Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) (2) — 1894

DOI Kapitel:
Nr. 191 - Nr. 200 (17. August - 28. August)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44556#0189

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nummer 197. ll Jahrgang.

2? s rr s v

Freitag, 24. August 1894


General-GAnMer

für Heidelberg und Umgegend

Expedition: Hauptstraße Mr. 2S.

AbouucmentSpreis r
mit Sseitigcm illostrirtem SountagSblatt: monatlich
40 Pfennig frei in's HauS, durch die Post bezogt«
vierteljährlich 1 Mark ohne Bestellgeld.
Grvedition: Kauptstraße Mr. L5.

a. > . r__ — i >
Jnscrtiondprciör
die lspaltige Petitzeile oder deren Raum 8 Pf«.,
für auswärtige Inserate 10 Pfg., bei öfterer Wieder-
bolung entsprechender Rabatt.
. i,, ———————4

GeleseMfLes VLaLt TM StcrdL rr. Mmt HerdeLveVO MMd MMgegsird. Gvotztev GVssLg fÜV Jnsermte.

WM" Telephon-Anschluß Nr« IttL. "ME

Um 34 U.
für den Monat September kostet der
General - Anzeiger
für Heidelberg und Umgegend
(Bürger-Zeitung)
nebst Zllustr. Sountagsblatt am Postschalter
abgehvlt.
(Vom Briefträger ins Haus gebracht 13 Pfg. mehr.)
In Heidelberg und den nächsten Orten der
Umgebung kostet der „Neue General-Anzeiger für
Heideberg und Umgegend"
monatlich nur Pfg.
frei in s Hans.
Bestellungen werden von unfern Trägern und
Trägerinnen sowie von allen Po st an st alten
fortwährend angenommen.

Zustände in der Fabrikindustrie.
Die Jahresberichte der Fabrikinspektoren stellen
durchweg eine Zunahme der weiblichen Arbeits-
kräfte fest. Am Auffälligsten ist die Erscheinung
in Baden, aber auch die Berichte für die anderen
süddeutschen Staaten zeigen, daß hier ein inneres
Gesetz unserer industriellen Entwicklung langsam
und sicher vor sich geht. Das Wachsthum der
weiblichen Arbeitskräfte hat zwei Hauptursachen.
Die eine ist der billigere Lohn, mit dem sich die
Arbeiterinnen begnügen; die andere Ursache wirkt
erfreulicher, denn sie ist die Folge der starken
Einschränkung der Kinderarbeit durch die letzte
Gewerbeordnungsnovclle. An die Stelle der Kinder
und der anderen jugendlichen Personen, deren
Beschäftigung unlohnender geworden ist, treten
die Arbeiterinnen, und der elfstündige Maximal-
arbeitstag, der für diese Kategorie eingerichtet
worden ist, erweist sich nicht als Hinderniß, zu-
mal die vom Gesetze vorgesehenen Ausnahmen,
die Verlängerung bis zu 13 Arbeitsstunden täglich,
anscheinend mit weitem Entgegenkommen gegen
die Bedürfnisse der Industrie gewährt werden.
Was Württemberg anlangt, so macht man
sich die Sache dort offenbar besonders leicht. Der
Gewerbe-Jnspektionsbericht für 1893 erklärt: „Die
Prüfung solcher Gesuche auf die Nothwendigkeit

der Neberzeitarbeit ist eine sehr schwere; eS wurden
wohl deßhalb von den zuständigen Behörden Ge-
suche nur abgewiesen, wenn die Erlaubniß sür
40 Tage schon gegeben war." Mit anderen
Worten: Jeder württembergische Unternehmer, der
um den dreizehnstündigen Maximal-Arbeitstag
nachsucht, bekommt ihn ohne Weiteres für 40
Tage im Jahre bewilligt. So weit wird die
bayerische Regierung in Anwendung der bezüg-
lichen Vollmacht gewiß nicht gehen.
Ueber die Lage der Arbeiterbevölkerung im
Allgemeinen weichem die süddeutschen Berichte auf-
fallend von einander ab. Der Gewerbe-Inspektor
sür Oberbayern findet, daß das Angebot von
Arbeitskräften im großen Ganzen stets durch eine
entsprechende Nachfrage ausgeglichen worden ist,
„die die Lage der Arbeiterbevölkerung immerhin
Vortheilhast beeinflußt hat."
Dagegen berichtet einer der hessischen Gewerbe-
Inspektoren Folgendes: „Die Lebens- und Er-
nährungsweise der Arbeiterschaft ist im Durch-
schnitt eine den Anforderungen an die Gesundheit
und Wohlfahrt des menschlichen Körpers nickt
entsprechende. Die Preise der Lebensmittel find
wohl eher etwas herabgegangen, während die
Löhne im Ganzen dieselben geblieben sind. Aber
die Zahl der Arbeitslosen nimmt zu, und der
Verdienst der in Beschäftigung stehenden Arbeiter
ist oft weniger als früher. So läßt z. B. eine
Fabrik der chemischen Industrie mit vorwiegend
weiblicher Arbeiterschaft nur fünf Tage in der
Woche arbeiten. Andere Fabriken arbeiten seit
Jahren mit Verlust, und mit der zunehmenden
Ueberproduktion geht eine viel mehr ins Gewicht
fallende Unterkonsumtion der arbeitenden und
ärmeren Klassen Hand in Hand. Der an vielen
Stellen so welke Zustand unserer Industrie übt
einen ungemein drückenden Einfluß auf die Ar-
beiterschaft aus."
Aus diesen beiden Beispielen ersieht man die
Gegensätzlichkeit der Wahrnehmungen von Männern,
denen man doch den Willen zur strengsten Objek-
tivität zutrauen darf, zur Genüge; man lernt
auch daraus, wie schwierig cs ist, statistisches
Material richtig zu verwerthen, auch wenn es
noch so umfangreich und übersichtlich geboten wird.
Wer hat Recht: Der Beobachter der ober-
bayerischen oder der der hessischen Zustände ? Möglich,
daß der Eine die Zustände zu rosig, der Andere
zu düster geschildert hat. . . .
Deutsches Keich.
Berlin, 24 August.
— Die „Nationalztg." bringt eine Erklärung
des Finanzministers Dr. Miquel bezüglich einer
Unterbaltung mit einem Mitarbeiter des Peters-

burger „Herold", in der es heißt, die Unterhaltung
sei im allgemeinen nicht Unrichtig wiedergegeben,
nur mit der Ausnahme, daß ihm der Berichter-
statter manches in den Mund lege, was nicht er
— Miquel — sondern der Berichterstatter selbst
ausgeführt habe.
— Minister Dr. Bosse hat den Oberprüsi-
dcnten über eine zielbewußte Förderung der
Leibesübungen und der Turnspiele im
Besonderen einen Erlaß zugehen lassen, worin er
anerkennt, daß die vom Minister Dr. v. Goßler
gegebene Anregung sich in erfreulicher Weise wirk-
sam gezeigt hat. Doch sei das Ziel noch keines-
wegs erreicht, namentlich in den größeren Städten
stoße die Pflege der Bewegungsspiele vor allem
wegen des Mangels an zweckmäßig belegenen
und eingerichteten Spielplätzen noch vielfach auf
erhebliche Schwierigkeiten. Die Unterrichtsver-
waltung allein sei der Ueberwindung dieser
Schwierigkeiten nicht gewachsen, sie bedürfe dazu
ausgedehnter Mitarbeit, um die vor Opfern
nicht zurückscheuende Ucberzeugung, daß hierbei
die Erfüllung ernster Forderungen der Gesund-
heitspflege und der Erziehung in Frage steht, in
immer weiteren Kreisen zu verbreiten. Die Ober-
präsidenten werden darauf hingewiesen, daß nach
Lage der Verhältnisse es vor allem darauf an-
komme, die Stadtverwaltungen für die Bestreb-
ungen des Zeutralausschusscs für Förderung der
Jugend- und Bolksspiele in Deutschland zu
interessiren. Namentlich ist dabei für die größeren
Städte, in denen es der Jugend nur zu oft an
Gelegenheit fehlt, sich in frischer Lust zu tum-
meln, die Anlegung und Unterhaltung geeigneter
Spielplätze dringend zu empfehlen. Die Ober-
präsidenten sollen in dflser Richtung je nach den
örtlichen Verhältnissen ihren Einfluß geltend
machen, daß dem Heranwachsenden Geschlecht für
die Bewegungsspiele der erforderliche Raum ge-
währt werde.
— Der Deutsche Anwaltstag ist auf
den 11. und 12. September d. I. nach Stutt-
gart unberufen. Die Verhandlungen finden im
Bürgermuseum statt. Die vorläufige Tagesord-
nung enthält folgende Punkte von allgemeinem
Interesse: 1) Antrag des Vorstandes, betreffend
beschleunigte Fertigstellung des Bürgerlichen Ge-
setzbuchs. Berichterstatter Justizrath Naatz iu
Gießen. 2) Besprechung und Beschlußfassung
über die Frage, ob und wieweit Beschränkungen
der freien Advokatur zulässig sind. Berichter-
statter Justizräthe Dr. Pemsel in München und
Levy-Berlin. 3) Bericht über den Antrag des
Bureaubeamtenvereins zu Leipzig wegen Befür-
wortung einer reichsgesetzlichen Ordnung des
Schreiberwesens. Berichterstatter Justizräthe
Schlieckmann-Halle a. S. und Bienenfeld-Mün-

chen. In Verbindung mit dem Anwaltstage
findet in Stuttgart auch die 10. Generalver-
sammlung der Hilfskaffe für deutsche Rechtsan-
wälte statt.
— Gegenüber einer Blätternachricht, daß in
Kamerun unter den Sudanesen ein gegen den
Gouverneur gerichteter Aufstand auszubrechen drohe,
erfährt die „Nordd. Allz. Ztg.", daß nach den
amtlichen am 22. August eingetroffenen Berichten
von den Sudanesen an der Küste in der Trunken-
heit verschiedene Ausschreitungen und Schlägereien
verübt worden sind. Die daraus entstandene Be-
lästigung der Eingeborenen veranlaßte den Gouver-
neur die unverbesserlichsten Trunkenbolde und Row-
dies heimzuschickm und die übrigen auf den inneren
Stationen zu verwenden. Da sich auch herausge-
stellt hat, daß oie Sudanesen das feuchte Klima
Kameruns schlecht vertragen, ließ der Gouverneur
schon jetzt eine Ergänzung der Schutztruppe durch
westafrikanische Söldlinge eintreten.
Karlsruhe, 23. Aug. Zu den staatlichen
und gemeindlichen Veranstaltungen, welche sich vom
größten Segen erwiesen haben, gehört in Baden
die stets fortschreitende und in ihrer Bedeutung
erkannte Wasserversorgung. Seit 1878 bis Ende
1893 wurden im Großherzogthum 516 Unterneh-
mungen difter Art mit einem Aufwande von 8,7
Mill, durchgeführt. Zu den hervorragenden Ar-
beiten auf diesem Gebiete gehören die Wasserver-
sorgung auf der Hochebene der Alb und Pfinz und
auf dem badisch-württembergischen Heuberg, welch
letztere in gemeinsamem Vorgehen der beiden Nach-
barstaaten erstellt wurde unter Gewährung be-
deutender Staatszuschüsse. Mit Recht hebt die
„Bad. Korr," die Thätigkeit der leitenden Behörden,
der Kreise und der Gemeinden auf diesem wichtigen
Gebiete hervor, zu dessen weiterer Pflege ein Be-
trag von 150 000 Mk. in das laufende Budget
eingestellt ist.
Karlsruhe, 23. Aug. Der Großherzogliche
Minister von Brauer ist gestern Abend wieder
aus Schloß Mainau eingetroffen und wird noch
einige Tage, dem Wunsche Seiner Königlichen
Hoheit des Eroßherzogs folgend, daselbst ver-
bleiben. — Heute Nachmittag trafen Se. Großh.
Hoheit der Prinz und Ihre Kaiserliche Hoheit
die Prinzessin Wilhelm von Baden aus Salem
zum Besuch der Großh. Herrschaften auf Schloß
Mainau ein und kehrten am Abend wieder nach
Salem zurück. Heute Abend trifft Ihre König!.
Hoheit die Erbgroßherzogin, von der Hofdame
Gräfin von Kageneck und dem Hofmarschall
Freiherrn von Freystedt begleitet, auf Schloß
Mainau ein, um einige Tage bei den Höchsten
Herrschaften daselbst zu verweilen.
Darmstadt, 23. Aug. Auf einen Beschluß
deS Bundesrathes vom 7. Juli 1892 fand im

Die verborgene Kcrnö.
Kriminal-Roman aus der neuesten Zeit
von E. von der Have.
16j (Fortsetzung.)
Und dann — jäh tönten abgerissen die Worte in
das Schweigen:
„Der Dieb der Kolliers — der Mörder deiner
Mutter — hinaus — Verruchter — hinaus — Mutter-
mörder!"
Wie zur Bildsäule erstarrt, stand Jertha plötzlich
mitten in dem Gemach. Das ganze Entsetzen, welches
sie beseelte, prägte sich aus in dem Blick, mit dem' sie
auf den Bruder schaute.
Und er sah es und wollte sich ihr nähern, aber
wild abwehrend streckten sich ihm ihre Arme entgegen.
„Rühre mich nicht an!" stieß sie aus, und pfeifend
kamen die Worte aus ihrer Kehle hervor. „Rühre mich
nicht an! Gott, — was habe ich hören müssen!"
Sie schlug beide Hände vor das Gesicht und
schwankte, als wenn sie zu Boden stürzen wollte. Und
mit Gewalt hielt sie in der That sich nur aufrecht.
„Der Dieb der Kolliers — der Mörder der Mutter
— Muttermörder!"
Stoßweise entrangen sich ihr die gräßlichen Worte,
die wie die Posaunen des jüngsten Gerichts ihr Ohr
erreicht hatten-
„Jertha," scharf fiel die Stimme m das athemlose
Schweigen hinein, „was ich, um nicht einen neuen
Schein auf mich zu richten, vorhin nicht sagte dir will
ich es gestehen, um diesen grauenhaften Verdacht mr
aus der Seele zu reißen. Als ich vor einer Stunde
heimkehrte, theilte der Johann mir mit, daß der Vater
mich sogleich zu sprechen wünschte- Unheilvolle Ah-
nungen kamen mir. Ich hatte vergeblich meine Mis-
sion in der Stadt zu lösen versucht. Der Pfandleiher
weigerte sich, mir das Kollier auf dein Eigenthum her-
auszugeben; der Wechsel aber befand sich nicht mehr in
den Händen des Schurken, der ihn nicht von sich zu
geben mir fest versprochen und dafür sich ein Zehntheil

des ganzen Betrages als Zins zugeeignet hatte. Sinn-
los vor Verzweiflung war ich somit heimgekehrt, ent-
schlossen, mich dem Vater, wenn aucy spät, doch endlich
jetzt vollständig zu entdecken und seine Hilfe zur Rettung
anzurufen. „So, mit dem, was meiner wartete, --
konnte der Wechsel nicht sehr wohl schon präsentiert
und als gefälscht erkannt worden fein? — so traf des
alten Johannas Mittheilung mich vernichtend. Dennoch,
von meinem Vorsatz, den ich gefaßt hatte, voll und
ganz beseelt, zögerte ich keine Sekunde, dem Ruf des
Vaters Folge zu leisten, wenn auch zitternd vor Un-
gewißheit bis in die tiefste Seele. Vielleicht verachtest
du mich noch mehr, als wie du ohnehin dies schon thust,
wenn ich dir sage, daß mir Gedanken gekommen sind,
— Selbstmordgedanken. Aber dieses Leben von mir
werfen, dünkte mich immer noch Zeit genug, wenn alles
verloren war; das aber war es noch nicht, so lange
mir noch die Hilfe des Vaters winkte. Und eins noch
hielt mich ab von dem Schritt. So lange ich lebte,
konnte ich meine Ehre. Vertheidigen; die Todten richten
sich selbst. So faßte ich mir das Herz nnd trat zu
dem Vater ein. Wer der fremde Besucher gewesen sein
kann, ich weiß es nicht, aber derselbe muß ihm Auf-
schluß über die Brillantkolliers gegeben haben, begleitet
von kühnen Schlußfolgerungen. Kurz, der Vater er-
klärte mir, daß die Spur, welchen Weg die geraubten
Kolliers genommen hätten, gefunden sei und daß diese
Spur unabweisbar darauf hindeute, daß der Räuber
der Brillantkolliers auch der Mörder der Mutter sei!"
Regunglos, die Hände chlass im Schooße ruhend,
hatte Jertha ihm zugehört; sie unterbrach die minuten-
lange Stille auch jetzt mit keinem Laut.
Und er fuhr fort:
„Wie ein Dpnnerschlag trafen mich die Worte und
wenn etwas mich dazu trieb, jetzt dem Vater alles zu
sagen, so war es die grauenhafte Anschuldigung, welche
in denselben lag. Der Räuber der Kolliers — der
Mörder der Mutter! Daß nicht Wahnsinn mich packte,
als die gräßlichen Worte mein Ohr trafen, noch fasse
ich es kaum. Ich hielt mich aufrecht, mehr noch, ich
beherrschte vollständig meine Kräfte und beichtete dem
Vater alles, alles, — bis auf die Wechselfälschung! Ich

sagte ihm, daß die Mutter mir eins der Kolliers ge-
geben habe, damit ich mir das Geld, welches ich zur
Einlösung einer Ehrenschuld gebrauchte, darauf ver-
schaffen konnte; — ich berichtete ihm von dem Betrug,
dem gefälschten Billet, mit dem das zweite Kollier auf
meinen Namen bei demselben Menschen versetzt worden
war, der mir das Geld auf das erste Kollier gegeben
hatte, und wies ihn hin auf das undurchdringliche Ge-
heimniß, welches diesen ganzen Vorgang umgiebt, ein
Geheimniß, welches mit dem mysteriösen Tod der
Mutter recht wohl in Verbindung stehen kann, so fieber-
haft erregend es auch ist, nicht die leiseste Spur zu
sehen, welche auf die That und den Thäter leitet. Gott
im Himmel, wenn ich noch wahnsinnig darüber werde,
so ist es vielleicht eine Rettung, denn der Gedanke, daß
dieses Geheimniß für immer unaufgeklärt bleiben könnte,
bringt mich zur Raserei! . - . Jertha, ich will es dem
Vater nicht nachtragen, bei Gott nicht; er greift nach
dem Strohhalm, der sich ihm bietet, weil diese Unge-
wißheit ihn, wie auch mich, martert und ihm das Herz
zerreißt und so glaubt er, durch falsche Schlüsse irre
geleitet, selbst das Grauenvollste: — daß der Sohn
zum Mörder der über alles geliebten Mutter werden
konnte, — ein Wahn, wie er gräßlicher auf Erden sich
nicht denken läßt . . . Habe ich es anfangs nicht ge-
glaubt, mehr und mehr befestigt srch jetzt doch die Ueber-
zeugung in mir, daß ein Verbrechen verübt worden ist,
gegen welches alles, selbst der größte Raub, ein Nichts
wäre, ein wesenloses Nichts, ^xch kann dir nicht sagen,
Jertha, was es ist. Es ist ein instinktives Gefühl,
welches alles in mir aufbäumt und iu den wildesten
Aufruhr versetzt. Aber so fest ich davon überzeugt bin,
so fest mußt auch du davon überzeugt sein, Jertha,
daß ich mit dem Tode der Mutter nichts zu schaffen
habe. Jertha, du mußt, du mußt es !" Er war dicht
an sie herangetreten und hatte ihre Hände mit fast
krampfhaftem Druck erfaßt, sie so zwingend, zu ihm
auf- und ihn anzusehen. „Jertha, bei Gott und allem,
was dir heilig ist, du mußt, du mußt es glauben, daß
dein Bruder Hans unschuldig ist, — schuldlos an dem
Tode der Mutter!"
Sein Blick bohrte sich ihr gleichsam in die Seele;

es war ihr, als könne seine Verzweiflung ihn zu dem
Wahnsinn treiben, sie selbst zu tödten; sie wollte ihm
antworten, aber der Laut erstickte ihr in der Kehle.
. „Jertha, sage es mir, sage es mir!" drängte er, ihre
Fmger zwischen den seinen wie in Daumschrauben
pressend.
„Ja, ja, ja!" schrie sie auf, dem physischen und
seelischen Schmerze weichend. „Hans — Hans, es könnte
ja auch nimmer sein!"
Wild stampfte er mit dem Fuße auf den weichen
Teppich.
„Es könnte nicht sein!" wiederholte er. „Tod und
Teufel, — es ist, es ist nicht! Verstehe es doch und
schlage alle andern Gedanken dir aus dem Kopf! Bei
Gott, es macht mich noch rasend, wenn nur ein Zweifel
in deiner Seele bleibt!" ,
Sie hatte sich erschrocken erhoben, zitternd am
ganzen Körper. r.
„Ich zweifle nicht an dir, fließ sie m Absätzen
hervor, „aber müßige dich, wenn dich so zemand sähe—"
Sie kam nicht weiter; ein leises Klopfen an die
Thür erfolgte; im nächsten Moment wurde die Thüre
langsam geöffnet. < -
Das Gesicht Nina's, der Zofe, erschien in derOcff-
„Gnädiges Fräulein, die Wärter sind da," meldete
sie leise. „ „
Jertha raffte s-ch.auf-
„Ich komme sogleich, sagte sie.
Die Thür schloß sich wieder.
„Hans," lprcmj das juggx Mädchen gedämpften
Tones, »hal^ a".)cky oder alles ist verloren. Eine
einzige Unvorfichligrett vor anderen, wie eben vor mir,
und dein Schicksal ist besiegelt. Ich halte dich nicht
für den Mörder der Mutter!"
„Aber du glaubst," folgerte er aus ihren ersten
Worten, „datz andere es thun, oder wenigstens es thun
könnten? >
Wenn du selbst ihnen die Handhabe dazu bietest,
unbedingt, antwortete Jertha fest. „Mit unserer
Macht ist Nichts gerthan- Bedenke das. Ja, ich will
glauben, daß du schuldlos bist, aber glaube auch du,
 
Annotationen