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Kunst der Nation — 2.1934

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Haftmann, W.: Form und Wirklichkeit: Exkurs über deren Einheit in der modernen Kunst
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Hiebner, Hermann: Ein Sündenregister
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Deusch, Werner R.: Das Grabmahl des Bischofs Wolfhart von Rot
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https://doi.org/10.11588/diglit.66550#0085

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1. August-Nr. II. Ihg., Nr. 15

Verlag Kunst der Nation G. m. b. L., Berlin W 62, Kurfürstenstr. 118. Telefon: B 5, Barbarossa 1260.
Bankkonto: Commerz- und Privatbank A.G, Dep.-Kasse M., Berlin W50, Tauenhienstraße 18a. Postscheck-
konto Berlin Nr. 55241. Erscheinungstermin: 1. und 15. jeden Monats. Bezugspreis: vierteljährlich
1,80 Mk., jährlich 7,20 Mk. Zu beziehen beim Verlag, bei der Post oder beim Buchhändler.


Einzelpreis ZS Pfennige


Memling, Ausschnitt aus dem Altar des Lübecker Doms. 1491.

Form und Wirklichkeit

Der Gegensatz von Form und Wirklichkeit ist
der schöpferische Gegensatz schlechthin; das Ergeb-
nis der Auseinandersetzung zwischen beiden Be-
griffen, die im Künstler vorgenommen werden
muß, ergibt das bewegende Stilmoment. Die
Frage des Künstlers „wie verhalte ich mich zur
Natur" ist der innere Maßstab seiner Kunst. Er
kann die Frage selbst negieren und sich auf die

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Vincenzo Danti unterscheidet zwischen einem Dar-
stellen der Wirklichkeit so, wie man sie sieht, und
einem Darstellen, das die Wirklichkeit so wieder-
gibt, wie man sie sehen sollte. Auf unser Thema
abgezogen ist erkennbar der Auseinanderfall der
schöpferischen Begriffe. Form und Wirklichkeit
stehen sich feindlich gegenüber, die eine die andere

vergewaltigend, formelhaft gesagt: völlige Dis-
krepanz von Form und Wirklichkeit. Diese Zwie-
spältigkeit zieht sich durch die ganze Kunsttheorie
des Manierismus, die einmal (Zuccari) jede
Regel, die aus der Erfahrung oder Wahrnehmung
abziehbar, leugnet, andererseits (Lomazzo) doch
wieder Normen aufstellt (typische Ausdrucks-
bewegungen).
Der Klassizismus kehrt bedingt zurück zur
renaissancemäßigen Anschauung. Die Vorstellung
— sie wird als „Ideal" genommen — ist nur
ein Auszug aus der Anschauung der Natur. Die
idealische Natur gibt der Kunst ihren Sinn, die
reine Form geht ihres Sinnes weitgehend ver-
lustig. Für Goethe ist das Idealische ein Ergebnis
der Erfahrung im Sinnlich-Imitativen, kein
autonomer Akt eines schöpferischen Formbewußt-
seins.
Dieser knappe historische Überblick ist not-
wendig, um die ästhetische Formulierung der Mo-
derne exakt absetzen und historisch einbauen zu
können. Die alte Formel Giordano Brunos von
dem subjektiven Recht der Persönlichkeit auf per-
sönliche Wahrheit kehrt wieder bei Barlach, dessen
einer schöner Satz zu zitieren ist: „Jede Lauter-
keit entquillt einem Bewußtsein des Wahren, ist
nur persönlich formuliert, soviel Persönlichkeit,
soviel verschieden gestaltete Wahrheit." Nach Bar-
lach wäre dann auch (übertragend!) der autonome
Schöpfer der Kunstanschauung der Künstler selbst.
Die Kunstformulierung ist also nicht eine Ange-
legenheit eines außer uns gesetzten Gesetzes (eines
autonomen Gesetzes der Schönheit etwa wie bei
Plato), sondern eine Frage der Kraft und Per-
sönlichen Formulierung der eigenen inneren
Formvorstellung. Das ist die Bewußtseinsgrund-
lage, die der Moderne ganz grundsätzlich eignet.
Auf dieser Grundlage wird die Antithese von
Weise gelöst, sie wird zur Eiuyeit gebracht durch
eine neue Interpretation der Vorstellung. Diese
Interpretation ist eine synthetische. Die künst-
lerische Vorstellung soll sich nicht mehr beziehen
auf die Bestände der Wirklichkeit, also nicht er-
setzt werden durch die Wirklichkeit, sondern Wirk-
lichkeitsform und autonome Form identifizieren
sich in dem Begriff der inneren Vorstellung, die

sowohl „Natürliches" als „Abstraktes" gleicher-
maßen umschließt. Es handelt sich also um eine
Synthese durch einen Oberbegriff, durch den der
inneren Vorstellung, um eine Synthese von Natur
und Geist, von Wirklichkeit und Form; das kann
geschehen durch die Negation der Diskrepanz von
Form und Wirklichkeit im Bild, durch die geistige
Gestaltung eines Bildes zum Symbol hin. Dix
schrieb das so: „Einen Unterschied zwischen geisti-
gem und materiellem Gehalt eines Bildes gibt
es nicht, jeder Inhalt wird durch die Hand des
Künstlers geistig gestaltet, also Symbol." Die
symbolische Bedeutung des Geformten ist in
unserem Zusammenhang nicht so wichtig als die
Aussage der geistigen Gestaltung eines Vor-
wurfes, Umgestaltung der Natur durch formale
Mittel hin zu einer Bewnßtseinseinheit, der
inneren Vorstellung.
„Es bleibt daher", und so schließt sich Hofer an,
„bedeutungslos, ob ich einer aus der bildnerischen
Vorstellung geborenen Vision die Erscheinung der
Wirklichkeit verleihe, ob ich von einer Erscheinung
der äußeren Welt angeregt diese im Geiste um-
forme, oder einer inneren Vorstellung Erschei-
nungsformen verleihe, denen in der gegenständ-
lichen Welt nichts entspricht, also abstrakt mich
ausdrücke, ... da sich eine nicht naturgegenständ-
liche Vorstellung ebenso bildnerisch realisieren
läßt, wie eine Vorstellung, die sich mittels der
Natur ausdrückt."
Die Antithese der beiden Begriffe Form und
Wirklichkeit wird also in der modernen Kunst
zur Einheit gebracht durch das
Medium der inneren Vorstellung.
Dieser Beitrag ist der wesentlich moderne.
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Als während des Weltkrieges die Reimser
Kathedrale durch Artilleriefeuer beschädigt wurde,
erhob sich nicht allein in Frankreich, das ja
schließlich unmittelbar davon betroffen wurde,
sondern auch in England und bis nach Arizona
und Connecticut hinein ein großes Wehgeschrei
über den „unermeßlichen Schaden, den die alte

Autonomie seiner Schöpfung berufen, dann hat
er sie aber bereits verneint, also doch beantwortet
und sich entschieden.
In das Bewußtsein der Künstler und ihrer
Interpreten drang die Erkenntnis dieser Anti-
these, als es nicht mehr möglich war, die Wahr-
nehmung und die geistige Schöpfung zu identifi-
zieren, durch strukturelle Wandlung des Denk-
bildes, als die Kunstschöpfung als persönliche Tat
im Sinne einer völlig autonomen Schöpfung ent-
stand. Das geschah in der renaissancischen Nach-
folge. —, Dürer sagte noch aus seiner Erfahrung
der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert und aus
seiner Kenntnis der italienischen Renaissance-
denker, daß die Kunst in der Natur läge, man
müsse sie nur herausreißen. Das will sagen: aus
der Vielfalt der Erscheinung ließe sich durch die
sinnliche Wahrnehmung die Schönheit selbst
herauslesen, aus der Vielfalt der Beobachtung
könne man die Einheit fast normativ läutern.
Für ihn lag also die künstliche Form, die Schön-
heit, in der Wirklichkeitserscheinung investiert. Die
Bemühungen, im ganzen konform gehend mit
denen der italienischen Kunstdenker, etwa Leo-
nardo oder Alberti, um Maß und Perspektive,
um die Proportion als normativen Maßstab der
Schönheit und um die Mathematik als Gesetz der
Natur, lassen den Sinn so formulieren: Form
ist normative Essenz der Wirklichkeit. Sinnliche
Wahrnehmung und geistige Schöpfung sind also
in ihrem Resultat noch identisch, aber nur ver-
gleichsweise, sie bedürfen bereits der Zwischen-
schaltung einer gewissermaßen optischen Deduktion.
Die Scholastik hatte den schöpferischen Vorgang
in Kunst und Natur völlig und restlos identifi-
ziert. Thomas von Aquino sieht den Grund, daß
die Kunst die Natur nachahmt, darin, daß die
künstlerische Vorstellung und daher auch die künst-
lerische Schöpfung bei der Schaffung der künst-
lichen Dinge genau so vorgehe wie die Natur,
daß ihre Formen also auch genau einander
gleichen müssen.
Die ästhetische Meinung mußte sich grund-
legend ändern, als die Person und deren subjek-
tive Gesetze immer mehr in den Vordergrund
trat und ihr eigenes Verhältnis erkennend, die
Natur und ihre Gesetze leugnete und antithetisch
das Primat der Form formulierte („ich lache
über die, die jegliches Natürliche für gut halten"),
der Form, die nun, gesehen als subjektive Not-
wendigkeit des Künstlers, der Natur das eigene,
persönliche Gesetz gab. Das sagte weniges später
Giordano Bruno so, daß der Künstler einzig und
allein der Urheber der Künstlerregeln sei und
wahre Regeln überhaupt und nur in derselben
Anzahl existieren als es wahre Künstler gäbe.

Phot. Staat!. Bildstelle, Berlin


Eine Schöpfung von unerreichter Ausdruckskraft in der deutschen Skulptur um 1300: das Grabmal des 1302 verstorbenen, im Augsburger Dom bei-
gesetzten Bischofs Wolfhart von Rot. Ein Erzguß imch dem Wachsausschmelzverfahren. Mit Stolz haben — eine ungewöhnliche Erscheinung — die Meister
Otto und Konrad ihre Namen auf der Schmalseite des Fußkissens verewigt: OHO NL ULU Es muß sich hier
um zwei, außerhalb der großen Hüttenverbände arbeitende Einzelmeister ungewöhnlichen Formats handeln, von deren Hand weitere Erzeugnisse nicht
nachweisbar sind.
Ungewöhnlich: ausgelöschtes Leben findet hier, verbunden mit dem Gedanken an eine Persönlichkeit, erste Darstellung. Wird bis dahin und noch
späterhin der Dargestellte in irdischer Leiblichkeit gegeben, so hier, zwar in der Würde seiner aristokratischen Diesseitigkeit, umschattet von der Majestät des
Todes. Es ist die Hülle des unsterblich Gebliebenen, der Extrakt der Persönlichkeit, die offene Prägung des Ewig-Menschlichen, gemauert aus der Struktur
eines Lebens, das Wille und Führertum zum priesterlichen König und Kirchenfürsten bestimmt hatte. Diese letzte Vergeistigung und Entmaterialisierung
im Tode, diese Identifizierung der körperlichen Struktur mit der seelischen, steigt formal auf in der erstarrenden Bewegung des bewegten Körpers, findet
letzten Ausdruck in der stilisierten Vereinfachung der Gesichtszüge, deren Umrisse, noch verschmolzen mit dem kirchlich-weltlichen Jnsignium der Mitra,
erfüllt sind von dem Gesicht des Abgeschiedenen, von der Allgewalt, die Sein und Wissen im Diesseits und Jenseits zu jenem letzten Geheimnis verschmilzt:
der Maske des Todes. R. v eu s eli
 
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