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Heidelberger Zeitung (43) — 1901 (Juli bis Dezember)

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Nr. 204 - 228 (2. September 1901 - 30. September 1901)
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https://doi.org/10.11588/diglit.37097#0393

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Drittes Blatt.

Samstag, 7. September 1901.

43. Jahrgang. — Ar. 209.


Erscheint täglich, Sonntags ausgenommen. — Preis mit Familienblättern monatlich SO Pfg. in's Hans gebracht, bei der Expedition und den Zweigstellen abgeholt 40 Pfg. Durch die Post be-
zogen vierteljährlich 1.35 Mk. ausschließlich Zustellgebühr.
Itige Petitzeile oder deren Raum. Neklamezeile 40 Pfg. Für hiesige Geschäfts- und Privatanzeigen ermäßigt. — Für die Aufnahme von Anzeigen an bestimmt
Verantwortlichkeit übernommen. — Anschlag der Inserate auf den Plakattafeln der Heidelberger Zeitung und den Plakatsäulen. — Fernsprech-Anschluß Nr. 82.

Anzeigenpreis: 20 Pfg. die
vorgeschriebenen Tagen wird keine

Wohnungszählung in Mannheim.
lieber die Ergebnisse der am 1. Dezember v. I. vorgenom-
rncnen Wohnungszählung in Mannheim liegt
ein weiteres Heft des hiesigen Statistischen Amtes vor. Wir
entnehmen den hochinteressanten Darstellungen und Betrach-
tungen folgendes:
Die Zahl der bewohnten Grundstücke ist seit 1895 um
-)19 (25,19 Proz.) gestiegen, die Wohnungen dagegen haben
sich um 6767 (22,94 Proz.) vermehrt, während die Wohn-
rnnmc nur um 11 963 (18,77 Proz.) gewachsen sind. Die-
sen Zahlen entspricht eine Bevölkerungszunahme von 28 964
— 31,78 Proz.
Um mehr als 60 Proz. haben außerdem zugenommen die
Wohnungen der Neckar- (76,52 Proz.), der Schwetzinger Vor-
stadt (58,17 Proz.) und des Waldhofs (25,22 Proz.); am
nächsten steht diesen Ziffern der Stadtteil Neckarau mit 41,51
Proz. In absteigender Reihe folgen dann Käferthal mit
29,76 Proz., die Mühkiu mit 16,86 Proz. und der Jung-
busch mit 9,53 Proz. Die schwächste Zunahme an Woh-
nungen begegnet uns in der Unterstadt (2,82 Proz.), während
die Oberstadt sogar um 3,34 Proz. abgenommcn hat. Es sind
diese Thatsachen auf die in stets fortschreitendem Maße er-
folgende Zurückdrängung von Wohngebäuden und Woh-
nungen zurückzuführen, an deren Stelle nunmehr Geschäfts-
häuser und Vurcauräume rc. (z. B. Hansahaus, Süddeutsche
Bank, Börse, Kauder'schcs Warenhaus) getreten sind.
Die Entwickelung in den Vororten hat diejenige der Alt-
stadt (42,24 Proz. gegenüber 29,94 Proz.) bedeutend über-
iroffen und dürfte nach erfolgter besserer Straßen- und Vor-
ortbahnverbindung mit der Altstadt dies in zunehmendem
Matze auch künftig thun. An der Spitze marschiert der iix-
dustriereiche Waldhof, während Käferthal trotz des starken
Zuzugs industrieller Arbeiter seinen ländlichen Charakter
»och mehr beibehalten hat.
Die Entwickelung der Wohndichtigkeit zeigt in
allen Stadtteilen mit Ausnahme der östlichen Stadterwei-
teruug eine mehr oder weniger steigende Tendenz.
Betrachtet man eine Dichtigkeit von mehr als 2 Personen
auf den Wohnraum als eine zu große, so gelangt man zu dem
Ergebnis, daß ca. 60 Proz. der Bevölkerung Mann-
heims in guten, ca. 40 Proz. in schlechten Woh-
nungsverhältnissen leben. Es ist auch hierbei
wiederum interessant zu beobachten,. in welch verschiedener
Weise die einzelnen Stadtteile an der Befriedigung des Woh-
uungsbedürsnisses partizipieren. Obenan stehen die Oberstadt
Und östliche Stadtcrweiterung, wo ca. 96 bezw. 88 Proz. der
Bevölkerung in reichlichem Matze ihre Wohnungsbedürsnisse
befriedigen; im Gegensatz dazu stehen die Neckar- und die
Schwetzinger Vorstadt, wo ca. 73 bezw. 63 Proz. in schlechten
Wohnverhältnissen leben und vereinzelt sogar 3, 5 und mehr
Bewohner auf einen Wohnraum kommen.
Die Unterstadt, der Lindenhof und der Jungbusch stehen
'u der Mitte und weisen allerdings niit teilweise erheblichen
Ausnahmen — im Großen und Ganzen genügende Woh-
uungsverhältnisse auf.
Von den Vororten hat nur Neckarau einigermaßen be-
friedigende Wohnverhältnisse zu verzeichnen, während auf dem
Waldhof und in Käferthal die Wohnungen mit über 2 Be-
wohner pro Wohnraum bedeutend überwiegcn. Der Waldhos
und die Neckarvorstadt sind überhaupt die bevölkertsten Stadt-
teile; weit mehr als 14 per ganzen Bevölkerung sind dort
auf sehr mangelhafte Wohnverhältnisse angewiesen.
Von den 29 409 bewohnten Wohnungen der Stadt sind
3933 (13,4 Proz.) Eigentümcrwohnungcn, 1402 (4,8
Proz.) Dienst- und Freiwohnungen und23 860 (81,7 Proz.)
Mietwohnungen und zwar von letzteren wieder 21 209 —
72,8 Proz.) reine Mietwohnungen und 2651 (9 Prozent) zu
gelverblichen Zwecken benützte Mietwohnungen.
Der durchschnittliche Ertragswert beträgt: für eine Eigen-
türnerwohnung 977 Alk., für eine Dienst- oder Freiwohnung
853 Mk., für eine reine Mietwohnung 397 Mk., für eine Miet-
wohnung mit gewerblicher Benutzung 1037 Mk.

Es geht aus diesen allen klar hervor, daß die zu gewerb-
lichen Zwecken gemieteten Wohnungen am teuersten sind,
während die Preise der Dienst- und Freiwohnungen meistens
und zwar ganz bedeutend hinter denjenigen der gewöhnlichen
Mietwohnungen zurückstehcn.
Der weitaus überwiegende Teil der Eigentümer-Woh-
nungen besteht aus 3 und mehr Zimmern.
Besonders stark ist die gewerbliche Mitbenutzung einerseits
in den Wohnungen mit 2 Zimmern und Küche und 3 Zim-
mern, wo großenteils die eigentlichen Wohnräume insbesondere
von den kleinen Handwerkern (Schuhmacher, Schneider, Nähe-
rinnen rc.) zu gewerblichen Zwecken mitbenutzt werden; an-
derseits tritt uns auch in den 7- und 8-zimmerigen Woh-
nungen eine häufige gewerbliche Mitbenutzung entgegen. Es
sind dies in der Regel die Wohnungen von Inhabern größerer
Geschäfte, wo der eine Teil zu Wohnzwecken, der andere Teil
lediglich zu Geschäftszwccken gebraucht wird.
Es erübrigt schließlich noch ein Wort über den Gesamt-
wert und das Gesamtmietsertrügnis der bewohnten Woh-
nungen Mannheims zu sagen.
Die 3928 gezählten Eigentümerwohnungen , repräsen-
tieren einen Mietsertragswert von 3 837 961 Mk., die 1402
Dienst- und Freiwohnungen einen solchen von 495 431 Mk.,
die 21 209 reinen Mietwohnungen einen solchen von
8 421 704 Mk. und endlich die 2651 zu gewerblichen Zwecken
benutzten Mietwohnungen einen solchen von 2 749 344 Mk.
Der G e s a m t m i e t e r t r a g s w e r t der bewohnten
Wohnungen belief sich danach am 1. Dezember 1900 auf
15 504 440 Mk.
Vergleicht man den in Mannheim an dem genannten
Tage gefundenen Durchschnittspreis einer Mietwohnung über-
haupt mit dem für andere Großstädte am 2. Dezember 1895
festgestellten Wohnungspreise, so erhält man folgendes Bild:

Charlottenburg .
612
M.
Dresden ....
390
Berlin ....
532
Leipzig ....
370
Frankfurt . . .
615
Magdeburg, . .
323
Hamburg . . .
488
Breslau ....
300
Mannheim . . .
469
Halle a. S.. . .
267
Metz.
450


Man sieht aus diesen Zahlen, daß Mannheim bezüglich der
Mietpreise mit zu den t e u e r st e n Großstädten gehört, wo-
bei allerdings die in den anderen Städten seit 1895 mutmaß-
lich cingctrctcne Steigerung nicht in Rechnung gestellt ist.
Werfen wir nun noch einen Blick auf die Höhe der durch-
schnittlichen Mietpreise in den einzelnen Stadtteilen, so ist zu
bemerken, daß die Durchschnittspreise je nach der Lage inner-
halb des Stadtgebiets und Stockwerkshöhe naturgemäß sehr
verschieden sind. Am teuersten sind die Wohnungen jedoch in
der östlichen Stadterweiternng, wo z. B. eine 4zimmerige Woh-
nung ohne gcw. Ben. im Durchschnitt 811 Mk. gegenüber 703
Mk. in der Oberstadt, 636 in der Unterstadt, 639 auf den:
Lindenhof, 625 in der Schwetzinger Vorstadt, 603 auf dem
Jungbusch, 549 in der Ncckarvorstadt und 381 auf der
Mühlau kostet. In den Vororten sind die Durchschnittspreise
der Mietwohnungen für die einzelnen Wöhnungsgrötzcn bis-
weilen sehr verschieden, so z. B. kostet eine 4zimmerige Woh-
nung in Neckarau 394 Mk., in Waldhof 360 Mk. und in
Käferthal 340 Mk., bisweilen sind sie nahezu dieselben, so
z. B. beträgt der durchschnittliche Mietzins einer Wohnung
mit 2 Zimmern und Küche in Neckarau und Käferthal 196,
in Waldhof 195 Mk. Im allgemeinen sind jedoch die Miet-
preise in den Vororten vorläufig doch noch bedeutend billiger
als in der Innenstadt selbst.

Nene Fortschritte des deutschen Außenhandels.
Man schreibt aus Hamburg: Wenig Beachtung hat
der neue Aufschwung des deutschen Außenhan-
dels in den letzten Mo,raten gefunden. Es konnte na-
türlich nicht ausbleiben, daß der Rückgang der wirt-
schaftlichen Konjunktur ungünstig auch auf den deutschen

Export einwirkte; wir sehen in den Monaten Januar
bis Mai, wie der Export der einzelnen Monate des lau-
fenden Jahres weit hinter der Ausfuhr der gleichen Mo-
nate des Vorjahres zurückblieb. Das hat sich erfreu-
licher Weise mit dem Juni geändert, und die jetzt be-
kannt gewordenen Anßenhandelszisfexn des Juli haben
das neue Bild erheblich verbessert. Es wurden nämlich
ins Ausland im Juni 1900 26 Mill. Doppelzentner
deutscher Waren versandt, im Juni 1901 27,1 Mill.
Doppelzentner, im Juli 1900 26,8 Mill. Doppelzentner,
im Juli 1901 28,1 Mill. Doppelzentner.

Handel und Verkehr.
Mannheim, 5. Septbr. (Produklenbörse.) Per 100 Kilo.
Weizen Pfälzer 16.75 bis —.00, Norddeutscher —bis —

Azima 17.L5 bis 18.-, Theodosta
17.50 bis —Girka 17.- bis
17.75, rumänische 17.00 bis 17.50,
bis —. —, amerikcm. Spring —.
17.20 bis —, Kalisornier 17 50
bis —. Wolla-Walla l?.— bis -
—, Semence Russe 17.75 bis
Roggen Pfälzer 14.25 bis —
Russischer 14 50 bis 14.75,

16.50, Pfälzer 16.25 bis
Futtergerste 12 75 bis 13 -
Württemberger —.— bis -
Russischer 15.— bis 15.75,
Amerik. mixed 12.75 bis —
Donau 12.50 bis —.

18.50 bis —, Saxonska
17.50, Taganrog 17.50 bis
amerikanische Winter 17.00
— bis —, Kannsas II
bis —, La Vlata 17.00
—Bahia blanca 17.75 bis
, bis —, Kernen 17.25
Norddeutscher bis ,
Gerste hiesiger Gegend 16.00 bis

17.00, Ungarische —bis —
-, Hafer Badischer 15 50 bis -,
, Norddeutscher —bis —,
Amerikaner 15.50 bis —Mais
La Plata 12 50 bis —Mais
Kohlreps deutscher neuer 23.50 bis

- —, Wicken 21.— bis 22 —, Deutscher Klecsamen I 112.— bis
000.—, Pfälzer —bis —.—, Deutscher II 94.— bis 100.—,
Amerikaner 102.— bis 105.—, Lucerne 90.— bis 95.—, Provence
100 - bis 105.—, Esparsette 30.00 bis 30.50. Leinöl mit Faß
7100 bis —, Rüböl mit Faß 64.00 bis —, bei Waggon
66.00 bis —. Petroleum Amerika,,» 18.50 bis —, bei
Waggon 22.10 bis —, in Fässern 23.00 bis —,
Russisches 17.50 bis —, bei Waggon 21.10 bis —, in
Fässern 22 00 bis , 70er Rohsprit —, 90er Rohsprit
31.00. Rohsprit versteuert 116.—.
Weizenmehl 00 0 1 2 3 4
28— 26.— 24— 23.- 22— 20.—
Roggenmehl 0: 23.—, 1: 20.—.
Hopfen. Nürnberg. 3. Septbr. (Offizieller Markbericht
des Vereins der Nürnberger Hopfcn-Kouimtstonäre.) Die heutige
Landzufuhr 50 Ballen betragend, wurde langsam im Preisrahwen
von 90—112 Mk. verkauft. In auswärtigen Sorten, wovon
gestern und heute etwa 500 Ballen eintrafen, war der Einkauf ein
ziemlich ruhiger, und sind Preise und Stimmung als fest zu be-
zeichnen. Umsatz beider Tage etwa 500 Ballen. — Preise am
3. September: Markthopfen, prima 110—112 Mk., ditto mittel
100 105 Mk.,, do. geringe 90—98 Mk., Hallertauer ohne Siegel,
prima 126—125 Mk., do. mittel 110-118 Mk.. do. geringe 100
bis 105 Mk, Spalier, leichte, prima 140—150 Mk., do. mittel
130—135 Mk., Württemberger, prima 120—125 Mk., do. mittel
110-118 Mk-, do. geringe 100—105 Mk., Badische, prima
122—125 Mk.. do. mittel 110—120 Mk., Elsässer, mitte! 105 bis
110 Mk. Für Auswahl wird 5 Mk- mehr bezahlt.
Verantwortlich für den redaktionellen Teil F. Montua, für den
Inseratenteil Th. Berkenbusch, beide in Heidelberg.
I-vioslv W
smpüslüt:
UvIVVILlLVNIlI«!» «»vK
lLgsr in ksrtigsir Obsrbsmtlsll, vsiss rmä ksrbig; HormsUrsmäsa,
Auoo-Rskormllömäöo, Ontsriiossu, Untsrjsoksn, Loccksn, Lragsn
Llsnsobsttsn, Orsvsttou, llsmcksnknöpksn uncl Hossnträgsrn.

Ihr Glück.
l) Skizze von B. Rittweysr.
(Fortsetzung.)

Dann das Städtchen in reizloser, nüchterner Gegend, das
Erbärmliche Pflastsl', die armseligen Geschäfte! Und diese
Menschen I Diese Frauen namentlich! Nein, zu solchem Ver-
ehr war Fran Lucie sich doch zu gut. Das stand bei ihr
sist, nachdem sie einmal in einem Cafe gewesen und die
»rau Apothekerin sie von den Krankheiten ihrer sämtlichen
ttamilicnglieder unterhalten, während ans der andern Seite
m,c Rcchnungsrätin ihr ewig von ihrem neuen Sparherd cr-
öählt hatte. Kein Wort von Theater und Musik, von Kunst-
mlons und Galeriecn, von den neuesten Zeitereignissen.
Als sie den Versuch gemacht hatte, ihrer Nachbarin, der
Aechuuugsrätiu, vom neuesten Ibsen zu berichten, da hatte
(lese Dame sie verständnislos angestarrt und gemeint, ob
»»s vielleicht noch ein besserer Sparherd sei als der ihrige.
Entsetzlich!

.. Frau Lucie hatte genug von dem einen Mal. Sie zog
sich in der Folge gänzlich von der Geselligkeit des Städt-
chens zurück, und ihr schlechtes Aussehen machte die Ausrede,
sie fühle sich nicht Wohl genug, allenfalls glaublich.
Alan ging bald über „die neue Frau Amtsrichter" zur
Tagesordnung über. Man hatte sie ja nicht gerade nötig,
^er verstorbene Amtsrichter hatte gar keine Frau gehabt.
.Alle Bemühungen Arnolds, Lucie zu einer freundlicheren
Auffassung ihrer jetzigen Lage zu bringen, waren vergeblich,
»orderte 'er sie zu einem Spaziergang ans, so hieß es, je
»ach der betreffenden Witterung: „Ach, laß mich — soll ich
^ Schmutz meina Schuhe stecken lassen?" oder: „Wünschst
vielleicht, daß ich im Staub umkomme? Ich bin solche
Txsge eben nicht gewöhnt." Rict er ihr, zu lesen, dann
Pe>„te sie: „O, arw der hiesigen Leihbibliothek vielleicht, wo
^pielhagcns „Problematische Naturen" immer noch das

neueste sind?" Erwiderte er, sie habe ja auch ihren eigenen
Bücherschrank, ihre Klassiker, dann war die Antwort: „Dazu
muß man in Stimmung sein." Kurz, es fruchtete nichts,
und war Frau Lucie gründlich unglücklich, so litt ihr Mann
nicht weniger unter diesem Zustand der Dinge. Oft schon
hatte er's ans den Lippen gehabt, ihr vorzuschlagen, sie solle
wieder für eine Zeitlang nach Berlin zu den Eltern reisen,
aber dann sagte er sich, das sei nicht das Rechte, Nach-
giebigkeit sei hier Schwäche.
Frau Lucie läuft jetzt, nachdem Arnold ans ihrem Seh-
krcis entschwunden ist, rastlos im Zimmer hin und her.
Sie fühlt sich tief unglücklich, gekränkt, beleidigt, und da-
zwischen spricht in ihrem Innern eine leise mahnende Stimme:
die Rene! Doch dieser Stimme will sie kein Gehör schenken.
Sie ist ja zu unglücklich, zu verlassen. Es ist ihr Recht, sich
gegen das Geschick anfzulchncn. lind so kann's auch nicht
weitergehen. Sie kann nicht fortlebcn hier, wo sie nichts hat,
nichts von all' dem, was ihr nun einmal Lebensbedürfnis.
Ihr Glück, welches ihr so sicher geschienen, cs ist dahin!
lieber all' dem Denken und Grübeln wird's ihr ganz
schwül und eng zu Mute. Sie meint ersticken zu müssen in den
vier Wänden des niedrigen Zimmers. Und freiwillig ent-
schließt sie sich nun zu einem Spaziergang. Durch den klei-
nen Hausgarten nimmt sie ihren Weg. Da läuft sie nicht
Gefahr, vielleicht einem Bekannten zu begegnen und Rede
stehen zu müssen. So ist sie gleich auf einem Pfad, der
hinter der Stadt hinaus ii^ Freie führt. Es ist ein wun-
dervoller Sommcrnachmittag, warm die Luft und doch frisch
dabei. Es hat am Morgen noch geregnet und der Staub ist
ziemlich gelöscht. Still und menschenleer ist's ringsum. Die
Honoratioren der Stadt gehen nicht eigentlich spazieren. Sie
suchen nur bisweilen einen Vcrgnügungsort auf, und sonst
beschäftigen sie sich in ihren Gärten. Die gewöhnlichen Leute
aber sind in dieser Zeit — cs ist Wohl halb sechs Uhr —
noch in Geschäft und Werkstatt sestgchalten.
Die junge Frau geht langsam, trübsinnig vor sich hin-
starrend, ihres Weges und träumt von Berlin, von den Pro-

menadenwegen im Tiergarten, von den Linden, von den Kon-
zerten im Zoologischen Garten, von der Nationalgallerie, von
all den geistvollen, liebenswürdigen Menschen ihres Bekann-
tenkreises. Und mit erneuter Wucht kommt das Gefühl ihres
Elends über sie.
Endlich aufblickend befindet sie sich an der Pforte des
Friedhofs. Sie ist noch niemals hierher gekommen. Selt-
sam, auch in Berlin hat sie niemals einen Friedhof besucht.
Sie hatte keine Toten.
Die vergoldeten Spitzen der Gitter und der Kreuze leuch-
ten im Abendsonnenschcin, und Frau Lucie suhlt plötzlich ein
unbezwingliches Verlangen, einzntreten. Es ist ja still und
menschenleer, und sie ist so unglücklich, so innerlich zerrissen,
so todessehnsüchtig, daß es sie förmlich lockt, diesem Gefühl
durch einen Gang nach dem Friedhof so recht nachzugeben. Die
Toten schienen ihr die beste Gesellschaft.
Schon eine ganze Weile ist sic zwischen den Gräbern hin-
und hergewandelt, und es ist ihr kein Mensch begegnet. Nun
ist ihr die Einsamkeit doch drückend. Verlassen von aller Welt,
sogar von dem eigenen Gatten! O, wie unglücklich sie ist!
Sie liest die Inschriften auf den Grabsteinen und findet
darunter viele, die sehr alten Leuten gelten. Aber das erhebt
sie nicht — im Gegenteil. Kann man denn hier überhaupt
so alt werden, hier in dieser erbärmlichen Enge, -— so fragt
sie voll Bitterkeit.
Wieder macht der Weg eine Biegung. Der Friedhof ist
weitläufig angelegt. Kein Wunder, Grund und Boden gibts
hier zu Land genüg, — er hat nur geringen Wert. Jetzt fällt
Lucies Blick auf ein seltsames Wesen: eine ältere Frauens-
person, dem Kopf nach zu urteilen, aber mit dem Körper
eines Kindes, verwachsen in hohem Grad, ein trauriges Bild-.-
Doch die arme Bucklige sieht garnicht traurig aus. Sie hat
Lucies Nahen noch nicht bemerkt, aber diese kann ihr Antlitz
sehen. Es spricht ein stiller Friede und eine gewisse innerliche
Heiterkeit ans diesem häßlichen und doch seltsam anziehenden
Gesicht.
(Fortsetzung folgt.)
 
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