene
des Ästhetischen gehoben, zu dem aus Tanz, Musik
und sprachlichem Ausdruck bestehenden primitiven
Gesamtkunstwerk, das wir heute noch bei einigen
Naturvölkern finden.
Die „musische Kunst" war also hervorgegangen
aus Reflexbewegungen und Triebhandlungen, die
im Laufe der Stammesentwicklung erworben wur-
den. Für das Individuum sind sie als „vererbte
Assoziationen" etwas Gegebenes. Doch hat im
Laufe dieser Entwicklung der motorische Akt an
Bedeutung verloren, mit dem Ergebnis, daß nun-
mehr die erste Stufe dieses Prozesses, der Laut,
der vorher nur ein untergeordnetes, wenn auch
schon differenziertes Ausdrucksphänomen ist, eine
neue Bedeutung erlangt und zur letzten Phase des
Prozesses wird. Die Lautgebärde, eine Neben-
erscheinung des reflektorischen Ablaufes, wie wir
ihn beim erwachenden Menschen sahen, wird nun
Symbol des Gegenstandes. Infolge ihrer Nähe
zum Gefühl schwingt bereits im Primitiv Musika-
lischen die Gefühlsbetonung sehr stark mit, so daß
sie später noch ein Prinzip der Bewegungskunst
dadurch wird, daß sie den motorischen Jnner-
vationsprozeß mit einleitet. Da aber das ganze
vitale Moment zurückgedrängt ist, spielt die Musik
ins Symbolische und der Laut wird in der Sprache
zur hinweisenden Gebärde als Objekt der Hand-
lung. Das ursprüngliche Element aber, von dem,
unmittelbar mit ihm verbunden, der Bewegungs-
akt ausging, ist die Musik; sie sucht also den moto-
rischen Akt. Nicht Erkenntnis will sie vermitteln,
sondern nur das Gefühl und die Bewegung nimmt
sie in Anspruch. Denn als Niederschlag der Aus-
drucksbewegungen und ihrer Bedingungen ruft sie
rückwirkend die seelischen Vorgänge wieder hervor,
denen sie ihre Entstehung verdankt.
Der hörende Mensch beantwortet akustische
Reize, besonders aber Musik, nrit körperlichen oder
seelischen Reaktionen, die die Grundlage bilden für

das Zustandekommen tieferen Erlebens und ästhe-
tischer Erkenntnis. Die Art des Erlebens und die
Bildung entsprechender Assoziationen und Ideen-
verknüpfungen ist nicht bei allen Menschen die
gleiche, sie ist beeinflußbar durch musikalische Er-
ziehung, hängt aber ab von „musikalischer Be-
gabung" und in der Hauptsache von einer Psychi-
schen Veranlagung, die sich dadurch ausdrückt, daß
entweder die körperliche oder die seelische Reak-
tionsfähigkeit vorherrscht. Die Psychologie unter-
scheidet Grundtypen des Musikerlebens, die nicht
scharf gegeneinander abzugrenzen sind, sondern
vielmehr ineinander übergehen. In den: gleichen
Maße, wie die Erlebnistypen nicht genau zu
trennen sind, treten die Erlebnisse selbst in ein
Abhängigkeitsverhältnis sowohl zu den Typen, als
auch zu den Aspekten der musikalischen Inhalte.
Es gibt einen Menschenthp, dem nur die sinnlich-
elementare Wirkung der Musik von Bedeutung ist.
Ein feinsinniger Ästhetiker bemerkte über diesen
Vorgang, Musik aufzunehmen: „Eine feine Zi-
garre, ein pikanter Leckerbissen, ein laues Bad,
leisten nach dieser Richtung ähnliche Dienste wie
eine Symphonie". Findet man diese sensualistische
Erlebnisweise besonders ausgeprägt bei Frauen,
Wissenschaftlern und Fachmusikern zu suchen, die
eben nicht danach fragen, ob eine Musik lustig sei
oder traurig, sondern ob sie gut sei oder schlecht.
Dem assoziativ-imaginativen Typus schließen sich
an den sinnlichen Eindruck der Musik noch Vor-
stellnngen an, die besonders abhängig sind von der
Erfahrung und seelischen Weite des Individuums.
Bei dem vierten Typus, dem Motoriker, führen
die motorischen Elemente der Musik, namentlich
der musikalische Rhythmus, zu Bewegungs-
empfindungen, zu Bewegungen des Körpers und
damit zum Erlebnis des musikalischen Kunstwerkes.
Diese Reaktionsfähigkeit, die wir immer bei Na-
turvölkern und meistens bei Kindern finden, ist
dem modernen Menschen unglücklicherweise ab-
erzogen worden. Denn mit dem Verschwinden des
motorischen Elementes, mit dem Untergang des
Rhythmuserlebnisses, verschwindet auch die vitale
Lebensfreude in der Musik. Die Musik, die in
ihren Uranfängen aus der unverbrauchten Kraft
des Körpers kommt, einem durchaus positiven
Lebensgefühl entstammt, kann den Forderungen
überspezialisierter Ästhetiker des 19. Jahrhunderts
natürlich nicht standhalten; und das ist gut so.
Musik ist in erster Linie Ausdruck des Lebens-
gefühls, und ebenso kann durch ihre Wirkung jener
Zustand wieder hervorgerufen werden, dem sie ihre
Entstehung verdankt. Bedeutende Faktoren in der
Entwicklung der Musik sind jene Erlebnistypen,
die wiederum abhängen von nationalen und
epochalen Gebundenheiten. Der geistige Rhyth-
mus eines Volkes, oder eines Abschnittes der Ge-
schichte, findet seinen deutlichsten Niederschlag im
Rhythmus seiner Musik. Gerade in den letzten
Jahren sind von Musikwissenschaftlern, von Kunst-
historikern und von Sprachforschern die wichtigsten
Erkenntnisse aus der Erforschung des Lebens-
rhythmus' der Künste gezogen worden. Der Vor-
wärtstreibende, aggressive, stoßhaft-intermittierend
wirkende Rhythmus des Positiv-Animalischen, dem
Körperlichen verhaftet, war immer Ausdruck nicht
der Dekadenz, sondern einer vorwärts stürmenden
jungen Kultur. Wenn man im musikalischen
Rhythmus nicht nur den quantitativen Ablauf der
Tonfolgen, sondern ein qualitatives Prinzip sieht,
den lebendigen Fluß im Tonkunstwerk, das ord-
nende Element, das den Haufen zun: Kunstwerk
macht, dann begreift man auch die erfrischende
Einwirkung des Jazz auf die bereits um die Mitte
des 19. Jahrhunderts im Rhythmischen restlos er-
storbene abendländische Musik. Die Erlebnis-
verknüpfung von Rhythmus und allgemeiner
Körperlichkeit soll jedoch in der Darstellung der
motorischen oder sensorischen Qualitäten und dem-
nach auch Wirkung des musikalischen Rhythmus
nicht zu einer Schematisierung, sondern zu einer
Verdeutlichung führen. Denn die gestische Außen-
bewegung ist lediglich Funktion einer energetischen
Jnnenbewegung, die außer von der künstlerischen
Potenz des Schaffenden noch abhängig ist von der
Kultur seiner Epoche.
Die Beziehungen des musikalischen Rhythmus
zu der geistigen Struktur der Zeit aufzuzeigen,
würde den Rahmen dieses Aufsatzes weit über-
schreiten; sie sollen Gegenstand eines später fol-
genden werden.


Meunier, Der Schmied

II.
Die in den Abschnitten des ersten Teils ge-
wonnenen Ergebnisse können die Funktion der
Musik innerhalb der Freizeitgestaltung nicht mehr
rechtfertigen, als es die Existenz der Musik für die
gestische und seelische Entwicklung des Menschen
an sich schon kann. Die psychologischen Ergebnisse
und ihre angedeuteten geistesgeschichtlichen Aus-
strahlungen können aber zu Überlegungen an-
regen, um in der Gestaltung des Feierabends die
Wirkungsmöglichkeiten der Musik weitgehend zu
vergrößern, ohne daß sie als Zwang emp-
funden werden. Denn gerade, weil Musik am un-
mittelbarsten von allen Künsten wirkt, eben weil
sie, um den Weg ins Innerste des Menschen zu
finden, nicht den Umweg über Begriffe, die das
Endstadium eines komplizierten Denkprozesses
bilden, zu nehmen braucht, eben deshalb liegt in
einer leichthin optimistischen Anwendung die Ge-
fährdung des Geschmackes ebenso wie eine unpro-
duktive Übersättigung mit Kunstwerken. Denn in

erster Linie soll das Ziel der Musik sein, das
Lebensgefühl zu steigern, nicht es herabzusetzen.
Dabei kommt es allerdings ebenso sehr auf die
Qualität wie auf eine gewisse motorische Wirkung
des Rhythmus und formale Uukompliziertheit an;
wenigstens für den Anfang.
Dann ergibt sich der Wirkungsbereich aus fol-
genden Faktoren, die hier nur kurz anzureißen
sind: Steigerung des Lebensgefühls, musikalische
Belehrung, Verbreitung der Konzert- und Opern-
musik, musikalische Erziehung.
Die unmittelbare Wirkung der Musik auf das
Lebensgefühl kann sich nicht im bürgerlichen Stil
des Konzertsaales entfalten. Im aktiven Musi-
zieren, nicht im Passiven Hören liegt die Lösung
latent. Die Gemeinschaftsmusik der Chor- und
Orchestergruppen wird nicht durch klassische Sym-
phonien und Chorwerke repräsentiert, sondern
durch Volkslieder, durch einfache vokale und in-
strumentale Sätze früherer Epochen, durch eine
Gemeinschaftsmusik, wie sie Hindemith, Her-
 
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