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Kunst der Nation — 2.1934

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Theunissen, Gert H.: Ikarus oder die Leidenschaft der Kunst
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Wieszner, Georg Gustav: Michael Wohlgemut: dem Lehrer Dürers zum 500. Geburtstag
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n. Ihg., Nr. s, 15. flpril 1934

Verlag Kunst der Nation G. m. b. L., Berlin W 62, Kurfürstenstr. 118. Telefon: B 5, Barbarossa 1260.
Bankkonto: Commerz, und Privatbank A.G, Dep.-Kasse M., Berlin W50, Tauentzienstraße 18a. Postscheck-
tonto Berlin Nr. 55241. Erscheinungstermin: 1. und 15. jeden Monats. Bezugspreis: vierteljährlich
1,80 Mk., jährlich 7,20 Mk. Zu beziehen beim Verlag, bei der Post oder beim Buchhändler.

Einzelpreis 3d Pfennige

Ikarus oder die Leidenschaft der Kunst
Von
G. H. Theunissen

Die Eröffnung der Ausstellung „Italienische
Futuristische Lust- und Flugmalerei", deren
Ehrenausschuß der Ministerpräsident Göring und
der italienische Botschafter Bittorio Cerruti an-
gehören, war ein Ereignis, unter dessen Schatten
die Bilder der Spiralflüge, Kosmischen Land-
schaften, Luftrhythmen und Außerirdischen Geistig-
keiten ein wenig verblaßten. In den Räumen der
Ausstellung, Berlin, Lützowufer 13, drängten sich
die Prominenten und Namenlosen aller Berufe
und Klassen: Diplomaten, Prinzen, Künstler,
elegante Frauen mit modernsten Ansprüchen und
Dichter aus dem Geschlechte der Ringelnatze und
anderer Zauberer, dann auch einige finster drein-
blickende Reaktionäre, die geduldig ihr Todesurteil
erwarteten. Auf dem Podium und im Anfang
des Futurismus steht Se. Exzellenz Dr. F. T.
Marinetti, Mitglied der Kgl. ital. Akademie,
Führer der Futuristen und ein Dichter, dem ein
Gott gab zu sagen, was den einen ein Ärgernis,
den anderen eine Erlösung bedeutet. Er tritt mit
dem Anspruch unbedingter Totalität auf und
spricht in einem geschliffenen Französisch von der
Sendung seines Genies, das sich mit dem Genie
der italienischen Erde auf das innigste vermählte.
Ein Mann mit Krallen, Witz, Geist und mit den
Gesten eines Herrschers. Die Zuhörer erleben das
Schauspiel eines Menschen und Propheten, der
sich mit wildem Zorn auf die stürzt, die sich in
ihrer Naivität niemals einer futuristischen Sünde
schuldig gemacht haben. Er bettelt nicht, er darf
fordern. Die Welt zerfällt plötzlich in zwei Hälften,
in Oie .yemgpyare oer ^umristeu iuio in on
Nicht-Futuristen, die das Leben in einer wider-
sinnigen Laune gebar. In den Pausen der
stammenden Rede über die Berufung des Futuris-
mus, eingekeilt zwischen zweitansendjähriger
Tradition und der schwülen Trägheit gummikauen-
der Bürger, wird sich der also mitgerissene Zu-
hörer, soweit seine Lungen noch Ozon vertragen
können, seiner immer winziger werdenden Existenz
bewußt und faßt den kühnen Mut, sich gegen den
Ansturm eines heiser über die sich duckenden Köpfe
hinweggeschrieenen monolo^ue interienr zu be-
haupten. Fast unmöglich. Ein Dichter und Be-
sessener spricht. Spricht? Er stöhnt, verflucht,
heiligt, schnellt empor, taucht unter, springt wie
ein Raubtier den Zaudernden an, rattert und
blitzt. Willkommen, willkommen, murmeln die
Herzen, doch einige Köpfe beginnen diskret zu
schütteln und stellen kleine Anachronismen in der
Entwicklung der modernen europäischen Kuust-
enthusiasmierung, insbesondere der deutscher: und
italienischen, fest. Will sagen: in ihrer seit einiger
Zeit etwas auseinandcrklaffenden Parallelität.
Den Futurismus haben wir — Verzeihung! —
nie recht überwinden können. Aber die Bedenken
lösen sich sofort wieder auf und zerflattern im
Sturm dieses Dichters. Er reißt die verschwitzten
Masken von den Gesichtern, die nun weniger ehr-
würdig aussehen als zuvor, er bricht die Brücken
hinter sich ab und schwefelt die Schlupfwinkel aus.
Tradition hat einen schlechten Klang, Historiker
schlagen sich gegenseitig mit Füllfederhaltern tot;
Marinetti lacht und schlägt wie ein herrlicher


Fillia, Kosmische Landschaft

Pfau das Rad seines bunten Gefieders. In
Mussolini hat er den Freund seiner Taten und
Bilder gefunden. Der Futurismus ist keine x-be-
liebige Richtung mehr, keine schlechte Manier am
wohlgedeckten Tisch der besseren Gesellschaft, kein
Stil'— Futurismus ist ein Synonym für Herois-
mus, für romanische Rasse. Marinetti hat die
revolutionäre Kunst — eine Tautologie! — über
sich hinausgehoben in den Sinn seines siegreichen
Vaterlandes. Unter allen Päpsten der euro-
päischen Richtungen gelang es ihm als einzigen:,
zur Allgemeingü'ltigkeit vorzustoßcn und zur An-
erkennung durch den Staat, indem er seine

Träume nut denen seines Vaterlandes verschmolz
und der Bürger nicht achtete, die den Kindern den
Inhalt ihrer Träume vorenthalten. Mussolini
ist der politische Futurist, ohne ihn wäre heute
Italien eine verstaubte Ansichtskarte. Marinetti
und seine Jünger im Manifest sind die künst-
lerischen Inkarnationen eines um 1909 den:
Vesuvgehirn und dem Höllenherzen Marinetti ent-
sprungenen Gedankens, die Zeit zu Packen, das
heißt: die Zeit an sich, um sie am Schopfe über
die von Ballonreifen blank polierten Asphalt-
straßen Europas zu zerren. „Plastischer Dynamis-
mus", Gleichzeitigkeit, „Simultaneitü" sind die
orphischen Nrworte, aus denen die italienische
Moderne hervorging. Ihre heroische Lebensauf-
fassung entfesselt das Dasein des Maschinensklaven.
Flugzeuge, Autos und Marinettis bevölkern den
neuen Kontinent. Schlackeulos geht der reine
Geist, la Poesie pure, aus dem Unrat der Tradition
hervor. Die Lauen und Aufgewärmten haben
kein Daseinsrecht. Sie sind lästig wie ein
Schnupfen, sie sind kleine Steinchen im Räder-
werk des Futurismus. Marinetti wendet sich
scharf, wenn auch ein wenig unkollegial, gegen
etliche andere Richtungen, deren Vertreter es sich
hinter Casehaustischen in Zürich während des
Krieges gut sein ließen. Faschismus und Futuris-
mus aber trafen sich zu entscheidender Stunde in
Milano und hielten sich fortan felsenfeste Treue
und Kameradschaft. Sinnlos wäre es, Frauen-
akte in allen möglichen Lagen noch weiterhin zu
malen, ohne sich lächerlich zu machen. Hier drohe
te:ne Gesayr. 2L:rlUcy? ^ue puuch:
hat schon die besten Stilleben zerschlagen. Aber
die Stabilität der Wirklichkeit ist nicht die Ruhe
des Wachsens, sondern die Kurzschlüssigkeit einer
brillanten Dialektik, in ihre Turbulenz steuert die
„Aeropittura". llber dem alten Ron: erhebt sich
das neue; Gleichzeitigkeit der Jahrtausende. Auf
irgendeine Weise wird auch der Futurismus mit
der Tradition auf legale Art fertig. Die Inter-
pretation ist alles. Sowohl bei den Futuristen,
als auch bei Spengler. Ikarus! Ikarus! Aber
die Sonne ist längst nicht so glühend wie der Wille
Marinettis und der anderen Futuristen. Ihr
Ethos ist lang, ihre Kunst hoffentlich auch. Ihr
Ethos ist der Ventilator der muffigen Kunststube::
und Altersheime für Kunst und andere Schand-
taten. Marinetti spricht. Immer höher schraubt
sich der plastische Dynamismus in die Lüfte der
entwirklichten Künste. Die Maschine offenbart
die Mechanik ihrer zuckenden Seele. Die Mechani-
sierung der Welt mögen die verdammen, deren
Geist zu schwach ist, sich in einer Höhe von fünf-
hundert Metern in Tauben zu verwandeln.
Marinetti predigt den hundertprozentigen Fort-
schrittsglauben, der über die Marmorträume eines
Michelangelo sich tapfer hinwegsetzt, Giotto
ignoriert und Dante die Fußreisen durch Himmel
und Hölle übelnimmt. Es lebe das Auto, doch
über allen: entschwebt in neue Regionen das
Flugzeug. Und über dem Flugzeug bricht sich das
Echo der donnernden Stimme Marinettis. An-
fang und Ende des Futurismus.
Vor ihm sprachen Dr. Rudolf Blümner und Ruggero
Vasari. Blümner, aus dem „Sturm" der Expressionisten ver-
dienstvoll hervorgegangen, letzter Recke kühn streitender
Kämpferscharen, machte auf die den Futuristen verwandten
deutschen Abstrakten aufmerksam, deren Werke sich nicht
selten mit dem Futurismus überschneiden und die auch Mari-
netti des öfteren als Avantgardisten der Moderne begrüßte.
Es handele sich nicht um eine billige Abwechslung in der
künstlerischen Darstellung, sondern um die Gewinnung eines
neuen Standpunktes, des „stato cl'animo", von dem aus
man den Geist der Epoche, den „spirito clotl'opoaa", be-
greife. Die Loslösung von der Realität sei notwendig, um
den Sinn hinter der Wirklichkeit zu verstehen, den das
Flugzeug erschließen helfe. — Vasari gab einen ausgezeich-
neten Überblick über das Werden und Wirken des Futuris-
mus seit der Veröffentlichung des ersten Manifestes im
„Figaro" bis zur heutigen Luft- und Flugmalerei, bis zur
„Aeropittura". Er sprach von der allseitigen Begeisterung,
die Mussolini den „Zerstörern und Erneuerern: den Futu-
risten" entgegenbrächte und kennzeichnete trefflich die Schleich-
wede der Reaktion, die den Futurismus als eine Kunst bolsche-
wistischen Ursprunges bezeichneten, was eine unerhörte Fäl-
schung der Kunstgeschichte wäre. Er führte den schlagenden
Ausspruch Gauguins an: „In der Kunst gibt es nur Revo-
lutionäre oder Plagiatoren!" Es sei immer das Schicksal
der Wegbereiter des Neuen gewesen, verlacht zu werden.
„Ein neuer Staat, ein neues Volk kann nur dann gedeihen,
wenn auch die gesamte Kunst revolutioniert wird", führte
Vasari aus und sprach damit den Zuhörern aus der Seele.
Und: „Wer in der Kunst einen Mut zeigt, wird ihn auch
in keinem anderen Kampf an den Tag legen. Nehmt auch,
ihr jungen Künstler, die Gefahr auf euch, verlacht und ver-
höhnt zu werden, wenn ihr die neuen Wege der Kunst geht,
ohne die die Welt nicht bestehen kann." Ausgezeichnet!
teuerer Vasari! Wenn es auch nicht immer der verabsolu-
tierte Futurismus ist, der uns entflammt, so doch solche und
(Fortsetzung Seite -t)


Riemenschneider, Apostel. Rothenburg

Photo Köhler

Michael Wohlgemut
Dem Lehrer Dürers zum 500. Geburtstag
Von
Georg Gustav Wießner

Michael Wohlgemut wurde 1434 in Nürnberg
geboren. 1516 hat ihn, Wjährig, sein großer
Schüler Dürer gemalt, 1519 ist er gestorben. Um
sein Leben flocht sich die Legende unerhörten
Fleißes. Als Pirckheimer im Auftrage der Mutter
Dürers bei diesen: in Venedig anfragte, was mit
dem leichtsinnigen Bruder Hans geschehen solle,
kam die Antwort:
„Sprecht, daß sie mein Bruder zum Wohlgemut
tu, auf
daß er erbet (arbeitet) uud nit erfaul."
In diesem einen Satze ist Wohlgemuts Art
umschrieben: Arbeiten lernt man bei ihn:. Das
Genie denkt nicht daran, vom Lehrer Unerhörtes
zu verlangen. Dürer ist Wohlgemut daukbar für
das gründlich erlernte Handwerk. Er, der gerade
brennenden Geistes nach den: Neuen sucht, weiß
den Wert festverankerter Tradition zu schätzen.
Wohlgemut war damals — 1506 — der Altmeister
der Nürnberger Malerschule. Auf ihu uud seine
Werkstatt häufte die spätere Geschichtschreibung
saft alles, was in Nürnberg vor Dürer in der
Malerei geschah.
Selbst Pleydenwurffs Ruhm, der iu den 1450er
Jahren den niederländischen spätgotischen Natura-
lismus in die fränkische Reichsstadt brachte, ging
auf seinen Nachfolger inEhe und Werkstatt, Michael
Wohlgemut, über. Mit Fleiß hat er solches Erbe
verwaltet. Er war kein Faust, aber er vertrat den

Teil im Charakter Wagners, der auch diese Ge-
stalt so lieb uud wert macht, deu Fleiß und die
Treue zur Arbeit au sich:
Tut uicht eiu braver Mauu genug, .
Die Kunst, die man ihm übertrug,
Gewissenhaft und Pünktlich auszuüben?
Von Pleydenwurffs Tradition, von Dürers
Erfüllung her kommen die Strahlen, die Wohl-
gemut beleuchten. Er ist der Stille in stürmischer
Zeit, steht neben den Kommenden, wie drei-
hundert Jahre später Salomon Geßner oder Wie-
land neben Goethe. Langsam und tastend geht
sein Weg und seine Probleme drängen sich nicht
auf. Die Stille seines Lebens ging selbst auf
seine Werke über, sie hielten unverrückt der Zeit
stand. In Straubing und Zwickau, in der kleinen
Hl. Kreuzkirche und in St. Lorenz in Nürnberg,
in Schwabach stehen die gesicherten Hauptwerke
noch am alten Platz. Die Zeit ist an ihnen vor-
beigegangen, wäre der vierhundertste Todestag
Dürers nicht gewesen, nie wären sie unserer Ge-
neration so geschlossen vor Augen getreten, wie in
der Dürer-Gedächtnisausstellung des Germanischen
Museums. Es wurden Geschichten erzählt über
den Meister und seine Werkstatt, aber sein Werk
wurde uicht in die Diskussionen gezerrt, die um
die Bilder in berühmten Galerien laut werden.
In jener aufschlußreichen Ausstellung reihte er
sich still zu den Alten, und zwischen ihren Säler
 
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