2
Kunst der Nation
Ludwig Kasper, Mädchenkopf
Weil der Schöpfer zu arm ist, um Marmor oder
Farben zu kaufen oder weil er schließlich mit
Lessings „Raffael ohne Arme" eine verzweifelte
Ähnlichkeit hat. So extreme Fälle wollen wir
aber beiseite und übrigens auch die graduellen
Unterschiede nicht außer acht lassen, die von der
Höhe der reinsten Vision Gottes hinabführen bis
zu dem Erlebnis schlichter Landschaften oder eines
Spargelbündels. Innerhalb des rechten Schöpfer-
tums gibt es ja eine ganze Hieraxchie der Ideen;
hier finden die ästhetischen Begriffe von Idealis-
mus, Naturalismus, Ausdruck, Naturnach-
ahmung usw. ihren Tummelplatz. Es kommt
schließlich dabei ebenso auf die Art wie auf die
Intensität der Schonung an, und es ist ein Glück,
daß es soviele Abarten im Künstler-Zoo unseres
Herrn gibt und daß auch dem bescheidenen Talent
bisweilen der große Wurf aus aufgewühlter
Seele MiTd. blich uruß »rr-.v n".:''"
die absolute Freiheit von jeder irdischen Bestim-
mung seiner Arbeit bleiben. Der Auftrag eines
Mäzens, einer Kirche u. dergl. gehört nicht von
vornherein dazu. Es ist unzählige Male in den
etwa 5000 Jahren, die wir Halbwegs überblicken
können, vorgekommen, daß ein Auftrag mit der
Vorstellung des Künstlers aufs glücklichste zu-
sammengetroffen ist oder sie gar erst angeregt
hat; die meisten Werke der Zeit bis 1800 wären
ohne das überhaupt nicht vorhanden. Der kau-
sale Anstoß kann sehr mannigfaltig sein; maß-
geblich ist die Souveränität der schöpferischen
Tätigkeit.
Darum heißt das Kunstwerk dekorativ,
das durch irgendeine Beziehung zu Zwecken, durch
Rücksicht aus andere Werke, durch außerkünst-
lerische Spannungen in sich selbst bestimmt wird.
Das ist nun wieder ein weites Feld. Natürlich
sind zunächst alle Dinge menschlichen Gebrauchs
dekorativer Art, mögen sie auch vom Gott He-
phästos selber wie der Schild des Achilles herge-
stellt sein. Ebenso, und im Sprachgebrauch auch
so genannt, die raumschmückenden Tätigkeiten ein-
schließlich der Wandbemalung. Aber ebenso gut
kann auch durch kausal bedingte Gesinnung des
Urhebers ein reines Staffeleibild, eine freistehende
Skulptur dekorativ sein; ja die meisten dieser
Werke bewegen sich auf einer schwankenden Stufe
zwischen Dekoration und Erlebnis, die näher zur
ersten liegt. Den Maßstab bilden dabei die Be-
ziehungen innerhalb des Kunstwerkes selber und
das überwiegen kunstfremder oder sonstiger
materieller Werte darin. Die Beziehung aus
einen bloß gedachten (nicht vorgestellten!) Raum
erledigt z. B. Klingers großes Gemälde im Wiener
Museum ebenso wie ihr dargestellter Inhalt, weil
der nicht angeschaut ist, sondern eine literarisch-
philosophische Angelegenheit bildet, die besser in
archäologischen oder theosophischen Traktaten ab-
gehandelt würde. Auch Böcklins und Hodlers
Spätbilder leiden oft an dieser doppelten Ab-
irrung ins Raumdekorative und Literarische, das
seinen Schwerpunkt ganz außerhalb der Bild-
fläche besitzt; während diese doch zugleich eine
schmückende Bestimmung sucht und leider nirgends
findet. In kleinerem Maßstab kann man solches
Unheil bei vielen und oft sogar berühmten Wer-
ken aus den letzten 50 Jahren wiederfinden; die
Varianten sind unzählbar. Und es mangelt auch
nicht ganz an Beispielen aus früheren Jahr-
hunderten, obwohl die Naivität der Schöpferkraft
vor solchen Mißbrauch des Geistigen meist einen
sicheren Riegel vorgeschoben hat.
Aber auch beim bescheideneren Rahmenbilde
oder der einfachen Bildsäule gibt es Beziehungen
von Farben, Technik, Raumausschnitt, von plasti-
schen Flächen und Rhythmus, die von der Rück-
sicht aus etwas Fremdartiges eingegeben sind.
Dieses offenbar vom „Erlebnis" nicht ausgezehrte
Fremde ist eine fatale Handfertigkeit, eine Ge-
wohnheit des Bildens, die über schlafende
Schöpferkraft hinweghilft mit einem seine Wir-
kung nie Verfehlenden: mit dem Geschmack.
Der Geschmack ist im Grunde etwas Negatives,
Surrogat, das die vom
Erlebnis gelassene Lücke
ausfüllt, aus Finger-
fertigkeit und dekorieren-
der Gewöhnung erwachsen.
Dieses Glück der meisten,
ob sie Bildner oder Be-
trachter heißen, ist nun
Wohl notwendig für den
umfänglichen Betrieb der
Kunst; es kann schließlich
nicht jeder Maler oder
Bildhauer eine Genie und
jeder Liebhaber ein Kon-
rad Fiedler sein. Aber
nie soll man aus den
Augen verlieren, daß Ge-
schmackskunst eine, wi^
der Jurist sich ausdrück,
„vertretbare Sache" ist,
die dem Handelsmarkt
und dem Genuß der
vielen gehört und daß,
erörtert man den Sinn
der Kunst, man sich nicht
einen Augenblick bei
ihrer Betrachtung aufzu-
halten braucht.
Leider wird in den
meisten und sogar auch in
wesentlichen Darstellun-
gen von Kunst und Kunst-
geschichte nicht der nötige
Nachdruck auf diese Tren-
nung von erlebter und
Geschmackskunst gelegt,
die doch die allein rich-
tunggebende sein sollte.
In der beinahe einzigen
Darstellung der moder-
nen Kunst seit 1750, die
wissenschaftlichen Rang
mit gutem Stil verbin-
det, werden minder-
wertige mit großen
Künstlern in eine Reihe
gestellt und gleichberech-
tigt behandelt, weil sie
soziologisch die gleiche Ausdrucksstärke haben;
z. B. der schwer erträgliche Kaulbach mit dem
großen Rethel, der lediglich dekorative Makart
mit dem Genie Maröes. Dies geht bei ernst-
hafter Kunstbeschreibung, deren Aufgabe gerade
im Erwecken von Qualitätsgefühl, im Zerstören
laienhafter Illusionen und Herausstellen des
Wesenhaften bestehen muß, durchaus nicht an.
Wer das Typische den die Vorstellungen der
Masse repräsentierenden Durchschnittskünstler als
Maßstab historischer Schaltung nimmt, verfälscht
das Bild der echten Kunst, die eine Folge von
erobernden und leidenden Heroen, nicht von
bürgerlichen Handwerkern ist.
Freilich, die Schwierigkeit, solche Unterschei-
dungen zu treffen, wird dadurch nicht vermindert,
daß es eine beträchtliche Stufenfolge von Über-
gangserscheinungen zwischen ihnen gibt. Sie
notizt zrrr Einsch'"bn::g eines Mittskbegriffs, der
die Kreuzungsprodukte zwischen Zweckgeborener
und durch echtes Formerlcbnis zum Absolute':
gehobener Kunst umfaßt. Nach dem wesentlich,
sten Beispiel derartigen Zusammenwirkens, in
dem das Zwiegestaltete der Entstehung sich am
deutlichsten kundgibt, nennen wir es tek-
t o n i s ch e K un st. Es ist klar, daß in der Bau-
kunst selbst die Wertskala zwischen dem Dekorativ-
Akademischen — ausgeprägt etwa in den euro-
päischen Bauten um 1880 — und der Verkörpe-
rung höchster, alsc religiöser Visionen im
gotischen Dom des 13. Jahrhunderts alles um-
faßt, was überhaupt menschlicher Arbeit Rang
und Würde verleiht. Aber selbst im vollkommen-
sten Griechentempel, der von profanen Zwecken
sich wohl am weitesten entfernt hielt, bleibt der
Erdenrest von Wirkung oder Technik, der bloßen
Materie und ihrer Gesetze, von mathematischem
also rationalistischen Ausdruck der Raumanwen-
dung so wesentlich, daß man ihn nicht zu den ganz
außerhalb der Kausalität stehenden Erlebnis-
werken rechnen kann. Was freilich nicht aus-
schließt, daß gerade von Architektur die höchsten
ästhetischen Eindrücke ausgehen und sie den eigent-
lichen Maßstab für die Kunstentwicklung bildet.
Dazu ist zu sagen, einmal, daß die Stärke des
künstlerischen Eindrucks unabhängig ist von der
Quelle, aus der der Künstler schöpfte, und durch-
aus mitbedingt von Eigenschaften der Materie
und des Zweckes; und zum andern, daß aller-
dings der Stil als Maßstab für historische Ab-
folge und Wertung der Kunst im Architektonischen
allein seinen Ursprung hat, dafür aber auch gar
nichts über die Wesensfragen des Künstlerischen
selbst auszusagen hat. Was die meisten Menschen
an der Kunstgeschichte interessiert, die Merkmale
des tektonischen Ornaments, steht völlig außer-
halb unserer Begriffe; es gehört ganz und gar
dem Dekorativen an und ist aus dein Zusammen-
hang des Schöpferischen genommen, in dem der
Stil, das Ornament in jedem Sinne, die tek-
tonische Einkleidung eines sozialen Zustandes
ganz und gar unpersönlich ist, eine Schöpfung der
Gesellschaft, ihrer Bedürfnisse und Form-
anschauungen, niemals und nirgends persönliche
Leistung eines Genies.
Zu diesem architektonischen Zwischenreich ge-
hören alle Dinge, die zwar einem sichtbaren
Zweck unterworfen und von ihm hervorgerufen
sind, ihre Entstehung aus heißem Gefühl und
einem echten Formerlebnis aber nicht verbergen
können. Man wird an altem „Kunstgewerbe"
bisweilen dieses Aufblitzen genialer Schöpfer-
kraft bemerken, die vielleicht mehr aus sozialen
als persönlichen Schichten steigt: chinesische Bron-
zen der Han-Zeit, mexikanische Töpfereien,
mykenische Geräte u. dergl. entzücken oder ent-
setzen uns durch den ungewöhnlichen Gehalt an
Erlebnissen, der ihnen und nicht etwa nur ihrer
Dekoration, sondern auch ihrer Gebrauchsform,
ausgeprägt wurde. Aus neuerer Zeit ist das
merkwürdigste Beispiel der „Jugendstil" der
neunziger Jahre, d. h. soweit es sich um die wirk-
lich genialen Möbel und Dekorationen der Endell,
Pankok, Eckmann, Behrens usw. handelt. Das
sehr Merkwürdige daran ist, daß die Künstler ver-
suchten, seelische Erlebnisse in dekorativen Formen
auKzudrückerr, nachdem sie damit in der Malerei
gescheitert waren. Eine so völlige Umkehrung
Gerhard Marcks, Kastalra
Fotogenia
künstlerischer Möglichkeiten konnte natürlich nicht
gut ausgehen. Gefühlsüberladene Ornamente als
Ausdruck individueller Seelenzustände sind ein
Widerspruch in sich; und ebenso wenig kann man
eine Erneuerung des Stils vom Ornament her
einleiten; immer geht das Erlebnis schöpferischer
Form in der Architektur voran, und die Ge-
brauchskunst folgt ihr nach und Prägt die führen-
den Ideen in ihre Kleinmünze um. Geblieben
sind von jener phantastischen Anstrengung der
00er Jahre einige sonderbar eindrucksvolle Möbel,
Tapeten und Inneneinrichtungen, die als Nach-
laß von Himmelsstürmern ihren Museumsplatz
behalten sollen. Hier können wir einmal
authentisch die Herkunft des Tektonischen aus dem
schöpferischen Erlebnis belegen; daß nichts daraus
geworden ist, liegt nicht an der Idee selbst, die
durchaus möglich ist, wie Hunderte großer Zweck-
kunstwerke der Vergangenheit beweisen, sondern
an der Verkehrtheit und Unreife der Zeit. Was
eben damals Munch und van Gogh in der hohen
Kunst schufen, drückt in der richtigen Form das
aus, was jene Dekorativen sagen wollten.
Aber auch die Werke der großen Malerei und
Skulptur gehören hierher, soweit sie dem Dienst
an der Architektur sich fügen; also die Portal-
figuren der Gotik, die Fresken und Mosaiken
in Kirchen und Schlössern. Was sie von dem
Dekorativen trennt, ist ihr geistiger Gehalt. In
ihnen werden große bildhafte religiöse, historische
Visionen irr dekorative Form gekleidet, Raum-
Gedanken zur Kunst
Die Kunst tritt als Mittlerin zwischen die Natur und
den Menschen. Das Urbild ist der Menge zu groß, zu er-
haben, um es erfassen zu können. Das Abbild als Menschen-
werk liegt näher den Schwachen, und so erklärt sich auch wohl
die öfter gehörte Äußerung, daß das Abbild mehr gefalle
als die Natur (die Wirklichkeit). Oder auch die Redensart:
es ist so schön, als wenn es gemalt wäre; statt von einem
Gemälde zu sagen, es sei so schön, als wenn es Natur wäre.
Uber den Hang so vieler Menschen, alles so im Gebiete
des Geistigen, Unendlichen Liegende, sei es Wissenschaft oder
Kunst, in beengende Formen zu schmieden. Jeden freien
Aufschwung der Seele möchten die Engherzigen hemmen, da-
mit hübsch alles auf betretenen und ausgetretenen Wegen
einhergehe. Laßt doch, ihr weisen Herren, jedes Streben un-
gehindert seinen Weg gehen, denn selbst die Verirrungen
führen am Ende doch noch zu etwas Gutem. Jede Zeit hat
ihren guten und bösen Geist; erkenne nur das Bessere dec
Gegenwart und stelle nicht, wie viele jetzt wollen, die Ver-
gangenheit als unbedingtes Vorbild für die Gegenwart auf.
Warnen könnte man allenfalls, aber hindern sollte man
es nicht.
Wie groß ist die Zahl derer, so sich Künstler nennen, ohne
zu ahnen, daß noch etwas ganz anderes dazu gehöre als
bloße Geschicklichkeit der Hand. Daß die Kunst aus dem
Innern des Menschen hervorgehcn muß, ja, von seinem sitt-
lich-religiösen Wert abhängt, ist manchen ein töricht Ding.
Denn wie nur ein reiner, ungetrübter Spiegel ein reines
Bild wiedergeben kann, so kann auch nur aus einer reinen
Seele ein wahrhaftes Kunstwerk hervorgehen.
Der edle Mensch (Maler) erkennt in allem Gott, der
gemeine Mensch (auch Maler) sieht nur die Form, nicht
den Geist.
*) Aus: Dr. A. Müller, Die Kunstanschau-
ung der jüngeren Romantik. Deutsche
Literatur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenk-
mäler in Entwicklungsreihen. Reihe „Romantik", in 24 Bän-
den hgg. von Univ.-Prof. Dr. Paul Kluckholm, Bd. 12.
Verlag PH. Necla m, Leipzig.
schmuck (der an sich ja ost, und heute regelmäßig,
bloße Dekoration ist) mit höchsten Werten des
Geistes erfüllt.
Was schließlich den Ausdruck „k unst -
gewer blich" betrifft, der kritisch oft so
schmerzhaft angewendet wird, so bedeutet er nichts
anderes, als daß dekorative Entstehungsgründe bei
einem „freien" Kunstwerk den Ausschlag geben
und der Schein hoher Kunst mit Geschmacks-
mitteln erweckt werden sollte. Bei angewandter
Kunst bildet ein Zuviel an Formalem, ein Über-
maß dekorativer Gebärden um einen sachlich ein-
fachen Kern herum das Kriterium tadelnder Be-
zeichnung. Denn bei Gebrauchsdingen muß ehr-
lich geschieden werden zwischen gediegener Sach-
lichkeit von Handwerks- oder Fabrikware und
dem Überschwang schöpferischen Geistes in „Tek-
tonik"; das Kunstgewerbliche dazwischen läßt sich
fast immer entbehren.
Vom Künstler aus könnte man das drei-
gestaltige Problem vielleicht so formulieren: der
geniale Schöpferische erlebt die repräsen-
tative Idee seiner Epoche in einer Form, die neu
und aufwühlend ist, nicht nur für ihre, sondern
für alle Zeilen, weil jeder Betrachter dieses große
Erlebnis immer wieder als erstmaligen Eindruck
uachempfinden wird. Der Erlebniskünstler steht
darum über seiner Zeit und ihren stilistischen
Grenzen.
Der „tektonische" Künstler, ob er nun
Baumeister, Monumentalmaler oder Kunsthand-
werker großen Stils ist, stellt das formale Ge-
wissen seiner Zeit dar und drückt ihren materiellen
Bedürfnissen den Stempel der Gültigkeit aus, in
einer stilistisch gebundenen Form. Seine Hin-
gabe an die Konvention seiner Zeit hindert ihn
nicht, falls er genial ist, absolute, für alle Zeiten
maßgebende oder wenigstens eindrucksstarke
Werke zu schaffen, die Repräsentanten des Stiles
seiner Epoche sind. Ob dieser Stil wirklich be-
deutend oder nur als ein mäßiges Zwischenglied
zu betrachten ist, hängt von der schöpferischen
Zeugungskrast der führenden Künstler ab. Die
Schwäche gewisser Perioden, z. B. um 1300 oder
um 1800, vom 19. Jahrhundert zu schweigen, ist
eine Folge des Nachlassens der allgemeinen
Schöpferkraft.
Der dekorative Künstler endlich
kann nicht den Anspruch erheben auf Gleich-
stellung mit den beiden höheren Kategorien. Er
drückt freilich auch den Geist seiner Zeit aus, aber
nicht repräsentativ und stilschöpferisch, sondern
als Nachläufer im Erlebnis und im Stil, als
Kunst der Nation
Ludwig Kasper, Mädchenkopf
Weil der Schöpfer zu arm ist, um Marmor oder
Farben zu kaufen oder weil er schließlich mit
Lessings „Raffael ohne Arme" eine verzweifelte
Ähnlichkeit hat. So extreme Fälle wollen wir
aber beiseite und übrigens auch die graduellen
Unterschiede nicht außer acht lassen, die von der
Höhe der reinsten Vision Gottes hinabführen bis
zu dem Erlebnis schlichter Landschaften oder eines
Spargelbündels. Innerhalb des rechten Schöpfer-
tums gibt es ja eine ganze Hieraxchie der Ideen;
hier finden die ästhetischen Begriffe von Idealis-
mus, Naturalismus, Ausdruck, Naturnach-
ahmung usw. ihren Tummelplatz. Es kommt
schließlich dabei ebenso auf die Art wie auf die
Intensität der Schonung an, und es ist ein Glück,
daß es soviele Abarten im Künstler-Zoo unseres
Herrn gibt und daß auch dem bescheidenen Talent
bisweilen der große Wurf aus aufgewühlter
Seele MiTd. blich uruß »rr-.v n".:''"
die absolute Freiheit von jeder irdischen Bestim-
mung seiner Arbeit bleiben. Der Auftrag eines
Mäzens, einer Kirche u. dergl. gehört nicht von
vornherein dazu. Es ist unzählige Male in den
etwa 5000 Jahren, die wir Halbwegs überblicken
können, vorgekommen, daß ein Auftrag mit der
Vorstellung des Künstlers aufs glücklichste zu-
sammengetroffen ist oder sie gar erst angeregt
hat; die meisten Werke der Zeit bis 1800 wären
ohne das überhaupt nicht vorhanden. Der kau-
sale Anstoß kann sehr mannigfaltig sein; maß-
geblich ist die Souveränität der schöpferischen
Tätigkeit.
Darum heißt das Kunstwerk dekorativ,
das durch irgendeine Beziehung zu Zwecken, durch
Rücksicht aus andere Werke, durch außerkünst-
lerische Spannungen in sich selbst bestimmt wird.
Das ist nun wieder ein weites Feld. Natürlich
sind zunächst alle Dinge menschlichen Gebrauchs
dekorativer Art, mögen sie auch vom Gott He-
phästos selber wie der Schild des Achilles herge-
stellt sein. Ebenso, und im Sprachgebrauch auch
so genannt, die raumschmückenden Tätigkeiten ein-
schließlich der Wandbemalung. Aber ebenso gut
kann auch durch kausal bedingte Gesinnung des
Urhebers ein reines Staffeleibild, eine freistehende
Skulptur dekorativ sein; ja die meisten dieser
Werke bewegen sich auf einer schwankenden Stufe
zwischen Dekoration und Erlebnis, die näher zur
ersten liegt. Den Maßstab bilden dabei die Be-
ziehungen innerhalb des Kunstwerkes selber und
das überwiegen kunstfremder oder sonstiger
materieller Werte darin. Die Beziehung aus
einen bloß gedachten (nicht vorgestellten!) Raum
erledigt z. B. Klingers großes Gemälde im Wiener
Museum ebenso wie ihr dargestellter Inhalt, weil
der nicht angeschaut ist, sondern eine literarisch-
philosophische Angelegenheit bildet, die besser in
archäologischen oder theosophischen Traktaten ab-
gehandelt würde. Auch Böcklins und Hodlers
Spätbilder leiden oft an dieser doppelten Ab-
irrung ins Raumdekorative und Literarische, das
seinen Schwerpunkt ganz außerhalb der Bild-
fläche besitzt; während diese doch zugleich eine
schmückende Bestimmung sucht und leider nirgends
findet. In kleinerem Maßstab kann man solches
Unheil bei vielen und oft sogar berühmten Wer-
ken aus den letzten 50 Jahren wiederfinden; die
Varianten sind unzählbar. Und es mangelt auch
nicht ganz an Beispielen aus früheren Jahr-
hunderten, obwohl die Naivität der Schöpferkraft
vor solchen Mißbrauch des Geistigen meist einen
sicheren Riegel vorgeschoben hat.
Aber auch beim bescheideneren Rahmenbilde
oder der einfachen Bildsäule gibt es Beziehungen
von Farben, Technik, Raumausschnitt, von plasti-
schen Flächen und Rhythmus, die von der Rück-
sicht aus etwas Fremdartiges eingegeben sind.
Dieses offenbar vom „Erlebnis" nicht ausgezehrte
Fremde ist eine fatale Handfertigkeit, eine Ge-
wohnheit des Bildens, die über schlafende
Schöpferkraft hinweghilft mit einem seine Wir-
kung nie Verfehlenden: mit dem Geschmack.
Der Geschmack ist im Grunde etwas Negatives,
Surrogat, das die vom
Erlebnis gelassene Lücke
ausfüllt, aus Finger-
fertigkeit und dekorieren-
der Gewöhnung erwachsen.
Dieses Glück der meisten,
ob sie Bildner oder Be-
trachter heißen, ist nun
Wohl notwendig für den
umfänglichen Betrieb der
Kunst; es kann schließlich
nicht jeder Maler oder
Bildhauer eine Genie und
jeder Liebhaber ein Kon-
rad Fiedler sein. Aber
nie soll man aus den
Augen verlieren, daß Ge-
schmackskunst eine, wi^
der Jurist sich ausdrück,
„vertretbare Sache" ist,
die dem Handelsmarkt
und dem Genuß der
vielen gehört und daß,
erörtert man den Sinn
der Kunst, man sich nicht
einen Augenblick bei
ihrer Betrachtung aufzu-
halten braucht.
Leider wird in den
meisten und sogar auch in
wesentlichen Darstellun-
gen von Kunst und Kunst-
geschichte nicht der nötige
Nachdruck auf diese Tren-
nung von erlebter und
Geschmackskunst gelegt,
die doch die allein rich-
tunggebende sein sollte.
In der beinahe einzigen
Darstellung der moder-
nen Kunst seit 1750, die
wissenschaftlichen Rang
mit gutem Stil verbin-
det, werden minder-
wertige mit großen
Künstlern in eine Reihe
gestellt und gleichberech-
tigt behandelt, weil sie
soziologisch die gleiche Ausdrucksstärke haben;
z. B. der schwer erträgliche Kaulbach mit dem
großen Rethel, der lediglich dekorative Makart
mit dem Genie Maröes. Dies geht bei ernst-
hafter Kunstbeschreibung, deren Aufgabe gerade
im Erwecken von Qualitätsgefühl, im Zerstören
laienhafter Illusionen und Herausstellen des
Wesenhaften bestehen muß, durchaus nicht an.
Wer das Typische den die Vorstellungen der
Masse repräsentierenden Durchschnittskünstler als
Maßstab historischer Schaltung nimmt, verfälscht
das Bild der echten Kunst, die eine Folge von
erobernden und leidenden Heroen, nicht von
bürgerlichen Handwerkern ist.
Freilich, die Schwierigkeit, solche Unterschei-
dungen zu treffen, wird dadurch nicht vermindert,
daß es eine beträchtliche Stufenfolge von Über-
gangserscheinungen zwischen ihnen gibt. Sie
notizt zrrr Einsch'"bn::g eines Mittskbegriffs, der
die Kreuzungsprodukte zwischen Zweckgeborener
und durch echtes Formerlcbnis zum Absolute':
gehobener Kunst umfaßt. Nach dem wesentlich,
sten Beispiel derartigen Zusammenwirkens, in
dem das Zwiegestaltete der Entstehung sich am
deutlichsten kundgibt, nennen wir es tek-
t o n i s ch e K un st. Es ist klar, daß in der Bau-
kunst selbst die Wertskala zwischen dem Dekorativ-
Akademischen — ausgeprägt etwa in den euro-
päischen Bauten um 1880 — und der Verkörpe-
rung höchster, alsc religiöser Visionen im
gotischen Dom des 13. Jahrhunderts alles um-
faßt, was überhaupt menschlicher Arbeit Rang
und Würde verleiht. Aber selbst im vollkommen-
sten Griechentempel, der von profanen Zwecken
sich wohl am weitesten entfernt hielt, bleibt der
Erdenrest von Wirkung oder Technik, der bloßen
Materie und ihrer Gesetze, von mathematischem
also rationalistischen Ausdruck der Raumanwen-
dung so wesentlich, daß man ihn nicht zu den ganz
außerhalb der Kausalität stehenden Erlebnis-
werken rechnen kann. Was freilich nicht aus-
schließt, daß gerade von Architektur die höchsten
ästhetischen Eindrücke ausgehen und sie den eigent-
lichen Maßstab für die Kunstentwicklung bildet.
Dazu ist zu sagen, einmal, daß die Stärke des
künstlerischen Eindrucks unabhängig ist von der
Quelle, aus der der Künstler schöpfte, und durch-
aus mitbedingt von Eigenschaften der Materie
und des Zweckes; und zum andern, daß aller-
dings der Stil als Maßstab für historische Ab-
folge und Wertung der Kunst im Architektonischen
allein seinen Ursprung hat, dafür aber auch gar
nichts über die Wesensfragen des Künstlerischen
selbst auszusagen hat. Was die meisten Menschen
an der Kunstgeschichte interessiert, die Merkmale
des tektonischen Ornaments, steht völlig außer-
halb unserer Begriffe; es gehört ganz und gar
dem Dekorativen an und ist aus dein Zusammen-
hang des Schöpferischen genommen, in dem der
Stil, das Ornament in jedem Sinne, die tek-
tonische Einkleidung eines sozialen Zustandes
ganz und gar unpersönlich ist, eine Schöpfung der
Gesellschaft, ihrer Bedürfnisse und Form-
anschauungen, niemals und nirgends persönliche
Leistung eines Genies.
Zu diesem architektonischen Zwischenreich ge-
hören alle Dinge, die zwar einem sichtbaren
Zweck unterworfen und von ihm hervorgerufen
sind, ihre Entstehung aus heißem Gefühl und
einem echten Formerlebnis aber nicht verbergen
können. Man wird an altem „Kunstgewerbe"
bisweilen dieses Aufblitzen genialer Schöpfer-
kraft bemerken, die vielleicht mehr aus sozialen
als persönlichen Schichten steigt: chinesische Bron-
zen der Han-Zeit, mexikanische Töpfereien,
mykenische Geräte u. dergl. entzücken oder ent-
setzen uns durch den ungewöhnlichen Gehalt an
Erlebnissen, der ihnen und nicht etwa nur ihrer
Dekoration, sondern auch ihrer Gebrauchsform,
ausgeprägt wurde. Aus neuerer Zeit ist das
merkwürdigste Beispiel der „Jugendstil" der
neunziger Jahre, d. h. soweit es sich um die wirk-
lich genialen Möbel und Dekorationen der Endell,
Pankok, Eckmann, Behrens usw. handelt. Das
sehr Merkwürdige daran ist, daß die Künstler ver-
suchten, seelische Erlebnisse in dekorativen Formen
auKzudrückerr, nachdem sie damit in der Malerei
gescheitert waren. Eine so völlige Umkehrung
Gerhard Marcks, Kastalra
Fotogenia
künstlerischer Möglichkeiten konnte natürlich nicht
gut ausgehen. Gefühlsüberladene Ornamente als
Ausdruck individueller Seelenzustände sind ein
Widerspruch in sich; und ebenso wenig kann man
eine Erneuerung des Stils vom Ornament her
einleiten; immer geht das Erlebnis schöpferischer
Form in der Architektur voran, und die Ge-
brauchskunst folgt ihr nach und Prägt die führen-
den Ideen in ihre Kleinmünze um. Geblieben
sind von jener phantastischen Anstrengung der
00er Jahre einige sonderbar eindrucksvolle Möbel,
Tapeten und Inneneinrichtungen, die als Nach-
laß von Himmelsstürmern ihren Museumsplatz
behalten sollen. Hier können wir einmal
authentisch die Herkunft des Tektonischen aus dem
schöpferischen Erlebnis belegen; daß nichts daraus
geworden ist, liegt nicht an der Idee selbst, die
durchaus möglich ist, wie Hunderte großer Zweck-
kunstwerke der Vergangenheit beweisen, sondern
an der Verkehrtheit und Unreife der Zeit. Was
eben damals Munch und van Gogh in der hohen
Kunst schufen, drückt in der richtigen Form das
aus, was jene Dekorativen sagen wollten.
Aber auch die Werke der großen Malerei und
Skulptur gehören hierher, soweit sie dem Dienst
an der Architektur sich fügen; also die Portal-
figuren der Gotik, die Fresken und Mosaiken
in Kirchen und Schlössern. Was sie von dem
Dekorativen trennt, ist ihr geistiger Gehalt. In
ihnen werden große bildhafte religiöse, historische
Visionen irr dekorative Form gekleidet, Raum-
Gedanken zur Kunst
Die Kunst tritt als Mittlerin zwischen die Natur und
den Menschen. Das Urbild ist der Menge zu groß, zu er-
haben, um es erfassen zu können. Das Abbild als Menschen-
werk liegt näher den Schwachen, und so erklärt sich auch wohl
die öfter gehörte Äußerung, daß das Abbild mehr gefalle
als die Natur (die Wirklichkeit). Oder auch die Redensart:
es ist so schön, als wenn es gemalt wäre; statt von einem
Gemälde zu sagen, es sei so schön, als wenn es Natur wäre.
Uber den Hang so vieler Menschen, alles so im Gebiete
des Geistigen, Unendlichen Liegende, sei es Wissenschaft oder
Kunst, in beengende Formen zu schmieden. Jeden freien
Aufschwung der Seele möchten die Engherzigen hemmen, da-
mit hübsch alles auf betretenen und ausgetretenen Wegen
einhergehe. Laßt doch, ihr weisen Herren, jedes Streben un-
gehindert seinen Weg gehen, denn selbst die Verirrungen
führen am Ende doch noch zu etwas Gutem. Jede Zeit hat
ihren guten und bösen Geist; erkenne nur das Bessere dec
Gegenwart und stelle nicht, wie viele jetzt wollen, die Ver-
gangenheit als unbedingtes Vorbild für die Gegenwart auf.
Warnen könnte man allenfalls, aber hindern sollte man
es nicht.
Wie groß ist die Zahl derer, so sich Künstler nennen, ohne
zu ahnen, daß noch etwas ganz anderes dazu gehöre als
bloße Geschicklichkeit der Hand. Daß die Kunst aus dem
Innern des Menschen hervorgehcn muß, ja, von seinem sitt-
lich-religiösen Wert abhängt, ist manchen ein töricht Ding.
Denn wie nur ein reiner, ungetrübter Spiegel ein reines
Bild wiedergeben kann, so kann auch nur aus einer reinen
Seele ein wahrhaftes Kunstwerk hervorgehen.
Der edle Mensch (Maler) erkennt in allem Gott, der
gemeine Mensch (auch Maler) sieht nur die Form, nicht
den Geist.
*) Aus: Dr. A. Müller, Die Kunstanschau-
ung der jüngeren Romantik. Deutsche
Literatur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenk-
mäler in Entwicklungsreihen. Reihe „Romantik", in 24 Bän-
den hgg. von Univ.-Prof. Dr. Paul Kluckholm, Bd. 12.
Verlag PH. Necla m, Leipzig.
schmuck (der an sich ja ost, und heute regelmäßig,
bloße Dekoration ist) mit höchsten Werten des
Geistes erfüllt.
Was schließlich den Ausdruck „k unst -
gewer blich" betrifft, der kritisch oft so
schmerzhaft angewendet wird, so bedeutet er nichts
anderes, als daß dekorative Entstehungsgründe bei
einem „freien" Kunstwerk den Ausschlag geben
und der Schein hoher Kunst mit Geschmacks-
mitteln erweckt werden sollte. Bei angewandter
Kunst bildet ein Zuviel an Formalem, ein Über-
maß dekorativer Gebärden um einen sachlich ein-
fachen Kern herum das Kriterium tadelnder Be-
zeichnung. Denn bei Gebrauchsdingen muß ehr-
lich geschieden werden zwischen gediegener Sach-
lichkeit von Handwerks- oder Fabrikware und
dem Überschwang schöpferischen Geistes in „Tek-
tonik"; das Kunstgewerbliche dazwischen läßt sich
fast immer entbehren.
Vom Künstler aus könnte man das drei-
gestaltige Problem vielleicht so formulieren: der
geniale Schöpferische erlebt die repräsen-
tative Idee seiner Epoche in einer Form, die neu
und aufwühlend ist, nicht nur für ihre, sondern
für alle Zeilen, weil jeder Betrachter dieses große
Erlebnis immer wieder als erstmaligen Eindruck
uachempfinden wird. Der Erlebniskünstler steht
darum über seiner Zeit und ihren stilistischen
Grenzen.
Der „tektonische" Künstler, ob er nun
Baumeister, Monumentalmaler oder Kunsthand-
werker großen Stils ist, stellt das formale Ge-
wissen seiner Zeit dar und drückt ihren materiellen
Bedürfnissen den Stempel der Gültigkeit aus, in
einer stilistisch gebundenen Form. Seine Hin-
gabe an die Konvention seiner Zeit hindert ihn
nicht, falls er genial ist, absolute, für alle Zeiten
maßgebende oder wenigstens eindrucksstarke
Werke zu schaffen, die Repräsentanten des Stiles
seiner Epoche sind. Ob dieser Stil wirklich be-
deutend oder nur als ein mäßiges Zwischenglied
zu betrachten ist, hängt von der schöpferischen
Zeugungskrast der führenden Künstler ab. Die
Schwäche gewisser Perioden, z. B. um 1300 oder
um 1800, vom 19. Jahrhundert zu schweigen, ist
eine Folge des Nachlassens der allgemeinen
Schöpferkraft.
Der dekorative Künstler endlich
kann nicht den Anspruch erheben auf Gleich-
stellung mit den beiden höheren Kategorien. Er
drückt freilich auch den Geist seiner Zeit aus, aber
nicht repräsentativ und stilschöpferisch, sondern
als Nachläufer im Erlebnis und im Stil, als