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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) (2) — 1894

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Nr. 151 - Nr. 160 (2. Juli - 12. Juli)
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Nummer 157. H. Jahrgang.


Montag, S. Juli 18S4.


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rni' Sscitigem tlluftrtrtem SonutagSblatt: monatlich
40 Pfennig frei in's Haus, durch die Post bezogen
vierteljährlich 1 Mark ohne Bestellgeld.
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Expedition : dbonpMecrhe Zkr. 25.


für Heidelberg und Umgegend
(ZMrger-Zeitung).

JnsertionöpreiSr
die Ispaltige Petitzrile oder deren Raum S Pf-.,
für auswärtige Inserate 10 Pfg„ bei öfterer Wieder-
holung entsprechender Rabatt.
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Expedition: LhnuptstraHe 'Ar. 25.

Gelesenstes VLcrLt in Stadt rr. AnrL HeideLbevs und Lt-ugegeud. Gvötztev Lvfotg füv Inserate.

WV" Telephon-Anschluß Nr. 102.
Fsrtwähvend
werden von allen Postanstalten, Landbriefträgern
unseren Agenten und Trägerinnen Abonnements
entgegengenommen.

Ten Arbeiten der Srlberkommisfion
haben fünf bimetallistifche Mitglieder (Dr. Arendt,
v. Kardorff, Leuschner, v. Schalscha, Wülfing)
einen Epilog hinzugefügt, der, wie es scheint, dem
noch nicht ausgegebenen stenographischen Bericht
über die letzte Sitzung als Anlage beigelegt werden
soll, inzwischen aber bereits in Dr. Arendt's Zeit-
schrift „Deutsches Wochenblatt" veröffentlicht wird.
Dem Sachkundigen sagen die Herren in dieser
ihrer „Erklärung" nichts Neues: sie werden auch
keinem Zeitungsleser damit eine Uebcrraschung
bereiten, daß sie nach Abschluß der Kommissions-
berathungen unverändert auf ihrem Standpunkt
verharren. Dennoch kann die Veröffentlichung
dieser Erklärung sich insofern als nützlich erweisen,
als dieselbe, wenn auch wahrscheinlich sehr gegen
den Willen ihres Verfassers und ihrer Unter-
zeichner, überaus treffend die Methode des agita-
torischen Bimetallismus charakterisirt. Dahin
gehört in erster Linie, daß darin fast jede bime-
tallistische Behauptung, welche in einer bereits
länger als zwei Jahrzeute geführten öffentlichen
Diskussion immer bestritten worden und bestritten
geblieben ist, als „einigermaßen", „unwiderleglich
nachgewiesen", „allgemein anerkannt" bezeichnet
wird. Dann folgt eine ausführliche Schilderung
des Unheils, welches die deutsche Goldwährung
angeblich über die Welt gebracht, und des Segens,
den die internationale Doppelwährung verbreiten
würde. Kein Sozialdemokrat kann ausschließlicher
alle wirthschastliche Noth auf das „Kapital"
zurückführen, kein Antisemit kann einseitiger für
alle Ucbel dieser Welt die Juden verantwortlich
machen, als die sünf Herren den Urgrund sür
alle Schäden unserer Zeit in der Silberentwerthung
oder spezieller in dem Uebergang Deutschlands
zur Goldwährung suchen- In der langen Liste
werden z. B. theils als bereits eingetretene, theils
als sicher bevorstehende Nachtheile aufgeführt:
Schädigung des Schuldners, Schädigung des
Gläubigers, Nothlage der Landwirthschaft, Noth-
lage der Industrie, Herabdrückung der Unter-
nehmungslust, Rückgang der Produktion, Erliegen
des deutschen Silber-, Kupfer-, Blei- und Zink-
bergbaues. Ruin ganzer Bezirke Deutschlands, eine
sich nach Milliarden berechnende Entwerthung des
Grund und Bodens; Anwachsen der Sozialdemo-

kratie, antisemitische Bewegung, Entvölkerung des
Platten Landes, Schwächung der deutschen Wehr-
kraft ! Und damit ist die Liste noch nicht zu Ende.
Als Segnungen der internationalen Doppelwähr-
ung werden dagegen in Aussicht gestellt: Neuer
Aufschwung der Landwirthschaft und der Indu-
strie, Steigen der Unternehmungslust und des
Zinsfußes, Wachsen der Staatseinnahmen, Er-
höhung der Beamtengehälter, Besserung der
Arbeitslöhne, Aushören der agrarischen, anti-
semitischen und sozialdemokratischen Bewegung
u. s. w. Zum Schluß rufen die Bimetallisten die
verbündeten deutschen Regierungen aus, die Ini-
tiative zu internationalen Verhandlungen zu er-
greifen. Man darf sicher vertrauen, daß diese
Behandlung der Sache nicht zu einer abenteuer-
lichen Währungspolitik anregt, sondern davon
abschreckt.
Deutsches Reich.
Berlik, 9. Juli.
— DerErbgroßberzog besuchte von Kon-
stanz aus, wo er militärische Besichtigungen vorge-
nommen hatte, das württembergische Königspaar
in Friedrichshafen und begiebt sich nunmehr mit
seiner Gemahlin, der Frau Erbgroßherzogin Hilda,
nach St. Blasien, um dort mit seinen fürstlichen
Eltern am 9. Juli sein Geburtsfest zu verbringen.
— Der „Reichanzeiger" führt gegenüber den in
Anknüpfung an die Flugschrift Dr. Pro wes
vorgebrachten Klagen der Tugesblätter betreffend
den angeblichen ungenügenden Schutz der Deutschen
in Mittelamerika aus, Prowe habe die erlittenen
Unbilden selbst verschuldet, da er den Komman-
danten von San Salvador, General Pastor, aus
seiner Stellung im Lande zu drängen versuchte.
Das gerichtliche Verfahren sei infolge der Ent-
weichung Prowcs und des Todes Pastors cinge
stellt worden. Gegenüber privaten Nachrichten
aus Salvador könne auf Grund telegraphisch
eingeholter Auskunft mitgetheilt werden, daß der
deutschen Gesandtschaft bei den mittelamerikanischen
Freistaaten Meldungen über heimliche Ermordung
von Deutschen keinerseits gemacht worden seien.
— Die „Nordd. Allg. Ztg." schreibt an-
knüpfend an die Preßerörterungen über die Ver-
schärfung der Maßnahmen gegen die
Anarchisten und den Kampf gegen die
Socialdemokratie: „Wir sind für jede,
auch die schärfste Maßnahmen gegen die Anarchisten,
von der man überzeugend darthun kann, daß sie
ihren Zweck erfüllen wird. Auf diesen Nachweiß
warten wir gerade bei den Vorschlägen, die in
gereiztem Tone gegen uns vertheidigt werden,
vergebens, hinsichtlich der Sozialdemokratie haben
wir ein Mittel, mit dem sie sicher zurückgeworfen

werden kann: Zusammenschluß aller Ordnungs-
parteien, aber dieses Mittel wird von einem Theil
der Ordnungsparteien zurückgewiesen. Ob man
an die Erneuerung des Sozialistenge-
setzes oder andere Maßnahmen denkt, jedenfalls
ist der unerläßliche nächste Schritt die Herstellung
einer Mehrheit des Reichstages, die Beschlüsse
der erforderlichen Art faßt- Bei einer Bereit-
willigkeit zum Zusammenschluß der zur Unter-
stützung der bestehenden Staats- und Gesellschafts-
Ordnung bereiten Parteien ist ein Boden für die
Entwicklung einer überlegten Aktion gegeben. Alle
anderen Betrachtungen haben kein praktisches
Interesse".
Ausland.
Paris, 6. Juli. Der Untersuchungsrichter in
Montpellier hat die Acten über das Verhör der
Soldaten Leblanc und seine Gegenüberstellung mit
Säuret nach Lyon geschickt. — In Gignar wurde
ein Bäckergeselle namens Lamourour verhaftet, der
Beziehungen zu Caserio, dem Mörder Carnots batte
und am Vorabend der Ermordung des Präsidenten
Cette verließ.
Paris, 7. Juli. Deputirtenkammer. Nach der
Wahl des Vizepräsidenten wurde der Antrag Emil
Brousses über den Zoll auf getrocknete
Trauben mit 214 gegen 174 Stimmen an den
Zollausschuß gesandt. Paul Vigne interpellirte
über die von der Regierung während des Aus-
standes in Graissessac getroffenen Maßregeln. Die
Arbeitseinstellung geschah wegen Entlassung von
300 auf 1800 Arbeiter, weil die Bergwerksgesell-
schaft infolge der Zollverhältnisse ihr Absatzgebiet
in Spanien verloren hat. Sie lehnt das An-
erbieten der Leute ab, die eine Stunde weniger
arbeiten wollen, damit die Entlassenen wieder an-
genommen werden können. Lacombe sagt, in
Avevron habe man zu ausgedehnte Muthungen er
theilt; Morry Donou und andere hätten über 98000
Quadratkilometer erhalten, die seit 15 Jahren nicht
ausgebeutet seien. General Riu bringt eine Tages-
ordnung ein, wonach die Kammer von der Noth-
wendigkeit überzeugt ist, daß die Verwaltung sich
mit der Ausbeutung der Minen und besonders mit
der jetzigen Lage in Aoeyron beschäftigt. Der
Minister der öffentlichen Arbeiten setzt auseinander
daß nach dem Gesetz eine Einmischung der
Regierung in den Bergwerksbetrieb nur unter
bestimmten Umständen möglich sei. Allerdings gebe
es Mißbräuche, die man beseitigen müsse, aber
augenblicklich sei die Regierung nicht dazu imstande.
Er habe Anweisungen Erlassen, um den Verfall
nicht ausgebeuteter Bergwerke festzustellen.
London, 7. Juli. „Daily Chronikle" bringt
heute die zwei ersten Kapitel aus Tolstois Werk
„Vaterlandsliebe und Christenthum", welches die

französisch-russische Allianz behandelt. Er vergleicht
die Festlichkeiten in Toulon und den russisch-
französischen Gefühlsaustausch einfach mit einer
geistigen Epidemie; der Endzweck sei nicht Fried-,
wie in allen Reden wiederholt worden ist, sondern
Krieg. Das Ganze sei ein frecher Betrug. Die
plötzliche Liebe der Russen für die Franzosen sei
ebenso falsch wie der russische Haß gegen di-
Deutschen. Das russische Volk habe weder vor noch
nach den Touloner Festen besondere Liebe für die
Franzosen oder Erbitterung gegen die Deutschen ge-
fühlt. Graf Tolstoi warnt vor einer Wiederkehr
der Sachlage vor dem türkisch-russischen Kriege.
Plötzlich entdeckte man große russische Sympathieen
für die slavischen Brüder, von denen man seit
Jahrhunderten nichts mehr gehört. Männer wie
Aksakow und Katkow, die jetzt in Paris für Muster-
patrioten galten, fachten die künstliche Begeisterung
an. Die Presse log und erfand und schließlich war
Alexander II., obgleich er den Krieg verabscheute,
zum Kriege genöthigt; in derselben Weise werde
Alexander III. durch Machtumstände zum Kriege ge-
trieben werden. Daher legt Tolstoi Verwahrung
gegen die Ansicht der Journalisten ein, daß alle
Russen mit den Vorgängen in Kronstadt und Toulon
einverstanden seien. Millionen von Russen seien
entrüstet und angeekelt üb-r die verderblichen Lügen,
die über die Stimmung des russischen Volkes ver-
breitet würden.

Aus Wcch und Jern.
* Karlsruhe, 6. Juli. Ein Kaufmann aus
Mannheim, welcher am 2. d. M. hier einer Be-
erdigung anwohnte, übergab bei seiner Ankunft
die Reisetasche einem Wirth, bei dem er gut bekannt
ist, zur Aufbewahrung. In der Tasche befanden
sich Kleidungsstücke im Wertbe von 80 Mack und
20 Mark Geld. Nachdem der Kaufmann einige
Zeit aus der Wirthschaft fort war, kam ein junges
Frauenzimmer zu dem Wirth mit dem Vorgeben,
sie solle die Reißetasche des Onkels holen, "welche
ihr anstandslos verabfolgt wurde. Als der Mann-
heimer Herr die Tasche später selbst verlangte, stellte
sich heraus, daß der Wirth einem Betrug zum Opfer
gefallen war.
* Karlsruhe, 6. Juli. Der zweite dies-
jährige große Zucht- und Nutzviehmarkt mit Preis-
vertheilung fand am 4. d. M. im hiesigen Vieh-
hofe statt und war bei dem allgemeinen Mangel
an Vieh sehr schwach beschickt. Äufgetrieben waren
im Ganzen 95 Stück und zwar: 36 Zuchtfarren
davon verkauft 20 im Preis von 300 bis 600
Mark, 10 Zuchtkühe, 5 Zuchtkalbinnen, 9 Milch-
kühe, 6 Zuchtrinder, 3 Mastfarren im Preis von
400 bis 500 Mark, 9 Mastochscn, im Preis von
500 bis 650 Mark, 10 Mastkühe, 6 im Preis

KesüHn L.
Roman von H. von Gabain.
15) (Fortsetzung.)
Olga starrte wie geistesabwesend auf das ge-
dämpfte Licht einer Ampel und fand diesem Wort-
schwall gegenüber kein Wort der Entgegnung. Jbre
Hoffnung, die Mutter würde vielleicht auf ihre
Ee-te treten, sank immer mehr, denn sie hatte wäh-
rend der ganzen Unterredung ihre neutrale Stellung
nicht aufgegeben, nur zeitweise zürnend emporge-
blickt, oder durch bejahendes Kopfnicken angedeutet,
daß sie höre und sich mit allem einverstanden
erkläre.
„Aber nun ist's hohe Zeit, daß Sie zur Ruhe
kommen; Ausbleiben schadet der Schönheit und be-
einträchtigt den Glanz der Augen," rief Frau von
Hannipot nach kurzem Stillschweigen, indem sie sich
erbob. „Ich schreibe ein Briefchen,. wenn meine
Schneiderin Zeit hat, die Roben für unser ver-
zaubertes Prinzeßchen und was noch so nebenher
geht, unter meiner speziellen Leitung in Ordnung
zu bringen." Sie drückte auf einen silbernen Knopf,
der in die Gobelintapete eingelassen war und der
Diener erhielt den Befehl, den Wagen zu bestellen.
Mit eigener Hand packte die Präsidentin Olga in
einen warmen Pelz, ohne auf die schüchterne Vor-
stellung zu hören, daß die Witterung nicht so rauh
sei und ein einfacher Paletot genüge.
„Auf Wiedersehen, meine Damen!" nickte sie.
„Nun muß ich erst nach meinem lieben Alten
sehen, wie ihm die heutige Strapaze bekommen ist,"

seufzte sie mit wehmüthigem Augenanfschlag und
die Thür schloß sich geräuschlos ...
„Endlich allein!" bebte es von der Zurückge-
bliebenen Lippen. Wie ein Schrei aus gefoltertem
Herzen und wie von bösen Dämonen gesagt, durch-
eilte sie den tepp-chbelegten Raum.
„Standen des Herzogs anzügliche Worte unter
dem Spiel des Zufalls oder weiß er, daß ich die
Tochter — oh mein Gott, ich ersticke!" Stöhnend
schlug sie die Hände vor das Antlitz und sank wie
zerschlagen auf das goldgestickte Polster eines nie
drigen Sessels. Doch Plötzlich sanken die Hände in
den Schooß, der starre Blick belebte sich, gleichsam
als erwachten liebe Erinnerungen, und die braunen
Augen nahmen einen sammtweichen, milden Glanz
an. Was war es, daß diese harte Egoistin mit
einemmal so ganz beherrschte? Was war im Stande,
diesen trotzigen Charakter zu zähmen? Kinder-
erinnerungen, einfach und schlicht und doch so süß
und bestrickend zogen vor ihrem Geist vorüber.
Jbr war so seltsam weich zu Muthe, so friedlich
zog's in ihre Seele, als hebe ein Enge! den dunklen
Vorhang und lasse ihrs heißen Augen auf ein Bild
dec Vergangenheit schauen.
Tief im Erzgebirge, im stillen Thals, weitab
von Dorf und Stadt, stand ein einsames, moosbe-
wachsenes Häuschen, umgeben von grüner Wiese,
und wenn er Frühling kam und dis Erde zu
neuem Leben erwachte, wenn das saftige taufrische
Gras den Boden bedeckte und bunte Blumen all-
überall sprießten, dann sang und sprang die
dunkeläugige Klara und führt- di- Ziege aus dem
dumpfen Stall in's Freie. Dann lief sie in den
Wald, um rothwangige Beeren zu sammeln, oder

sie saß vor der Thür an der Näharbeit und zog
die Nadel durch den dicken Leinenstoff, während
die Mutter das Essen besorgte und das Beste da-
von dem Vater in den Wald trug. Da zog eines
Tages der erste Schmerz in dieses kindlich glück-
liche Gemüth; die bisher lachenden Augen blickten
unter Tränen auf das todesbleiche Antlitz des Er-
nährers, der beim Fällen eines Baumes erschlagen
wurde. Allein von langer Dauer war die Trauer
um den Vater nicht, denn dem Trunk ergeben,
batten die beiden Frauen oftmals unter seiner rohen
Behandlung zu leiden gehabt.
Die sinnend in der Vergangenheit Suchende
strich seufzend mit der Hand über die Augen und
die Gedankenfäden spannen sich weiter und weiter.
Wieder vergegenwärtigte sie sich das ärmliche,
aber doch so traute Heim unter Blumen und
Waldesrauschen und ein glückseliges Lächeln huschte
über die festgeschlossenen Lippen. O, sie vergegen-
wärtigte sich so klar den Anblick, als die Mutter
eines Knäblein genaß und das zappelnde, schreiende
Brüderchen auf ihren Armen lag. O, wie herz-
lich sie es an sich gedrückt hatte, wie sie die Mutter
gepflegt und die kleine Wirthschaft innen wi: außen
besorgt hatte. Des Vaters Tod trat hinter diesem
von Gott geschenkten Buben weit zurück. Klara
lachte wieder wie ehedem, melodisch klang ihre
Stimme, wenn sie das liebe Brüderchen in den
Schlaf sang oder mit ihm auf der Wiese saß.
Allein auch diese Freude sollte nicht von langer
Dauer sein. Ein selten gesehner Gast, der Post-
bote, brachte eines Morgens einen Brief für Frau
Schulz. Aengstlich, das Herz voll banger Ahnungen,
blickte Klara über die Schultern der Lesenden.

Obenan auf dem gelblichen Briefbogen prangte eine
Grasenkrone, darunter in Gold gepreßte Buchstaben.
„Mutter", schrie das Mädchen leidenschaftlich
auf, als es den Inhalt entziffert, „geh' nicht fort,
Du darfst Dein Kind nicht im Stich lassen,
um dem fremden Grasenkind als Amme zu dienen !"
Weinend warf sich Klara in das hohe Gras,
als Frau Schulz, allen Bitten und Thronen ent-
gegen, sich dennoch entschloß, der Aufforderung des
Reichsgrafen Ulestein nachzukommen. Drei Tags
danach trat Frau Schulz die weite Reise an, um
die übernommene Pflicht zu erfüllen. Klaras ganzes
Glück war nun das liebe Brüderchen, das auf
ihre Fürsorge angewiesen war. Sie reichte ihm
Ziegenmilch und begte und pflegte den kleinen
Fritz. Mit lächelnder Miene schäkerte sie mit ihm
und lullte ihn in den Schlaf. Genug, das fünf-
zehnjährige Kind gebeerdete sich wie sorgliches
Mütterchen, das seine Seele mit leidenschaftlicher
Zärtlichkeit an diesem „Einen" hängt.
Sechs Wochen waren vergangen. Der Sommer
stand in vollster Blüthe, da erhielt Klara einen
Brief. Unsauber war der Fetzen Papier, den sie
in der Hand ^hielt: schlecht und unleserlich die
Schrift.. Der Inhalt in buntem, unlogischem Durch-
einander hingeworfen. Klara tanzten die Buchstaben
vor den Augen, denn die Mutter forderte sie auf, mit
dem Buben zu ihr zu kommen. Aus jeder Zeile sprach
bange Angst und Verzweiflung, die Tochter könne
ihr Verlangen wohl «m Ende abschlagen. „Ich
sterbe vor Sehnsucht, mein Kind zu sehen," so
schrieb st-, „Nur zwei Tage miethe Dich unter
einem fremden Namen im Dorfe, am Fuß-
des Schjosses Ulestein ein, denn Niemand darf
 
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