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Heidelberger Zeitung — 1900 (Januar bis Juni)

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Nr. 127-149 (1. Juni 1900 - 30. Juni 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.37613#0661

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Fernsprech-Anschluß Nr. 82

Xr. 139.

Montag, Len 18. Znni

1900

O

Die Kaiserrede in Lübeck.
Lübeck, 16. Juni. Der Kaiser traf bei herrlichstem
Wetter halb 5 Uhr hier ein. Der Kaiser fuhr mit dem
Bürgermeister im Zweispänner zu dem Dampfer „Lubeca",
der sich alsbald nach dem Kanalhafen in Bewegung setzte.
Nach dem Eintreffen und der Begrüßung des Kaisers be-
gann die feierliche Kanaleröffnung. Am Kanal-
hafen gewährte der Festplatz, in dessen Mitte sich der
Kaiserpavillon erhob, mit seinem reichen Blumen- und
Flaggenschmuck ein festliches Bild. Auf dem Wasser sah
man zahlreiche Schiffe mit Festwimpeln. Die kurze Strecke
vom Anlegeplatz bis zum Kaiserpavillon legte der Kaiser
zu Wagen zurück. Der Kaiser schritt die Front der
Ehrenkompagnie ab. Sodann betrat er den Pavillon.
Jetzt stimmte ein Chor von 400 Personen die von Pro-
fessor Stiehl komponirte Festkantate an. Der präsidirende
Bürgermeister Klug nahm das Wort und dankte dem
Kaiser für sein Erscheinen. Er betonte die Bedeutung
der neuen Verbindung der Elbe mit der Ostsee und die
Nothwendigkeit, bei einem blühenden Wirthschaftsleben des
Vaterlandes neben den Schienenwegen Wasserwege zu
schaffen. Die alte Hauptstadt der Hansa sei dazu berufen,
dem neuen Verkehrsweg als Stützpunkt zu dienen. Redner
schloß mit einem Hoch auf den Kaiser. Alsbald wurde die
Nationalhymne angestimmt und drei Strophen von den
Anwesenden gesungen.
Der Kaiser, der dem präfidirenden Bürgermeister
Dr. Klug die Hand gereicht hatte, trat nun vor und hielt
folgende Rede:
Ich spreche der Stadt Lübeck von ganzem Herzen
meinen Glückwunsch zu dem heutigen Tage aus. Voran
schicke ich meinen herzlichen Dank für den wundervollen
Empfang, den Sie mir bereitet haben. Ich habe aus der
Haltung und den Mienen der Lübecker gelesen, wie freudig
bewert ihre Herzen heute sind. Denn sie wissen, daß auch
ich regen Antheil nehme an dem, was ihre Gcmüther be-
wegt. Möge der Kanal, den Sie mit unverwüstlicher
hanseatischer Thatkraft in Angriff genommen haben, in
jeder Beziehung Ihren Erwartungen entsprechen. Ich hege
die Ucberzeugung, das wird er thun! Sie sehen an dem
fertig gestellten Werke, was es für eine Bedeutung hat,
daß ein einiges deutsches Reich besteht. Was Lübeck war,
verdankt es den deutschen Kaisern, und was Lübeck jetzt ist,
verdankt es dem deutschen Reiche. So möge sich
überall in unserem Reiche und Volke immer
mehr Bahn brechen, daß durch das Wieder-
erstehen und Erstarken des deutschen Reiches
seine alten Aufgaben von neuem an uns
herantreten, die durch die Uneinigkeit unserer
Vorfahren leider verloren gingen und nicht
gelöst werden konnten. Zuversichtlich hoffe ich, daß
unter meinem Schutze Lübeck sich weiter entwickeln wird.
Ich würde diese Hoffnung nicht aus der Freudigkeit aus-
sprechen können, wenn ich nicht jetzt vor Ihnen stünde,
freudig gehoben dadurch, daß wir die Aussicht haben,
einmal eine deutsche Flotte zu bekommen. (Leb.
Haftes Bravo.) Für eine Seestadt kann ein Kaiser nur
dann den Schutz übernehmen, wenn er ihre Flagge, sei es
die lübeckische, sei es die hamburgische, sei es die bremische,
sei es die preußische, bis in die entferntesten
Fernen der Welt durch eine Reihe von Kano-
nen schützen kann. (Erneutes Bravo.) Möge es uns
denn vergönnt sein, durch den Ausbau unserer Flotte nach
außen den Frieden mit erhalten zu können, und möge es
uns gelingen, durch den Ausbau unserer Kanäle
im Inneren die Erleichterung des Verkehrs
zu erreichen, deren wir bedürfen! Der Segen wird

Die Irre von Sankt Rochus.
Kriminalroman von Gustav Höcker.
18) (Fortsetzung.)
Ick komme unter dieser Maske," sagte Allram mit ge-
dämpfter Stimme, „um dem Teufel das Spiel zu verderben,
falls mich vier zufällig remand kennen sollte. Es wurde
Mißtrauen erregen, wenn man Sie mit einem Detektiv ver-
kebren iäbe Ick bin also Doktor Hauser, bin ein Irrenarzt
aus irgend einer weit entlegenen Anstalt, die Sie selbst
wählen mögen. Als Fachmann darf ick mich unter ihrer
Führung hier fre. bewegen und sogar einige WoAe mit
Constanze Herbronn sprechen falls ^esnohugwerden
sollte. Damit es aber nicht ausfällt, wenn ich noch ein-
mal kommen müßte, so, werden S.e Ihren Herren
Kollegen sagen, ich sei auf einer größeren Reffe begriffen und
hätte versprocten, Sie auf der Rückfahrt noch einmal zu be-
suchen" . cn ,
„Jch verstehe vollkommen," nickte der junge Arzt. „So
darf ich also wohl annehmen, daß —"
„Daß ich mich ganz in Ihre Dienste gestellt habe?
Ja. das dürfen Sie. Die Mission verspricht interessant
zu werden, wenn ich auch für einen Erfolg nicht bürgen
Mit klopfendem Herzen erwartete Doktor Gerth die Er-
öffnungen des Detektivs.
„Die leisen Spuren, die ich entdeckt habe, deuten zunächst
auf ein Vorkommniß, welches um fünf Jahre zuruckliegt.
begann Allram. „Sie erinnern sich gewiß meiner Mitlheilung,
daß ich einen Dieb ermittelte, der Professor Georgis Alter-
thumssammlung bestohlen hatte. Es handelte sich um eine
Bibel und zwar um eine sehr selten gewordene lateinische
Ausgabe von 1532, die bei Robertus Stephanus in Paris
üedruckt worden ist. So steht es in meinem Tagebuche,

bei unseren Wasserstraßen niemals aus-
bleib en! (Lebhaftes Bravo und Hochrufen.)
Der Kaiser unterhielt sich hierauf noch eine Zeit lang
mit den Würdenträgern und fuhr sodann sofort zum
Bahnhofe durch das alte Burgthor.

Ein Boxer über die Fremden.
„Hören wir auch den andern Theil", dachte der Daily
Expreß und ließ sich von einem in London lebenden Chi-
nesen, angeblich einem Mitgliede der Bruderschaft der
Boxer, die Art und Weise, wie man in China uns Euro-
päer und unsere Kultur beurtheilt, folgendermaßen schildern:
Die westliche Civilisation, so sagte der Chinese, ist in
unfern Augen wie ein Pilz, wie ein Ding von gestern.
Die chinesische Civilisation dagegen ist ungezählte Jahr-
tausende alt; wir glauben daher, daß wir euch um min-
destens 2000 Jahre voraus sind. Und nun kommt ihr
aus eurer westlichen Welt zu uns mit dem, was ihr eure
neuen Ideen nennt. Ihr bringt uns eure Religion — ein
Kind von neunzehnhundert Jahren; ihr fordert uns auf,
Eisenbahnen zu bauen, damit wir von einem Ort zum
andern fliegen können mit einer Eile, die uns weder Be-
dürfniß ist noch Reiz für uns hat. Ihr wollt Fabriken
bauen und dadurch unsere schönen Künste und Gewerbe
verdrängen, ihr wollt blendenden Flitter verfertigen, statt
der schönen Gebilde und Farben, die wir durch Jahr-
hunderte erprobt haben. Gegen alles das erheben wir
Einspruch. Wir wollen allein gelassen werden, wir wollen
die Freiheit haben, unser schönes Land und die Früchte
unserer alten Erfahrung zu genießen. Wenn wir euch
bitten, wegzugehen, so weigert ihr euch und ihr bedroht
uns sogar, wenn wir euch nicht unsere Häfen, unser Land,
unsere Städte geben. Daher sind wir Mitglieder der Ge-
sellschaft der sogenannten Boxer nach reiflicher Ueberlegung
zu der Erkenntniß gekommen, daß die einzige Möglichkeit,
euch los zu werden, darin liegt, daß wir euch tödten.
Wenn wir eure Eisenbahnen und Maschinen haben wollten,
so könnten wir sie ja kaufen; aber wir wollen sie nicht,
sie sind uns nichts nutz, wir haben gelernt, ohne sie fertig
zu werden. Trotzdem sagt ihr, ihr würdet uns zwingen,
sic zu kaufen, ob wir wollen oder nicht. Ist das gerecht?
Ich sage, cs ist «ne Anmaßung, eine Beschimpfung. Lassen
Sie mich wiederholen, daß alle die Dinge, die im Westen
die Menschen trennen, in China thatsächlich keinen Da-
seinsgrund haben. Politik, Religion, persönlichen Ehrgeiz,
Ausdehnungsdrang, Landhunger, Goldhunger — Alles das
gibt es in China nicht. Ihr meint, der Chinese sei ein
Kind, weil er träge, sorglos und einfach ist. Das ist ein
großer Jrrthum. Er hat das Geheimniß gelernt, glücklich
zu sein, sein Leben ist ruhig und nichts stört ihn, solange
sein Gewissen rein ist. In ein Sprichwort zusammengefaßt
ist das Bild unseres Charakters: Laßt uns in Ruhe und
wir lassen euch in Ruhe. —
Sollte der Boxer, der das angeblich gesagt hat, auch
ständig in der Redaktion des Daily Expreß arbeiten, so ist
es darum doch nicht übel gesagt. Die Gesinnungen, wo-
mit der Durchschnittschinese den fremden Eindringling be-
trachtet, mögen ganz gut wiedergegeben sein. Helfen wird
das den Chinesen freilich nicht viel. Ein Volk von 400
Millionen kann auf dieser Erde, die täglich enger wird,
nicht mehr ein idyllisches Stillleben führen.

Deutsches Reich.
Homburg v. d. H., 16. Juni. Der Kaiser hat
zum Saalburgbau 1000 Mark aus seiner Privatschatulle
gespendet. Der Kronprinz reist heute Abend ab. Heute

welches ich über alle meine Geschäfte bis auf die gering-
fügigsten Nebenumstände führe. Ich habe in diesem Tage-
buche schon manchen wichtigen Rückolick gethan über Personen
und Dinge, mit denen ich abgeschlossen zu haben glaubte und
die dennoch bei späteren Ereignissen, welche durch meine
Hand liesen, bedeutungsvoll wurden. Bewundern Sie also
nickt mein Gedächtniß, wenn ich auf dieses oder jenes Detail
werde zu sprechen kommen, auf Zahlen und Daten sogar, —
sie stehen olle in meinem Tagebuche, welches ich befragt
habe. . . . Der Zufall wollte es, daß Professor Georgi
das kostbare Buch sogleich vermißte. Am Abend vorher hatte
er es noch neben anderen alterthümlichen Büchern, von
denen er eins gerade gebraucht, stehen sehen; am Morgen
war es verschwunden. Da der Portier Punkt acht Uhr das
Haus schloß und gerade an jenem Abende niemand ein- und
ausgelassen hatte, so mußte man es mit einem Hausdiebe zu
thun haben. Um nicht erst die Polizei in die Sache hinein-
zuziehen, wandte sich der Professor an mich. Der Schuldige
batte alle Vorkehrungen getroffen, den Verdacht dem Dienst-
mädchen aufzuhalsen. Ich ließ mich jedoch nicht durch den
Schein täuschen. Professor Georgi hatte kurz vorher mit
einem Berliner Antiquar über den Verkehr der Bibel korre-
spoadirt, die Unterhandlungen jedoch wieder abgebrochen.
Sein Neffe wohnte bei ihm. Ich kannte den jungen Mann
nicht, den ich auch während dieser Tage nie im Hause antraf,
— wahrscheinlich wich er mir aus; aber ich hatte gehört,
daß er ein leichtsinniger Schuldenmacher und ein großer
Freund von Spiel- und Champagnergelagen sei. Im Arbeits-
zimmer seines Onkels hatte er vielleicht den einen oder
anderen Brief des Berliner Antiquars offen liegen sehen,
einen Blick hineingeworfen und daraus den hohen Geldwerth
der Bibel ersehen. Wer weiß, aus welcher Verlegenheit er
sich helfen konnte, wenn er das vom Onkel abgelehnte Ge-
schäft mir dem Antiquar selbst machte. Eine Durchsuchung
seines Zimmers wollte der Professor durchaus nicht zugeben ;
eines solchen Spitzbubenstreiches dielt er seinen Neffen für
unfähig. Erst als ich ihm vorstellte, es handle sich hier nur
um eine Formalität, willigte er ein. Im Papierkorbe des

früh traf die Herzogin von Schleswig-Holstein-Sonderburg-
Glücksburg hier ein. Die Kaiserin bleibt bis zur Rück-
kehr des Kaisers von der Nordlandfahrt hier. Im August
wird in Gegenwart des kaiserlichen Paares mit großer
Feierlichkeit der Grundstein zum Reichslimes-Museum auf
der Saalburg gelegt werden.
Baden. L.O.Karlsruhe, 15. Juni. Das vom nat.-lib.
Verein zu Ehren der nat.-lib. Landtagsfraktion im
Colosseumssaal veranstaltete Bankett nahm einen harmo-
nischen Verlauf. Der Vorsitzende des Vereins, Prof. Dr.
Gold sch mit, begrüßte die Erschienenen und dankte der
nat.-lib. Fraktion, daß sie der Einladung Folge leistete
und brachte ein Hoch auf sie aus. Landgerichlspräsident
Dr. Fieser dankte namens der Fraktion für den freund-
lichen Empfang. Er sei ganz mit Goldschmit einver-
standen, der überzeugend und lebhaft die Nothwendigkeit
der nat.-lib. Partei dargethan habe. Man müßte keinen
Sinn und kein Herz fürs Vaterland haben, wenn man
nicht sieht, wie die Dinge liegen. Wir sehen auf der einen
Seite die Ultramontanen, die das Reich vsn Anfang an
ins Unglück zu stürzen suchten, die — von Ausnahmen
abgesehen — die gleichen sind, wie jene im Mittelalter,
die schon einmal ein deutsches Reich zu Fall brachten.
Das Ziel dieser Partei ist die Knechtung des freien
Menschen unter priesterlicher Willkür (Bravo!) Auf der
andern Seite stehen einig unt» geschlossen die Arbeiter, die
politisch radikal sind bis zur letzten Konsequenz und
von der Monarchie nichts wissen wollen. Diese Parteien
haben heute im Reiche die Majorität. Sieht die Bürger-
schaft ihrem Treiben gleichgiltig zu, dann wird zunächst
das Zentrum mit seiner Handelspolitik das Ziel erreichen.
Daher gilt es, energisch die Prinzipien der Partei zu
wahren und die Fahne echt bürgerlicher Freiheit hochzu-
hallen, die jedem sein Recht gewährt. Wenn wir ent-
schlossen Vorgehen, haben wir weder von der rothen noch
von der schwarzen Seite etwas zu fürchten. Wir hoffen,
daß wir an Zahl nicht weiter zuruckgehen, uno wir sind
insbesondere fest überzeugt, daß in der Brust der Karls-
ruher ein tiefes Gefühl der Beschämung Platz gegriffen
hat, weil sie nicht mehr nationalliberal vertreten sind. In
der Hoffnung, daß wir das yächste Mal in Karlsruhe
siege», laßt uns die Gläser erheben und anstoßen mit dem
Rufe: Hoch Karlsruhe! (Lebhafter Beifall.) Rechtsanwalt
Dr. Binz toastete auf Fieser und die jungen Abge-
ordneten und sprach insbesondere dem Abg. Rohrhurst seine
Anerkennung und Freude über dessen Auftreten im Land-
tag aus. Im weiteren Verlauf des Banketts wechselten
Toaste mit Solovorträgen sangeskundiger Vereinsmitglieder
und Musikstücken der 50. Artilleriekapelle.
L.O. Karlsruhe, 15. Juni. Die Centrums-
fraktion hat soeben der Zweiten Kammer einen funkel-
nagelneuen Plan einer Wahlkreiseinthcilung unter-
breitet. Den Anlaß dazu gab, wie es in einer „Vor-
bemerkung", die unschwer auf den Urheber des Plans
schließen läßt, heißt, daß Seitens der nat.-liberalen Partei
nach vorausgegangenem „Benehmen mit der Großh. Re-
gierung" ein solcher in der Kommisstonssitzung vom 31. Mai
vorgelegt wurde. Wie der nat.-lib. Vorschlag wolle auch
dieser die sogen. „Städteprivilegien" fortbestehen lassen.
Während aber in jenem für Freiburg 3, für Karlsruhe
und Mannheim 5 Abgeordnete vorgesehen sind, will dieser
nur in Mannheim eine Vermehrung der Mandate herbei-
führen: statt der bisherigen 3 sollen eS in Zukunft 4 sein;
während jener die Städte, die mehr als einen Abgeord-
neten zu wählen haben, in ebenso viele räumlich ab-
geqrenzte Wahlbezirke tbeilen will, hält dieser an dem bis-

Herrn fand ich einen Brief, eigentlich einen Wisch, den nur
der Stempel der Stadtpost zum Range eines Brieses erhob.
Die Adresse lautete an Herrn Alfred Wippach — so hieß
nämlich Professor Georgis Neffe. Das Dalum war vom
vorhergehenden Tage. Der Brief hatte natürlich auch einen
Inhalt- Dieser deutete auf ein militärisches Unternehmen
hin, welches für die folgende Nacht in Aussicht gestellt war.
Im Briefe standen nämlich die wenigen Worte: „Die 3.
Kompagnie des 56sten Regiments tritt heute Abend elf Uhr
zur Nachtübung an." Natürlich nahm ich die Sache nicht
von der militärischen Seite, sondern ich dachte sogleich an
die kostbare Bibel. Da diese sich nirgends fand, und da
nach der Versicherung des Portiers zur Nachtzeit auch
niemand im Hause ein- oder ausgegangen war, so mußte sie
dieses auf einem anderen Wege verlassen haben. Bei einer
Nachforschung im Hose, wo Leitern zur Auswahl umherlagen,
fand ich gerade unter dem Korridorfenster in dem weichen
sandigen Boden zwei tiefe Eindrücke, die nicht darüber im
Zweifel ließen, daß hier eine Leiter angelegt worden war.
Das war jedenfalls unter der Nachtübung der 3. Kompagnie
des 56sten Regiments zu verstehen gewesen, für welche sich
der Briefschreiber Herrn Wippach als Gehilfe zur Verfügung
stellte, um sich von ihm das sehr voluminöse Buch durchs
Korridorsenster reichen zu lassen und damit über den leicht
zu ersteigenden Plankenzaun des Hofes zu verschwinden. —
Meine Vermuthung, daß die Bibel nach Berlin zu dem
Antiquar gewandert sei, mit welchem Professor Georgi wegen
ihres Verkaufs brieflich unterhandelt hatte, bestätigte sich.
Ich reiste selbst hin und erwirkte mit dem Käufer auf güt-
lichem Wege einen Vergleich, sodaß die Sache aus der Welt
geschafft war, ohne Staub aufzuwirbeln. Jedenfalls hatte sich
der Antiquar einer groben Urvorsichtigkeit schuldig gemacht»
das Geschäft mit einem nicht beglaubigten Unterhändler ab-
zuschließen, der kein anderer als jener Helfershelfer Wippachs
gewesen sein konnte. Der Professor strich den entarteten
Neffen aus dem Testamente und versah ihn mit den nöthigen
Mitteln zur Reise über den Atlantischen Ozean."
(Fortsetzung folgt.)
 
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