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Heidelberger Zeitung (43) — 1901 (Juli bis Dezember)

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Nr. 204 - 228 (2. September 1901 - 30. September 1901)
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Dienstag, 24. September Ml.

Erstes Blatt.

43. Jahrgang. — Ar. 223.

Erscheint täglich, Sonntags ausgenommen. — Preis mit Familienblättern monatlich 5V Pfg. in's Haus gebracht, bei der Expedition und den Zweigstellen abgeholt 40 Pfg. Durch die Post be-
zogen vierteljährlich 1.35 Mk. aussk-sießlich Z»st .llgebühr.
Anzeigenpreis: 20 Pfg. für die Ispaltige Petitzeile oder deren Raum. Reklamezeile 40 Pfg. Für hiesige Geschäfts- und Privatanzeigen ermäßigt. — Für die Aufnahme von Anzeigen an bestimmt

Vom sozialdemokratischen Parteitag.
Lübeck, 22. Sept. Der sozialdemokratische Par-
teitag wurde heute Abend im Auftrag der Parteileitung
von Bebel eröffnet. 220 Delegierte sind anwesend,
Darunter Bernstein u. Kautsky. Dieser wies aus dm Emst
"er Beratungen an den bevorstehenden schwerenTagen hin
^id knüpfte die Mahnung an, daß, wer immer das Wort
ergreife, es ehrlich, objektiv und mit der festen Absicht
wue, der Allgemeinheit zu nützen. Nur dann könne die
Partei getrost, den Verhandlungen entgegensehen. Der
Parteitag wählte hieraus seine Geschäftsleitung.
Ringer wird wieder Präsident, aber diesmal
^ach der „Köln. Ztg." nur „mit großer Mehrheit". Er
bringt ein begeistert anfgenommenes Hoch auf die deutsche
Sozialdemokratie aus. Bei der Feststellung der Tages-
ordnung wird zunächst heftig gestritten über
Frage der Abhaltung geschlossener Sitzungen. Singer
wchte die bekannte Opposition gegen dieses Verlangen
des Parteivorstandes durch die EEärung namens des
Etzteren zu beschwichtigen, daß nur rein finanzielle Ange-
Menheiten der Presse und Parteilitteratur hinter ge-
Wossejnm Thüren verhandelt werden sollten. Dr.
^uarck-Franksurt verlangt aber dringend weitere Anf-
ftärung. Schwere Kämpfe innerhalb der Partei, selbst
vft mit unsaubersten Mitteln, geführt, würden auch
Einstig wiederkommen. Da schaffe man doch mit den:
Grundsatz geheimer Sitzungen die Möglichkeit argenMiß-
brauchs. Er sei nicht der Anwalt des Quatschbedürfnisses,
bber der Idealismus sei in Gefahr. Bebel widerspricht:
dann hätte die Partei von 1863 bis 1878 keinen Idealis-
mus gehabt, denn so lange war alles geheim. Ein Prä-
lustiz werde nicht geschaffen, der Parteitag bleibe stets
miverän. Es müsse überhaupt einmal herausgesagt
Worden, daß das ganze Geschrei erst entstanden ist, nach-
dem die „Frankfurter Zeitung" mit dem Artikel über
fsNe angebliche Wendung der sozialdemokratischen Tak-
N Alarm geschlagen habe. Ein ganz ungebührlicher
s Muß der bürgerlichen Blätter auf die Parteipresse
bestehe, das wolle er festnageln. Er bitte dringend um
beschlossene Sitzung behufs Beseitigung schwerer Uebel-
Uande in den geschäftlichen Preßverhältnissen.
, Frau Dr. Luxemburg kanzelt diePartei-
^eitung ab, die jugendlichen Uebermuts eine solche
Neuerung oktroyiere, und verspottet Singers alljährliche
uvreotype Schlußrede zum Kongresse. Keine noch so
Aktvichtigen Gründe könnten ihn bewegen, sich des schön-
uen Augenblicks zu berauben, wo er stolz ausrufe: „Man
äftge uns die Partei, die uns die Oesfentlichkeit auch bei
"ku schwersten Kämpfen nachmacht".
, , Ein nun einlaufender Antrag, diese Debatte in ge-
Iftwer Sitzung fortzusetzen, wird abgelehnt. Die Partei-
Mung dringt mit ihrem Verlangen nach geheimer
ftutzung für die Preßangelegenheiten durch, und zwar
^bch einer eindringlichen Rede F r o h m e s, daß man
oH eiusehen möge, wie ernste Gründe die Leitung haben
"Usse. Es kommt daraus unter wachsender Erregung
Md Verbitterung zu einem Vorgefecht in der Accord-
baurersache, zwischen Auer als Vorsitzenden des Schieds-
Michts und den Hamburger Gewerkschaftsführern. Es
Urscht allgemeine Uebereinstimmung, daß die Sache aus
Tagesordnung gehört, aber es entsteht ein langer
irrest über die Reihenfolge der Referenten. Die Gewerk-
jMstliw verlangen Auer als ersten Redner, damit
^Parteigänger Böm eiberg als Korreferent ant-

worten kann, da sie mit gutem Grunde von Auers
bissiger Beredsamkeit und schlagfertigem Humor besorgen,
daß bei umgekehrter Ordnung ihre Gründe arg zerzausen
würden. St a d th a g en-Berlin hält es für falsch,
die Parteien reden zu lassen; man müsse vielmehr ob-
jektive Referenten haben. Auer dankt für die Güte,
ihn als Anwalt der Streikbrecher aufputzen zu wollen;
es sei doch natürlich, daß die Ankläger gegen den Schieds-
spruch zuerst reden. Die Gewerkschaftler erleiden bei der
Abstimmung eine Schlappe; nur ihre wenigen Hamburger
Leute und einige Berliner der rabiaten Richtung sind für
ihren Antrag. Auer wird also als Korreferent sprechen.
Der Parteitag beschließt endlich einen neuen Punkt
der Tagesordnung: Zolltarif und Handels-
verträge, mit Bebel als Berichterstatter.
Lübeck, 23. Sept. Die heutigeSitzung dessozial-
demokratischen Parteitages brachte nach der
„Frkf. Ztg." als bemerkenswertes Moment nur eine
P o I e n d eb a t t e. Nachdem in ihrer Begrüßung die
Oesterreicher Perne rsdorser und Adler leise
auf die abweichende Haltung der österreichischen Sozia-
listen in dieser Frage hingewiesen und auf den Schaden
hingedeutet hatten, den eine schroffe Behandlung der
Polen seitens der deutschenPartei derBewegung inOester-
reich thun könne, verteidigte Pfannkuch die Los-
sagung ds Parteivorstandes von der polnischen Organi-
sation. Ledebour wünscht baldigst die Verbindung
mit den Polen wiederhergestellt zu sehen. Scharf spricht
die Luxemburg gegen die Polen. Diese Debatte
wird denParteitag noch weiter beschäftigen.

Deutsches Reich.
— In den Expeditionsräumen des linarchistischrn
Blattes „Neues Lebe n" wurde am Samstag Haus-
suchung abgehalten, die neueste Nummer wegen des Ar-
tikels über das Attentat auf Mc Kinleh beschlagnahmt
und der Redakteur des Blattes, Panzer verhaftet.
— Zur Frage der Doktor-Promotion an
den Technischen Hochschulen wird Berliner Blättern mit-
geteilt, daß in Uebereinstimmung mit den Eingaben
der Studierenden der Technischen Hochschule zu Berlin
an das preußische Kultusministerium behufs Gleichstel-
lung der Regierungs-Bauführer mit den Dipl.-Jn-
genieuren bei Zulassung zur Doktor-Promotion der Ver-
band der Deutschen Architekten- und Jngenieurvereine,
dem z. Z. 38 Vereine mit 8000 Mitgliedern angehören,
auf seiner 30. Abgeordnetenversammlung in Königs-
berg einstimmig beschlossen hat, den beteiligten Mini-
sterien und Behörden, sowie den Senaten der Technischen
Hochschulen folgende Beschlüsse zu übermitteln: „Der Ver-
band der Deutschen Architekten- und Ingenieur-Vereine
spricht sich dafür aus, daß Bauführer in allen Bundes-
staaten unter Vermeidung weiterer Prüfungen zur
Doktor-Promotion zugelassen und die Diplomprüfungs-
Ordnungen unter Erstreckung auf alle Abteilungen der
Hochschule in allen Bundesstaaten möglichst einheitlich
geregelt werden möchten."
Baden.
— Als sozialdemokratischer Landtags-
kandidat für Offenburg-Stadt wurde Glasmaler Veit
von Offenburg aufgestellt. Von einer „Kandidatur
Geck" wurde, wie die „Offenb. Ztg." berichtet, „aus
verschiedenen Gründen" abgesehen.

Ein furchtbares Eisenbahnunglück.
r Ein Eilzug war am Freitag Nachmittag von Bu-
^vsst abgegangen und wurde Punkt 2 Uhr Nachts von
Station Palota vor Tur-Severin abgelassen, Un-
bnn Em' daraus kam ein Petroleumzug mit 16
je 10 000 Kilogramm enthaltenden Reservoir-
cssiMen in die Station und trat alsbald die Weiterfahrt
schs ^on Palota an hat die Bahnstrecke ein starkes Ge-
Der Eilzug fuhr mit der vorgeschriebenen Gs-
mW'ndigkeit von 35—40 Kilometer in der stunde, als
^vtzlich der Bremser des letzten Wagens (der Zug bestand
2 ^ eine,n Schlafwagen und je zwei Waggons 1. und
ü '"lasse) von einem im Dunkel der Nacht nachfahrenden
^ Me Notsignale vernahm. Die Bremsen des Petrolemn-
LaO ^Men nämlich den Dienst versagt und die kolossale
^stürzte in rasender Eile vorwärts. Das Personal
M Schnellzuges wußte sich die Notzeichen nicht zu erklä-
tzB und brachte anstatt rascher zu fahren, auf offener
tzi^M.und zum größten Unglück gerade in einem tiefen
tex Quitte den Eilzug zum Stehen. Eine Sekunde spä-
djp Aar das Unglück geschehen. Der Petroleumzug, der
ü^Mtrecke von Palota bis zur Unglücksftättc in 62 Mi-
»Uü ^"tte zurücklegen sollen, war thatsächlich in 7 Mi-
^ort angelangt und fuhr mit solcher .Kraft in den
t ^HU'llzug hinein, daß beide Züge b n ch stäbli ch zer -
ert wurden. Nur die Lokomotive des Eil-
und die beiden letzten Wagen (Caissonwagen) des
wsuinizuges lösten sich ab und blieben fast unbeschä-
!eN
No

. Die Wirkung des Zusammenstoßes war eine e n t-
nyM. che. Aus vierzehn Reservoirs er-
!?ch das Petroleum wie ein Sturz -
den abschüssigen Einschnitt h i n u n -

ter auf den Schnellzug und die Flut
wurdevonderLokomotiveinBrand gesetzt.
Im Nu waren beide Züge und die ganze Strecke weit
hinunter von einem Flam m enmeere umgeben, aus
dem die markerschütternden Hilferufe und das Stöhnen
der in den Waggons eingeschlossenen Opfer grauenhaft
ertönten. Dem Bukarester Schlaswageninspektor Mar-
kovics und seiner Frau gelang es wie durch ein Wun-
der, sich aus dem Schlafwagen auf die hohe Böschung zu
retten. Erst dort aber bemerkten sie, daß ihre Tochter im
Wagen geblieben war. An Rettung war nicht zu denken.
Das Mädchen verbrannte vor den Augen der verzwei-
felten Eltern. Der Bremser des letzten Wagens des
Lastzuges rettete sich durch einen Sprung, ebenso kamen
der Lokomotivführer und der Heizer der losgekoppftten
Eilzuglokomotive mit dem Leben davon. Sie liefen
nach Turn-Severin, um Hilfe zu holen. Von dort wurden
die rumänischen Bahnbehörden von der Kathastrophe
verständigt. Dieübrigen Reisend e n und das
ganze Personal der beiden Züge sind
um gekommen.— Als der erste Hilsszug auf dem
Unglücksplatze erschien, bot die Stätte einen schauerlichen
Anblick. Dre aufeinander getürmten Wagen waren in
glimmende Trümmerhaufen verwandelt, alle brennba-
ren Bestandteile waren eingeäschert, die furchtbar zusarn-
mengeschrumpften Leichen und Leichenreste lagen in dein
raucheirden Gerümpel, aus dem die rotglühenden Eisen-
teile hervorragten. Das Erdreich zu beiden Seiten des
Einschnittes ist steinhart gebrannt, gleich einer Böschung
ans Granit, so entsetzlich war die Glut des Brandes. Die
Ueberlebenden erzählen erschütternde Einzelheiten über
die Szenen, die sich abgespielt haben. Der gerettete
Schlafwagchünspektor Markovics ist ein Weißkirchner

IM. Durlach, 23. Sept. In einer gestern Rache
mittag hier abgehaltenen Versammlung von Vertrauens-
männern der konservativer: und nationalliberalen Partei
wurde für den Landbezirk Durlach Sparkassenrechner
Franz Reiff von Söllingen einstimmig als Kandidat
aufgestellt. Derselbe hat sich auch zur Annahme der Kan-
didatur bereit erklärt.
— In Roth entwickelte letzten Sonntag der Zentrums-
kandidat für Wiesloch, Herr Neuhaus, sein Programm.
Nach dem „Pfalz. Boten" war die Versammlung von
etwa 100 Personen besucht. Am gleichen Tage war auch
in St. Leon eine Wählerversammlung.
Württemberg.
^ LO. Stuttgart, 22. Sept. Eine bedenkliche
Arbeitslosigkeit macht sich auch in Württem-
berg mehr und mehr bemerkbar. Nach einer Zusammen-
stellung des städtischen Arbeitsamts Stuttgart waren im
August bei den 15 württembergischen Arbeitsämtern
3764 offene stellen für männliche und 1527 für weib-
liche Personen angemeldet, denen 7318 männliche und
877 weibliche Stellengesuche gegenüberstanden. Wäh-
rend bei der Frauenarbeit und speziell bei den Dienst-
boten die Zahl der offenen Stellen diejenigen der Stellen-
suchenden um ein bedeutendes überragt, zeigt sich bei
der Männerarbeit eine fortwährende Verschlechterung
der Lage und hat sich hier der Andrang der Arbeitssu-
chenden gegen 1899 verdoppelt. Am schlimmsten dran
sind die Metallarbeiter, wo 617 Arbeitsangeboten 1689
Arbeitsgesuche gegenüberstehen; dann folgen Leder-
arbeiter (109 : 478), ungelernte Arbeiter (1028
1981). , ;
Bayern.
M ünchen , 23. Sept. Der Verein für So-
zialpolitik wurde heute unter lebhafter Beteiligung
und im Beisein von Vertretern der Regierung und der
Gemeinden von Geheimrat Brentano eröffnet. Minister
v. Feilitzsch begrüßte die Versammlung und Professor
Schmoller gedachte der aus dem Leben geschiedenen
Vereinsmitglieder Miguel und Dr. Wittelshöser, worauf
die Besprechung der W o h n u n g s f r a g e begann. Die
Professoren Fuchs und PhiliPPovich referierten. Dann
trat die Mittagspause ein.
Preuße«.
— Der Harzklub, eine Vereinigung von 110
Vereinen zur Hebung des Verkehrs im Harze mit 15 000
Mitgliedern, nahm in seiner Hauptversammlung in Thals
Stellung zu dem Thiele'schen Erlasse betr. die Aufhebung
der s> o nnt a g s k a r t e n, Sommer- und Sonder-
züge. Es wurde energisch Protest gegen die Verfügung
erhoben und eine Resolution an den Eisenbahn-
minister abgeschickt, worin er im Interesse des Volks-
Wohles dringend ersucht wird, die betr. Verfügung zu-
rückzunehmen. Auch von Seiten vieler Gemeinden des
Harzes wird jetzt für die Aufhebung der Verfügung ge-
arbeitet.

Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Groß Herzog haben
dem Schneidermeister Franz Barz in Baden die Erlaubnis zur
Annahme und znm Tragen der ihm von dem Kaiser von Rußland
verliehenen, am Bande des St. Annen-Ordens um den Hals zu
tragenden silbernen Medaille erteilt, den Bezirksarzt Medizinalrat
Ludwig Haßmann in Oberkirch in gleicher Eigenschaft nach

und wollte mit seiner Familie zum Besuche seiner Ver-
wandten nach seiner Vaterstadt reisen. — Der Millionär
Dinn aus Crajova wollte sich retten, dabei geriet sein
Fuß zwischen zwei Balken, und er war sestgerannt.
Flehentlich bat Dinn den Lokomotivführer, er möge ihm
den Fuß abhacken und ihn ans diese Weise retten. Er
wolle ihn für diesen Dienst reich belohnen. Im nächsten
Moment versank der Unglückliche in den Flammen. —
Der Schlafwagenkondukteur Schwarz, ein ehemaliger
österreichisch-ungarischer Artillerieleutnant war ebenfalls
eingeklemmt. Ein rumänischer Arbeiter wollte ihn hi-
nausziehen, Schwarz umklammerte den Hals des Ret-
ters, der Arbeiter konnte ihn aber nicht befreien, er war
zu schwach dazu; schwarz' Nägel bohrten sich in den
Hals des Rumänen, und der Unglückliche ritz in seiner
Verzweiflung dem Retter das Fleisch herunter, so daß
der Mann endlich mit Gewalt befreit werden mußte,
während Schwarz in den Flammen den Tod fand. Der
Vessaker Kaufmann Argelan, bekannt durch seine Pserde-
lieferungen für Rumänien, ist ebenfalls in dem Zuge
umgekommen. Alle Bäume bis auf einen halben Kilo-
meter im Umkreise sind verkohlt, desgleichen die Bahn-
schwellen und alles brennbare Material. Einer späte-
ren Meldung zufolge sind von den 38 Reisenden des
Zuges 3 2 um gekommen, außerdem acht Be-
dienstete; sechs Personen sollen schwer verwundet iu
das Spital nach Turn-Severin befördert worden sein.

Wir tragen den Frieden wie ein Gewand, an dem wir vorn
flicken, während es hinten reißt. Der Stoff hält ,sich eben nicht.
Wrlh. Raabe..
 
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