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Kunst der Nation — 2.1934

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Einem, Herbert von: Gedanken zur Geschichte der deutschen bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, [1]
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Kunst der Nation

3

Gedanken zur Geschichte
der deutschen bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts
Von

Herbert
i.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht
sich eine der eigenartigsten nnd tief greifendsten
Umwälzungen, die die Geschichte innerhalb einer
kontinuierlichen Kulturentwicklnng kennt. Es ist
fast wie eile Rätsel, daß die gewaltigen geistigen
Bewegungen, die aus dem Mittelalter heraus-
führten, die vom Mittelalter geschaffene Grund-
form des Lebens nicht zerstört haben, daß
Renaissance, Manierismus und Barock vielmehr
als Erweiterung denn als Verneinung der voran-
gehenden Entwicklung erscheinen. Fragen wir,
was diese scheinbar so gegensätzlichen Bewegungen
im letzten Grunde zu einer Einheit verbindet, so



Alexander Kanoldt, Sclbstbildis 193V
Ausstellung Freiburg 1931
ist es eine unbezweifelbar religiöse Vorstellungs-
form, deren Niederschlag wir in allen Äußerun-
gen des Lebens finden. Ganz gleichgültig, wie
sich die Vorstellungen im Laufe der Jahrhunderte
inhaltlich wandelten, die Gewißheit einer objek-
tiven, unabhängig von dem Dasein des Menschen
lebendigen göttlichen Realität, die Möglichkeit
einer letzten, außerhalb des Menschen liegenden
Bindung blieb unangetastet. Was an Kräften
lebendig war, wurde aus einem gemeinsamen
Lebensgrunde entwickelt, und wirkte seinerseits
auf eine Gemeinschaft zurück. In gegenseitiger
Befruchtung war zwischen Schassenden und Aus-
nehmenden eine Einheit, von der uns heute kaum
mehr als der Begriff geblieben ist.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist diese
organische Entwicklung abgeschlossen. Die Kräfte,
die die Kultur immer wieder hatten erneuern
und lebendig erhalten können, erloschen und
Wichen Gegenkräften, die seit Jahrhunderten auf-
lösend am Werke waren. Mit dem Zusammen-
bruch der religiösen Vorstellungswelt zerfiel der
gemeinschaftlich-objektive Grund, der das gesamte
geistige Leben getragen hatte. Eine allgemeine
Unsicherheit und die Gefahren subjektiver Willkür
traten an seine Stelle. Die gestaltenden Kräfte,
die bisher gleichsam der Gemeinschaft angehört
und sich in einzelnen nur manifestiert hatten,
zogen sich auf einzelne Wenige zurück, zwischen
denen und ihrer Zeit sich ein Zwiespalt auftat,
der bisher unbekannt geblieben war. Die Zeit
selbst wurde unfruchtbar.
Diese Umwälzung traf die bildende Kunst in
ihrem tiefsten Mark. So wenig die geschichtliche
Mannigfaltigkeit sich in bestimmte Formeln ein-
zwängen läßt, und so viele Fäden vom 18. ins
19. Jahrhundert hinüber- und herüberspielen,
prinzipiell gesehen liegt in der Mitte des
18. Jahrhunderts ein tiefer Bruch. Die Kunst
als verbindliche allgemein verständliche Sprache
nnd als Ausdruck einer gemeinsamen Welt-
anschauung stirbt ab. Was in Zukunft hervor-
gebracht wird, ist entweder heroischer aber ver-

v. Einem
geblicher Versuch, das Alte wieder zurückzugewin-
uen oder entschlossenes sich Hinwenden zu Zielen,
die in ganz anderer Richtung, nämlich in Rich-
tung des Individuellen und Subjektiven liegen.
Die tragische Folge dieser Wandlung ist eine zu-
nehmende Vereinsamung der Kunst und des
Künstlers. Es muß hier schon betont werden,
daß es falsch ist, in so entscheidenden geschicht-
lichen Wandlungen die Schuldfrage zu stellen.
Kulturen sind keinen anderen als organischen
Wachstumsgesetzen unterworfen. Ihre Formen
sind durch ihr Älter bedingt. Es ist unmöglich,
sich gegen diese Gesetze aufzulehnen. Es ist aber
Wohl möglich — und tatsächlich im Großen bis
in unsere Tage gesehen — in den gegebenen
Formmöglichkeiten das Höchste zu erreichen.
Zwei Bewegungen sind es, die wir um die
Wende des 18. Jahrhunderts in der Geschichte der
bildenden Kunst beobachten können, Klassizismus
und Romantik. Beide sind nur aus dem genann-
ten Entwicklungsbruch zu verstehen, beide stehen
in der geistigen Auffassung wie in der künst-
lerischen Durchformung ihrer Themen in schar-
fem Kampf gegen die verflossene Kunst des
Barock. Beide wollen in Sinn und in An-
lehnung an eine als groß empfundene Vergangen-
heit einen Neuanfang. Aber beide sind unter-
einander grundsätzlich unterschieden. Der Klassi-
zismus sucht und betont die Eigengesetzlichkeit
der Kunst. Er will sie befreit wissen von der Vor-
mundschaft der Kirche, des Staates, der Moral,
der Sittlichkeit. In der griechischen Antike sieht
er sein Vorbild. Die deutschen Klassiker, Goethe
und Schiller, kämpfen auf seiner Seite. Die
Romantik setzt die klassizistische Bestrebung bereits
voraus. Sie sucht aber aus ihrem tiefen Einsam-
keitserlebnis die vom Klassizismus verneinte Bin-
dung wieder zu gewinnen. Ihr Vorbild ist nicht
die ins allgemein Menschliche gedeutete Antike,
sondern die Gemeinschaftskunst des christlichen
Mittelalters. Neben dieser sogenannten nazareni-
schen Richtung der Romantik schassen ein Paar
romantische Künstler in bewußter Einsamkeit. Sie
wissen um die Situation ihrer Zeit. Sie suchen
nicht ein endgültig verlorenes Allgemeines, son-
dern ein jetzt möglich gewordenes Individuelles.
Sie verlassen den Weg der Gemeinschaft und
suchen für das Individuum zu gewinnen, was die
Gemeinschaft verloren hat.
II.
Von diesen beiden Bewegungen trat in der
Folge der Klassizismus zurück. Die Romantik
dagegen in ihrer nazarenischen Ausprägung
machte eine entschiedene, aber konsecsnente Wand-
lung durch, die ihr eine noch lange Lebens- und
Wirkenszeit sicherte. Bei allem Gegensatz roman-
tischer und klassizistischer Kunstanschauung gerade
in der zentralen Frage der Einbindung der Kunst
in einen übergeordneten Zusammenhang war die
Romantik doch zunächst mit dem Klassizismus
einig gewesen in der Ablehnung der alten Bin-
dungen. Das Dogma von der Genialität des
Künstlers und der Unerlernbarkeit der Kunst, das
die Klassizisten nicht müde wurden, der staatlichen
Kunsterziehung durch Kunstakademien entgegen-
zuhalten, war auch das Ihrige gewesen. Im
Jahre 1810 hatten die Nazarener mit Protest die
Wiener Akademie verlassen. Das änderte sich
jetzt. Die ursprünglich akademiefeindliche Roman-
tik eroberte sich die Äkademien. Aus einer revo-
lutionären wurde eine offizielle Kunst. Peter
Cornelius entfaltete in München, Wilhelm Scha-
dow in Düsseldorf als Akademiedirektor eine wir-
kungsvolle Tätigkeit. In diesem Vorgang spiegelt
sich die Entwicklung der ganzen Zeit. Der Sieg
der nazarenischen Romantik über den Klassizis-
mus hat sein Gegenbild in der politischen Restau-
ration der Monarchien, in dem Sieg des neuen
Gottesgnadentums über die Ideen von 1789. In
beiden Fällen aber handelt es sich um einen
Scheinsieg. Sehr bald mußte sich — im Politi-
schen wie im Künstlerischen — Herausstellen, daß
dem Wollen die Kräfte fehlten, daß die Sehnsucht
nach einer religiös fundierten neuen Gemein-
schaft nicht der Ausdruck natürlichen und selbst-

verständlichen Gemeinschaftsfühlens, sondern
gerade das Symptom ihres Nichtmehrvorhanden-
seins war. An die Stelle der Natur trat der
Wille, an die Stelle schöpferischen Lebens reaktio-
näre Erstarrung. Die Folge war, daß die Pro-
duktiven Kräfte dieser Spätphase der Romantik
den Kamps ansagen mußten. — Die tragische
Situation der Kunst des 19. Jahrhunderts spitzte
sich immer mehr zu. Hatte es sich im Anfang des
Jahrhunderts um den heroischen Versuch gehan-
delt, gleichsam auf verlorenem Terrain noch ein-
mal eine große Kunst zu wagen, so zeigte sich jetzt
nicht nur, daß dieser Versuch selbst mißlang, son-
dern daß er auch die noch vorhandenen Kräfte in
erschreckender Weise lähmte. Die mit soviel echter
Hingabe begonnene Romantik endete in völliger
Unproduktivität und raubte gleichzeitig dem noch
verbliebenen Leben das Licht.

Wir wollen versuchen, uns diese späte Phase
der Romantik historisch verständlich zu machen.
Wir tun es am besten, indem wir sie vergleichen
mit ihrem Wunschbild, der religiösen Gemein-
schaftskunst des Mittelalters. Bedingung der
Größe mittelalterlicher Kunst war die Gemein-
samkeit der christlichen Weltanschauung. Aus-
druck dieser Weltanschauung war der lebendig
wachsende christlich-katholische Mythos. Man
dachte, nach einem Wort Goethes, nicht in Be-
griffen, sondern in Gestalten. Maßstab des
Mythos ist nicht die geschichtliche Wahrheit, son-
dern der symbolische Gehalt, der sich in ihm aus-
spricht. Die bildende Kunst war die natürliche
Sprache dieses Mythos. Sie hatte keine andere
Aufgabe, als den unbezweifelbar vorhandenen
Mythos lebendig sprechen zu lassen, zunächst in
Form gleichsam einer abstrakten Bilderschrift,
später, indem sie die mythischen Gestalten als
handelnd und leidend wirklich darstellte. Immer
war es eine unendlicher Bereicherung fähige ge-
schlossene Welt, die unantastbar und unangreif-
bar den Inhalt abgab, aus dem unerschöpflich die
Kunst schöpfen konnte. Diese Voraussetzungen
waren, wie wir gesehen haben, seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts nicht mehr vorhanden.
Wollte die Romantik eine neue Gemeinschafts-
kunst, so mußte sie notwendig auch streben, die
Voraussetzungen, eben einen neuen Mythos, wie-
der zu schaffen. Ihre Versuche neuer religiöser
Malerei sind allein in diesem Sinn zu verstehen.
Ein Mythos ist aber nur solange möglich, als er

die natürliche Form des menschlichen Vorstellens
ist. Das war in der katholischen Kirche des
Mittelalters und auch (wenngleich in immer ge-
ringerem Maße) der späteren Zeit der Fall ge-
wesen. Seit dem 18. Jahrhundert aber hatte
die Kirche ihre mythische Kraft und ihre Vor-
herrschaft endgültig eingebüßt. Seit dieser Zeit
hatte begriffliches nnd symbolisches Denken das
mythische Denken abgelöst, war (in geistigem
Sinn) an die Stelle eines Kollektivismus In-
dividualismus getreten. Die romantischen Ver-
suche, die aus sich leisten wollten, was ihnen die
Zeit versagte, mußten daher notwendig scheitern.
Vergleichen wir die Spätromantik mit ihrem
Wunschbild, so erkennen wir deutlich, wie Indivi-
dualismus und Mythos sich ausschließen. In
ihren Werken ist das Mythische aus der Sphäre
des Natürlichen und Selbstverständlichen, des

gleichsam Objektiven in die Sphäre des bloß Ge-
fühlsmäßigen, Erdichteten, Subjektiven gerückt.
Es ist sentimental geworden. Das einzelne ist
nicht mehr aus einem lebendigen Ganzen empfun-
den, auf das es zurückgreift, sondern es will selbst
ein Ganzes sein, es will rühren und gefallen,
gleichzeitig aber auch interessant sein. Das
religiöse Interesse weicht dem stofflichen
Interesse. Sehr bald genügte der christliche
Stoffkreis nicht mehr. Je enger die späte Ro-
mantik einerseits ihre Beziehungen zum Hos
knüpfte, je mehr sie andererseits allgemein ver-
weltlichte, um so stärker treten weltlich-historische
Themen in den Vordergrund. Die Historie,
heroisch-sentimental aufgefaßt, wird der Mythos
des unmythischen bürgerlichen 19. Jahrhunderts.

Einen seiner Lehrer, der sich besonders viel auf
seine Kenntnis der alten Instrumente einbildete,
fragte Reger eines Tages, was für ein Instru-
ment die Zage sei. Der Lehrer beschrieb die Zage
sofort als ein Saiteninstrument, ähnlich der Lyra,
nur bauchiger und mit mehr Saiten. „Aha", sagte
Reger und bedankte sich, „nun kann ich mir end-
lich die Bibelstelle erklären: die Israeliten kamen
mit Zittern und Zagen. Denn was eine Zither
ist, habe ich immer gewußt, nur eine Zage war
mir bisher unbekannt . . ."
Max Reger war zuletzt allerhand „geworden",
Professor, Generalmusikdirektor, Ehrendoktor (der
Medizin!), Hofrat. Er war glücklich verheiratet,
hatte zwei Kinder, besaß eine hübsche Villa; aber
der private Reger ging nach seinem Willen die
Öffentlichkeit gar nichts an. Er machte sich nichts
aus Würden, er wollte nur Max Reger sein. Als
er einmal in einer Sommerfrische die Kurliste
studiert und die Eintragung findet: „N. N., Kom-
ponistin, Stuttgart", schreibt er unmittelbar dar-
unter: „Max Reger, Klavierlehrer, Meiningen".
Zuletzt im Januar 1916 ist er bei Maria Deetz in
Saarbrücken zu Besuch. Er erzählt viel aus
seinem Leben, spricht noch mehr von seinem Tod,
den er nahen fühlte. Kein Trost kann ihn, kein
Einwand beruhigen. Endlich gibt er sich einen
Ruck. Er wird fröhlich und erklärt lachend: „Gut
wars im Hotel zur Lustigen Wanzen", womit er
das Heim der Freundin meinte. Und fügt dann
ernst hinzu: „Gel, der Humor ist halt das Beste
im Leben . . .!" Kurz darauf, im Mai 1916, stirbt
er Plötzlich in Leipzig, im Hotel Hentsch, erst
43 Jahre alt. In allzu großer Bescheidenheit, sich
selbst historisch betrachtend, hat er die — zum Glück
falsche — Prophezeiung hinterlassen: „Warten Sie
nur, in zehn Jahren gelte ich auch schon als
Reaktionär und werde zum alten Eisen ge-
worfen . . ."

Hugo Tröndle, Die Treitler. Ausstellung Freiburg 1934


Annemarie Heinrich, Dorf in der Baar. Ausstellung Freiburg 1934
 
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