Nr. 24 Zweiter Jahrgang
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Zweite Dezember-Nr., 1 §3 4
Zur Vielfältigkeit deutscher Kunst
Von
Werner Haftmann
Die heutige deutsche Kunst werden wir nicht
überschauen können, wir werden sie nicht einmal
begrifflich fassen können, geschweige denn verstehen
können, wenn wir unter allen an die Knnst her-
angetragenen Voraussetzungen einen Nenner
suchen wollen, der alle Erscheinungen der Moderne
unter seine Einheit begreift. Jede Voraussetzung,
sei es eine religiöse, eine politische oder eine
ästhetische, wird vor der bloßen und reinen Er-
scheinung der Knnst gegenstandslos werden.
Eine dieser anßerkünstlerischen Voraussetzungen
ist jene immer wieder neu auftaucheude Forderung
nach einheitlicher Dnrchgestaltnng unseres künst-
lerischen Vorstellungsbildes, nach einheitlicher Er-
scheinung der künstlerischen Phänomene; man sagt:
das mache das Gesicht der Zeit, mache seinen Stil
aus. Der Gedauke ist Wohl so, als unterliege
jede Zeit einmal festgelegten Absichten, als bekäme
jede Zeit gewissermaßen bestimmte unumstößlich
zu leistende Aufgaben vom Schicksal gestellt, die
nun die in der Zeit bestehende Knnst einheitlich zu
lösen hätte. Vom abstrakten Denken der Ge-
schichte ans ist diese Vorstellung richtig, sie ver-
sagt aber gegenüber der Erfahrung. Geschichtlicb
abstrakt gesehen (also mit der Erfahrung von jetzt
vier Jahrhunderten) bestand etwa die Renaissance
als wirklich festes, geschichtliches Phänomen, als
zeitliche Aufgabe, cla k'ueto aber, und das sagt
uns unsere geschichtliche Erfahrung, bestand neben
den Formen der Renaissance noch eine Vielfalt
genossen diese uns heute so bestimmend er-
scheinende „renaissancische Aufgabe" sicher über-
deckten, bestenfalls diese neuen Formen der Re-
naissance als zukünftig gelten ließen. Die uns
heute zugängliche Geschichtsaufgabe, die wir als
solche zu erkennen meinen, deckt sich also noch lange
nicht mit dem Gesicht der Zeit, wie es damals dem
Zeitgenossen erschien. Gliedern wir unsere Ge-
schichte starr und unbedingt nach einheitlicher ge-
schichtlicher Kontinuität, nach Jahrzehnten und nach
Jahrhunderten, indem wir für jede zeitliche Ver-
gangenheit eine einzige bestimmte Stilabsicht
setzen, vergewaltigen wir die Erscheinung und das,
was hinter der Erscheinung steht, — das Leben.
Es ist historisch nicht zu begründen und Psycho-
logisch nicht einzusehen, daß etwa Dürer absolut
uud relativ, d. h. nach Frage der absoluten
Qualität uud nach Seiten der zeitgenössischen
ist das eine Epoche, die noch vor ganz kurzer Zeit
als geschlossene und wuchtige vor allen anderen
verehrt wurde, ihr „gesammeltes Sein" heutigen
Geschlechtern als Mahnmal entgegengehalten
wurde. Heute zerfällt uus diese Anschauung, und
selbst (und gerade) die italienische Renaissance
wurde zu einer fiebernden Zeit, in der die Weis-
heit sich dem Dämonenglauben opferte, ein ein-
ziger heißer Krater voller Gebärmöglichkeitcn die
Untergangsstimmung der europäischen Welt
nährte, erhitzte Todesvorstellungen sich mit wahn-
witziger Anmaßung Paarten (Baldung, der sich
einmal selbst einen zweiten Apelles nennt, fiebert
in den Apotheosen vielfältiger Vergänglichkeit).
Im Florenz detz ausgehenden 15. Jahrhunderts
treten ganz dicht zusammen Humanismus und
Astrologie, antike Mythologie und orientalischer
Dämonenglaube, dogmatische Nettuugsversuche
verzweifelter Kleriker und klirrende Angriffe Ab-
trünniger gegen die kirchliche und geistige
Hierarchie. Und über alles hinaus fieberte jeder
uach einem Ziel, das sich tausendfältig spaltete und
tausendfältig anders gesehen wurde und tausend-
fältige andere Wege nahm, denn cs war ein Ziel,
das jedem allein sich stellte: der Aufmarsch zur
Freiheit der Person. Aber gegen welche Feinde:
es war eine theologische Metaphysik und die durch-
gängig verbindliche Astrologie, die den Menschen
abhängig sein ließen entweder von den Grund-
themen der göttlichen Gnade (des Uexnnrn xrakiae)
logischen Sternenglaubens (des Ue^nnrn nukurue).
In solchen Formen kämpfte, siegte oder unterlag
jeder für sich. Wie war es denn mit der pla-
tonischen Akademie, die so selbstbewußt begauu;
plötzlich begann sie zu zittcru, wurde unverständ-
lich und warf sich in dem großen Aufruhr fana-
tischer Ekstase, den Savanarola auslöste, diesem
Mönche von S. Marco vor die Füße. Dann ver-
brannte man Savanarola. — Aber genug: wir
wollten nur zeigen, wie selbst eine Zeit, die so ge-
festigt und einheitlich-zielbewußt uns schien, bei
näherem Zusehen sich auflöst in ein bewegtes
Gegen- und Jneinanderarbeiten, das vom ge-
schichtlich-einheitlichen Bild, das wir uns allgemein
machen, allermindestens so weit entfernt ist, wie
es unsere Zeit von ihm ist.
Indessen ist mit der Feststellung der zeitlichen
Mannigfaltigkeit und deren geschichtlicher Sanktio-
Der Totentanz in der Marienkirche in Berlin.
Wertschätzung, Repräsentant seiner Zeit sein kann,
denn neben ihm steht Grünewald, neben ihm er-
füllen sich Stilabläufe, die mit Veit Stoß etwa
begannen und sich im Meister H. L. und in
Morgenstern und in Klaus Berg vollenden. Das
tumultuarische Geschehen, das dem Zeitgenossen das
Bild seiner Zeit so sehr verwirrend macht, das
statische und dynamische, monumentale und grazile,
klare und ekstatische Vorgänge und Formungen
durcheinanderschüttclt, ist zur Zeit der Renaissance
nicht im geringsten beruhigter gewesen. Dabei
Unbekannter Meister
niernug noch nichts getan, so sehr es auch wichtig
ist hinzuweisen ans das notwendig „Chaotische"
jeder Zeit. Man kann platterdings keine Zeit, und
sei sie selbst unsere moderne, diffamieren, indem
man sie als „chaotisch" abtut; man charakterisiert
sie nicht einmal damit, denn jede Zeit erscheint
jedem Kundigen so, nur der Einfältige glaubt an
ein historisches Ruhekissen, ans das er sich beschaulich
und die unruhige Zeit verklagend niederläßt.
(Fortsetzung Seite 2)
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Christian Miss
2iirri 85.
Geb. d. 22. XII. 1849 zu Niendorf bei Seqeberg
(Holstein)
„Daß du nicht enden kannst,
das macht dich groß!
Goethe
Wie einen Van Gogh, diesen Wikinger des
Geistes, der Drang in die Ferne bis nach Süd-
frankreich trieb, von wo er nie wieder heimkehrte,
anscheinend Sprache und Sitte Hollands vergaß,
während er in Wahrheit in jeder Faser seines
Ä'ns. in jedem Strich seiner vulkaniscb heraus-
'PsZeuoerten Werke nur den Blutst>.om des
nordischen Menschen offenbart, ebenso ist auch
Christian Rohlfs früh der Enge heimischer Land-
schaft entlaufen und blieb doch ein Kind der
niedersächsischen Erde, deren Wesen sich in ihm
verkörpern sollte. Denn in seinen Adern fließt
edles Bauernblut. Noch heute steht die schlichte
Räucherkate, in der er geboren ward. Beim Kühe-
hüten draußen im Felde schloß der Knabe seinen
Bund mit dieser Erde. 20 Jahre später schritt im
Norden desselben Landes wieder ein anderer
Bauernjunge hinter dem Pfluge her und erlebte
offenen Auges, wie Rohlfs, das Wunder der Natur,
hegte hohe Träume künftiger Künstlerbestimmung
im Herzen: Emil Nolde! Im Niedersachsenvolk
springen die Quellen des Wesens beider Künstler;
aus diesem Mutterboden strömte in ihre Kunst das
Urgesunde, die erdgeborene Kraft. Rohlfs zumal
erscheint wie ein sommerlich reifes Ährenfeld, das,
aus schwerem Marschboden aufschießend, reiche
Frucht trägt. Seine Kunst ist so einfach wie
Naturgewächse. Noch der alte Rohlfs bekennt sich
zu dieser Natur in seinem Wort: „Die Natur soll
mau nicht als feinen Wein wie Wasser saufen,
aber froh sein, daß es eine gibt!"
Schließlich dankt Rohlfs — wie Nolde — seiner
Rasse dies eine: er blieb sich selber treu, machte
nie irgendwelche Zugeständnisse, sondern hielt sein
Auge unverrückt auf sein Ziel gerichtet; Ehrlichkeit
und Unbestechlichkeit und Wahrheit sind seine
Eigenschaften.
Früh schon beginnt die Tragödie seines Lebens;
der Knabe fällt vom Baum, wurde zehn Jahre
ans Krankenbett gefesselt, sein Bein mnßte abge-
nommen werden. Auf dem Krankenlager erwacht
in ihm der Trieb zu zeichnen. Ist es nicht er-
schütternd, wie sich die Kunst zu diesem armen
Knaben herabneigt, ihn weiht, ihm für alle ver-
lorene Jugend Freude zu spenden? Daher be-
greifen wir von Anfang an den tiefen Ernst seiner
Kunstbemühungen. Sein Herz, durch Schmerzen
geläutert, hat immerdar viel zarte Empfindung
für Wundmale bewiesen. So beginnt in dieser
Stille der Werdeprozeß dieses Künstlers. Diese
seine ältesten Zeichnungen sind noch erhalten, sie
offenbaren einen scharfen beobachtenden Sinn; das
Töten einer Kuh z. B. ist fast impressionistisch mit
wenigen Strichen sicher festgehalten, daß man un-
willkürlich an japanische Meister, wie Hokusai,
denken muß.
Durch Vermittlung des Dichters Theodor
Storm wird Rohlfs 1874 Schüler der Weimarer
Akademie. Äußerlich fließt sein Leben ruhig da-
hin, etwas von epischer Breite alter Erzählungen
lagert darüber, daß man bedauert, daß Rohlfs uns
keine Lebenserinnerungen hinterlassen hat — wie
L. Richter. Doch gärt es unter der Oberfläche,
faustisches Suchen quält ihn. Das liegt im Blut.
Wieder tritt die Sorge an ihn heran. Weil
er kein Bett hat, schläft er in einer Kiste; schlim-
mer als das, ihn hungert. Wochenlang lebt er von
einer Semmel am Tage, bis er ohnmächtig vor der
Staffelei zusammenbricht.
Auf künstlerischem Gebiet findet Rohlfs Mit-
streiter: Buchholz, Th. Hagen, P. Baum und
andere. Die Strömung der Zeit reißt auch ihn
mit sich fort. Man spürt frischen Morgenwind in
deutscher Kunst zu Anfang der 80er Jahre. Da
Rohlfs kein Geld hat, sich Modelle zu halten,
Alexander Zschokkc, Christian Rohlfs
Wendet er sich der Landschaftsmalerei zu. Er wird
Entdecker der Schönheit Thüringischer Landschaft.
Wie sie zumal im Herbst alle Einzelheiten im ver-
dampfenden Licht auflöst, die mächtige Symphonie
von Farbe- und Lichtimpressionen anstimmt, das
mußte sein Künstlerauge zum impressionistischen
Sehen erziehen: atmendes Leben zieht in seine
Kunst ein, auch sie wird ein Sang auf die Schön-
heit des Lichtes. Seiner Farbe die Leuchtkraft der
Sonne zu verleihen, wird Ziel seiner Kunst. Wie
ein Musizieren in Farben mutet diese Malerei an.
Der große Saal im Weimarer Museum ist Rohlfs'
Beitrag zur Landschaftsmalerei des 19. Jahr-
hunderts; er besteht neben den Besten seiner Zeit,
aller Zeiten.
Rohlfs, der das Wort gesprochen hat: „Das
Kunstschaffen geschieht aus Instinkt", geht hinfort
mit nachtwandlerischer Sicherheit seinen Weg,
länger als ein halbes Jahrhundert die deutsche
Kunst begleitend. Es gleicht dem stillen, Pflanzen-
haften Keimen und Werden, wie sich in seinem
Schaffen Jahresring um Jahresring organisch
legt, bis diese Kunst ihre höchste Blüte entfaltet.
Wie ist das alles doch Goethe verwandt!
Diesen Erfolgen verdankte es Rohlfs, daß Ost-
haus ihn 1901 nach dem Folkwangmusenm in
Hagen beruft. Würdig reihte sich dort unser
Maler ein in die Reihe großer Meister der Völker.
Sein großes Erlebnis innerhalb dieser Zeit wird
eine Ausstellung Van Goghs (1902), über die er
kurz und bündig schrieb: „Van Gogh — das ist
eine Nummer erster Güte!" Denn auch Rohlfs
ist nie ein Impressionist in der Tiefe seines
Herzens gewesen, er war zu deutsch, immer über-
wiegt bei" ihm der Gehalt, immer gestaltet er eine
Weltanschauung. Wie Van Gogh in Arles die Er-
füllung seiner Künstlerträume fand, so entdeckte
Rohlfs damals — ein zweiter Wackenroder — die
schöne deutsche Stadt des Mittelalters in Soest.
„Ich habe mich den ganzen Sommer an Soest be-