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Neuer Heidelberger Anzeiger (27) — 1900

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Nr. 261 - Nr. 270 (8. November - 19. November)
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Nr. S61._27. Jahrgang.

Neuev

» Donnrrstag, 8. Novrmbrr ISÜO.

AMMerger Anzeiger.


Deutsches Reich.
Heidelberg, 7. Nov.
(Uebcr die Expedition einer internationalen
Truppe) nach der Stadt Tuliu, südlich von Tientsin
berichtet ein Korrespondent des römischen Blattes „Messa-
gers", .Herr Baselli, in einem vom 15. Septcmptcr
datierten Briefe folgendes: Als die Truppen am 10.
September vor der Stadt eintrafen, bemerkte man kein
Lebenszeichen in derselben : die Einwohner waren entweder
geflohen oder hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert.
Nicht ein Schuß wurde seitens der Chinesen abgegeben,
allein trotzdem begann sofort die Plünderung durch die
fremden Truppen. Die Thürcn wurden eingeschlagen und
die Soldaten drangen in die Häuser ein, wo sic die Möbel
zerbrachen und alles durchsuchten. Die Plündcrungswut
stieg noch, nachdem die Soldaten sich an dem in den
Buden gefundenen Rcisbranntwein berauscht hatten. Hun-
derte von Haustieren wurden getötet, wobei die eingeborene
Canaille" eifrig mithalf. Die indisch en Truppen der Eng-
länder zeichneten sich besonders bei der Plünderung aus. Der
'tabienische Korrespondent erzählt, daß er sich in einer Moschee
Auhamedanischer Chinesen einquarticrt habe, hauptächlich um
einige 30 dorthin geflüchtete Frauen vor den Brutalitäten
der Soldaten zu schützen und dabei wäre er selbst bei-
nahe seines photographischen Apparates durch einen Inder
beraubt worden, wenn cs ihm nicht gelungen wäre, diesen
Nrit vorgehaltener Pistole zur Rückgabe des Apparates zu
zwingen. Am anderen Morgen, 11. September, begann
dir Plünderung aufs neue und am Abend dieses Tages
war Tuliu, das eine blühende Stadt mit 40000 Ein-
wohnern gewesen war, nichts als ein Trümmerhaufen.
Tie wenigen Einwohner, welche zurückgeblieben waren,
Um ihr Eigentum zu schützen, wurden von den internario-
Ualen Truppen in brutaler Weise verjagt und am Morgen
des 12. September gingen die Truppen nach Tientsin
zurück, wobei die Beute auf zahlreichen Dschunken auf
dem Kaiser-Kanal mitgcführt wurde.
Berlin, 7. Nov. Heute Vormittag fand im Lust-
Zarten in Gegenwart des Kaisers die Vereidigung der
Nekruten der Garnison Berlin, Spandau, Charlvttenburg
uud Großlichterfelde statt. Die Mannschaften waren in
eisem großen Viereck ausgestellt. Neben dem Feldaltar
stand die Geistlichkeit. Anwesend waren die Prinzen des
königlichen Hauses, die Generalität und Admiralität, sowie
die fremdherrlichen Offiziere. Um 10 Uhr erschien der
Erster zu Pferde mit dem Feldmarschallstabe und ritt die
Mont ab. Die Vereidigung erfolgte brigadcweise jedes-

mal vor dem Kaiser, der dann in die Mille des Vierecks
ritt und eine Ansprache hielt. Der kommandierende General
des Gardckorps brachte ein Hurrah auf den Kaiser aus.
Die Musik spielte die Nationalhymne. Der Kaiser nahm
dann den Parademarsch über die Fahncnkompagniccn ab
und kehrte sodann ins Schloß zurück.

Zum Fall Sternberg.
Die Zustände in der Berliner Kriminal-
Polizei werden durch einen soeben schwebenden Sensations-
prozeß grell beleuchtet, welcher aus eine tiesgehende Korruption
in der dortigen Polizeiverwaltung schließen läßt.
Der Bankier Sternberg in Berlin war vom dortigen
Landgericht wegen Unsittlichkeitcn, die er sich gegen.Kinder
unter 14 Jahren hatte zuschulden kommen lassen, verurteilt
worden. Auf Revision des Angeklagten hat das Reichs-
gericht dieses Urteil aufgehoben. Die gegenwärtige zweite
Verhandlung vor dem Landgericht bietet nun Ucberraschungcn
sensationellster Art. Darauf, daß eine der Zeuginnen, die
13jährige Frieda Woyda, jetzt alles für erlogen erklärt,
was sic früher Belastendes gegen den Angeklagten ausgcsagt
hat, mag noch weniger Gewicht gelegt werden, als darauf,
daß ein Schutzmann, Namens Stierftädter auftritt,
der unter seinem Eid aussagt, daß ein vorgesetzter Beamter, ,
der Kriminalkommissar Thiel, ihn wiederholt habe ver-
anlassen wollen, den Fall Sternberg in einem für den An-
geklagten günstigen Sinne zu betreiben, da ihm, dem Schutz-
mann, davon Vorteil in Fülle zuteil werden würde. So-
gar einen der Anwälte, den weithin als gesuchter Rechts-
anwalt bekannten Justizrat Dr. Scllo beschuldigt er in
gleicher Weise. Dem Kriminalkommissar gegenüber hält
er seine unter Eid abgegebenen Behauptungen aufrecht, die
dieser als Entstellungen und Mißverständnisse zu erklären
sucht. Episodisch pikant wirken die weiteren auf denselben
Schutzmann zurückzuführenden Enthüllungen, daß der Polizei-
direktor v. Meerschei dt - H üllesscm einmal ein
hypothekarisches Darlehen beim Bankier Sternberg ausge-
nommen und, wie Sternberg bestätigt, da der Polizeidircktor
bei ihm als Bekannter des Hauses aus- und einging, auch
sonst gelegentlich Darlehensgefälligkeiten empfangen habe.
Es verlautet, daß, abgesehen von den strafrechtlichen
Folgen, die diese Angelegenheit nach sich ziehen wird,
gegen beide Beamte bereits ein Disziplinarverfahren an-
hängig gemacht worden ist.
Berlin, 6. Nov. Das „Kleine Journal" will wissen,
die ältesten Berlin er Kriminalunterbeamten hätten
in der Nacht auf Montag eine Besprechung über den Fall
Stierst aedter gehabt, dem sie ausnahmslos die größte

Hochachtung cntgcgenbrachten. Sie hätten sich durch
Handschlag verpflichtet, im Falle einer Maßregelung
Sticrstacdters in ihrer Gesamtheit sofort um ihre Ent-
lassung aus dem Polizeidienst einzukommen.
Berlin, 7. Nov. Die „Berliner Corr." meldet: Nach
dem Ergebnis der gestrigen gerichtlichen Vernehmung des
Polizeidircktors v. Meerschei dt-Hülle sein im Stern?
berg-Prozeß wurde ihm sogleich die weitere Ausübung
dienstlicher Funktionen untersagt.
England.
London, 7. Nov. Nach einem Telegramm des „Globe"
aus Hongkong vom 4. d. M. ist die Lage auf den Phi-
lippinen andauernd unbefriedigend infolge des Scheiterns
der Taft'schcn Commission bei ihrem Versuch, friedliche
Beziehungen zu den leitenden eingeborenen Persönlichkeiten
herzustcllen. Die Bevölkerung empfindet das .Kriegsrecht
bitter. Wegen der beharrlichen Weigerung der Einge-
borenen, den Treueid zu leisten, sind kürzlich mehrere Städte
niedergebrannt worden. Die Eingeborenen sind fest ent-
schlossen den Kampf gegen die Amerikaner fortzusetzen, wie
lange er auch währen möge. Die Gewalt der Amerikaner
reicht nicht weiter als ihre Geschütze. Die gegenwärtigen
Verhältnisse sind der geschäftlichen Entwickelung nicht för-
derlich, und die Aussichten sind düster, denn sorgfältige
Erkundigungen ergeben, daß die Erklärungen des ameri-
kanischen Kriegsministers Root, wonach die Verhandlungen
in Manila mit der Herstellung des Friedens im Dezem-
ber enden sollen, keineswegs den Thatsachen entsprechen.
Amerika.
New-Nork, 7. Nov. Es ist nunmehr feftgestellt, daß
die Mehrheit der Stimmen auf Mc. Kinley gefallen
ist. Derselbe hat bereits den Sieg davongetragen. Nach
8 Uhr gestern Abend eingegangene Berichte lassen erkennen,
daß Mc. Kinley sämtliche Staaten wiedergewonnen, die er
im Jahre 1896 besessen hatte. Die Zahl der Volks-
stimmen ist sogar größer geworden.
New-Hork, 7. Nov. Es wird gemeldet, daß Mac
Kinley mit Mehrheit zum Präsidenten der Republik
wiedergewählt ist.
New-Hork, 7. Nov. Nach den letzten Nachrichten
siegte Mac Kinley in 21, Bryan in den übrigen 16
Staaten. Mac Kinleys Mehrheit im Staate New-Aork
beträgt 135 296. Der bei Mac Kinley sich befindende
Minister Day teilt mit, Mac Kinley sei in 27 Staaten
mit 284 Electoralstimmen durchgedrungen. Mac Kinley

Noch ein neues Luftschiff.
Aus Paris, 25. Oktober, schreibt umn der „Deutschen
Aarte" : Tas Zeppelin'sche Luftschiff hat einen Rivalen
^kommen. Ein Herr Rozc, der schon fünfzehn Jahre
Aig die Gesetze der Luftschifffahrt studiert, hat einen
Niesenballon gebaut, der alle Bedingungen der Fortbewe-
gung in freier Luft zu erfüllen scheint. Das Luftschiff
E dicht bei der Brücke von Argenteuil unter Dach und
Fach gebracht und macht von Weitem ganz den Eindruck
Ae eines der Gebäude auf dem Ausstellungsplatze. Die
Erfindungen, die der Erbauer des Luftschiffes, Roze, ge-
macht hat, sind nur wenig bekannt; jetzt, wo auch dieser
"hnc Mitarbeiter an dem Problem der Luftschifffahrt dem
wächst leinen Aufstieg unternehmen wird, hat ihn ein Jour
^alist aufgesucht und berichtet über seine Eindrücke in einer
Astgen Zeitung. Zwei cigarrcnähnliche Körper auf beiden
Seiten von je 1500 Kubikmeter Rauminhalt dienen als
Aöger für das Schiff in der Mitte. Diese Träger sind
An und ringsum mit Aluminiumstrcifen befestigt, um
Aen mehr Halt zu geben. Kreuzbänder aus Aluminium
'Men als Bindeglieder der Träger und dem Schiff in
Zr Mitte als Stütze.
, Der Erfinder Rozc führte seinen Gast aufwärts in
As geräumigen Festungssaal des Luftschiffes. Beim Bc-
Aten des Salons mahnte Roze seinen Besucher, seinen
in Acht zu nehmen, denn der Raum hat eine niedrige
Aekc. Er ist noch nicht fertig gebaut, es fehlen noch die
Ailwändc. Die Fensterrahmen sind jedoch schon sämtlich
^gebracht, ganz wie in einer Schiffskajüte.

Hier hatte man Zeit, die beiden großen gelben ».Ha-
vannas" zu beiden Seiten mit Muße zu betrachten und
den großartigen Bau zu bewundern. Gefirnißte Segel-
tücher umgeben das Mctallgerüst als äußere Hülle und
lassen einen frischen Luftzug rings um die seidenen, mit
Wasserstoff gefüllten Ballons im Innern kreisen. Die
beiden enthalten jeder sechs getrennte Abteilungen, die mit
einander in Verbindung gesetzt werden können.
Die Schiffsschrauben sind von der gewöhnlichen Art,
und die Huuptachse, welche die beiden Schrauben mitein-
ander verbindet, wird von einem Gasolin-Motor von 20
Pferdekräften getrieben. Daneben befinden sich zwei Paare
fächerartiger Flügel, welche die Geschwindigkeit beschleu-
nigen sollen, die nach des Erfinders Berechnung 50 Kilo-
meter in der Stunde erreichen wird.
Der Auf- und Abstieg soll nicht durch das Ausströmeu
von Gas oder Auswcrfen von Ballast bewirkt, sondern
durch die Schiffsschrauben regulirt werden; ungünstige
Luftströmungen kann man also nach Belieben wechseln und
andere Zonen in größeren Aetherhöhen oder der Erde
näher aufsuchen. Der Kapitän hat in dem Luftschiff einen
Raum für sich mit großen, wcitgeöffnctcn Gucklöchern,
während der wachthabende Offizier sich vermutlich auf dem
Sturmdeck aufhaltcn wird. Auf dem oberen oder Sturm-
deck des Luftschiffes fühlt man sich weit über die Erde
und ihren gesamten Kleinkram erhaben.
Wenn in Zukunft Luftschifffahrten Mode werden, wie
jetzt Eisenbahn- oder Dampferfahrten, dann könnte man
auf einem solchen Luftschiff mit Leichtigkeit und mit weit
größerer Geschwindigkeit als der eines Schnellzuges selbst

über solche eisige und für den Schicnenbau unzugängliche
Höhen wie das Dach der Welt" Hinwegfliegen und würde
von dem Promenadendeck aus zu erraten suchen, ob die
Lichter der Stadt, die da unten sichtbar werden, Wien
oder Budapest oder einer anderen Stadt angchören. So
könnte man in dem Gefühl vollkommener Sicherheit diese
und ähnliche Unterhaltungen an Bord des Luftschiffes fort-
setzen, bis der Steward in der unheimlichen Stille die
seine Silberglocke ertönen läßt, und die Fahrgäste sich
von dem Promenadendeck zerstreut und in den Gang hinab-
eilen, um sich zu den Mahlzeiten zu versammeln.
Der Besitzer des Luftschiffes erklärte seinem Inter-
viewer, daß sein Schiff 8 Personen aufnehmen könne; er
werde auf seinen Versuchsfahrten indes nnr 3 Begleiter
mitnehmen. Plötzlich fuhr der Journalist aus der Träu-
merei, in die ihn das Wunder der Wissenschaft, das ihn
trug, versenkt hatte. Ein merkwürdig geformtes Ding über
ihm erregte seine Neugierde, und auf eine diesbezügliche
Frage sagte ihm Herr Roze, das sei ein Fallschirm. „Ein
großer Fallschirm, wenn ein Unfall passiert, oder um die-
jenigen an Land zu setzen, die seekrank werden." Dann
folgte noch eine technische Erklärung, wie das Gleichgewicht
zwischen den beiden Ballons behauptet wird, eine schwic
rige, aber mit Hilfe der Wissenschaft doch lösliche Auf-
gabe. Jeder der beiden spitzen Ballons ist 45 Meter lang
bei einer Höhe von 16,5 Meter; das Schiff in der Mitte
hat eine Länge von 10 bei einer Breite von 4 Meter.
Der .Erfinder ist fest davon überzeugt, daß seine Ballon-
fahrt ein großer Erfolg sein wird.
 
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