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Heidelberger Zeitung — 1900 (Januar bis Juni)

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Nr. 127-149 (1. Juni 1900 - 30. Juni 1900)
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Fernsprech-Anschluß Nr. 82.

Fernsprech-Anschluß Nr. 82

Xr. 127.

Freitag, den 1. Jim

ISS«.

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Die Boxer.
China befindet sich seit einiger Zeit in einem unange-
nehmen Uebergangszustand. So wie die Zustände gegen-
wärtig dort sind, können sie auf die Dauer nicht bleiben.
Wie bekannt, besitzt China eine uralte eigenartige Kultur,
die sich das Volk selbst erarbeitet hat. Seit Jahrhunder-
ten steht China auf derselben Stufe. Mit großer Zähig-
keit hat es alle Berührungen mit der übrigen Welt fern
gehalten in dem Dünkel, daß alle Fremden einer geringem
Rasse angehören und ihm nichts bringen könnten. Das
war ja auch bis vor einigen Jahrhunderten richtig. Heute
ist China weit zurückgeblieben, andererseits war es nicht
im Stande, die europäischen und amerikanischen Einflüsse
auch bis auf den heutigen Tag fernzuhalten. So lange
es nur einige Häfen den Europäern und Amerikanern
offen halten mußte, merkte man in China kaum etwas da-
von, aber neuerdings sind Europäer und Amerikaner mit
Kapital und Unternehmungen ins Innere vorgedrungen.
Die Flüsse werden weit hinauf befahren, Eisenbahnen
werden gebaut, Bergwerke angelegt, kurz, es wird ein
Kultursturm auf China unternommen. Das Selbstbewußt-
sein und der Dünkel der Chinesen haben- einen tüchtigen
Stoß erhalten. Dies ist der Hauptgrund der mancherlei
Zuckungen, die gegenwärtig durch den chinesischen Slaats-
körper gehen.
Was die jetzt viel genannten Boxer anbetrifft, die in
ihrer Art den Kampf gegen das Fremde ausgenommen
haben, so wurde diese Sekte im Mai des vorigen Jahres
von einem Banditenchef gegründet und führte pittoreske
Bezeichnungen, die im Laufe der Zeit wechselten. So hieß
sie „Rother Lampenschirm", „Schleier der goldenen Glocke",
„Hemd aus Eisenstoff", zuletzt nannte sie sich „Faust des
Patriotismus und Friedens". Seither werden sie auch
von den Europäern Boxer, das ist Faustkämpfer, genannt.
Die Anhänger der Sekte verlocken dadurch zum Beitritt,
daß sie den Leuten einreden, die Gesellschaft verfüge über
allerlei wunderkräftige Zauberformeln, die stich- und kugel-
fest machen. Sie gaben sogar vor, daß ihre Mitglieder
das Feuer der Kanonen nicht zu fürchten brauchten. Zu-
nächst ließen die Boxer ihre Wuth an den katholischen
Christen aus, später wurde aber kein Unterschied mehr
Zwischen katholischen und protestantischen Christen geinacht.
Als der Gouverneur Au von Schantung 100 Mann gegen
sie entsendete, verschwanden die Rebellen spurlos. Am
11. October v. I. aber sammelte der Führer wieder un-
gefähr 1000 Mann um sich und erließ eine mit seinem
vollen Namen Unterzeichnete Bekanntmachung, in der es
heißt: „Die Faust des Patriotismus und des Friedens
im Reiche will die Mandschu-Dynastie hochbrin-
gen und die Fremden ausrotten." Regierungs-
truppen, die man gegen sie geschickt hatte, erlitten von den
Aufrührern eine Niederlage, hierauf häuften sich die Ge-
waltthaten, und nun sind sie bereits eine Gefahr für die
Hauptstadt Peking.
Nach einer Schilderung der Köln. Ztg. sind die Boxer,
Mit ihrem chinesischen Namen Jbotschuan genannt, eine der

unzähligen geheimen Gesellschaften, die in China
eine Art Neben- und Kontrolregierung im Staate führen.
Geheimnißvolle Bräuche, Satzungen voll schöner, religiöser,
philosophischer und menschenfreundlicher Worte, gegenseitige
Unterstützung, schwere Strafen im Falle des Verraths,
geschickte Ausnutzung des Aberglaubens und der Reiz, den
auf den Chinesen die Geheimbündelei überhaupt ausübt,
sichern ihnen wie auf einem anderen Gebiete auch den
kaufmännischen Gilden, Landsmannschaften und gemein-
nützigen Vereinen eine große Gewalt über ihre Mitglieder
und eine nicht zu unterschätzende politische Macht. Das
Mutterhaus der Jhotschuan, der Herd der ganzen Be-
wegung, ist Schantung, der deutsche Jnteressenbezirk,
und auch hier ist sie von Peking aus dadurch genährt
worden, daß hohe Beamte, vor allem der berüchtigte
frühere Gouverneur Lipingheng, die unter dem Druck der
deutschen Regierung ihres Amtes enthoben werden mußten,
weil sie die Boxer insgeheim und öffentlich begünstigt
hatten, auf höhere Posten befördert wurden. Die Auf-
teilung Chinas und das Vordringen der „fremden Teufel"
in das Land, die allenthalben anfingen, Bahnstrecken ab-
zumessen und Schienenwege zu legen, mögen die Bewegung
gefördert haben, aber wie unberechtigt es ist, den Aufruhr
als besonders gegen die Deutschen gerichtet darzustellen,
zeigen die ernsten Ereignisse der letzten Tage, die sich nicht
in dem deutschen Einflußgebiet, sondern in der nächsten
Nähe von Peking, an der sogenannten Luhanbahn, der im
Bau begriffenen Strecke Peking-Hankau, zugetragen haben.
Dort mußten die fremden Ingenieure, wohl meist Belgier
und Franzosen, vor den andringenden Horden der Boxer
flüchten, und sogar der Bahnverkehr von Peking nach
Tientsin, dem Flußhafen der Hauptstat von Peiho, mußte
eingestellt werden. Seil Monaten bereits treiben die Boxer
in dieser Gegend, in dem Regierungsbezirk Paoting, ihr
Unwesen, morden und berauben die einheimischen Christen
und brandschatzen die Beamten. So zwangen sie vor
Kurzem den Bürgermeister der kleinen Stadt Hsintscheng,
sich durch ein Lösegeld von 400 Taels von ihnen los-
zukaufen. Solche Erfolge und das lustige Räuberleben
treiben ihnen ein ganzes Heer brodloser und verzweifelter
Gesellen zu.
Da die Aufrührer nur eine Tagereise von Peking ent-
fernt stehen, so haben die fremden Gesandtschaften dort
Truppen von den Kriegsschiffen der betreffenden Staaten
reqnirirt. Hoffentlich wird das die chinesische Regierung,
veranlassen, ihre Kräfte zusammenzunehmen und die Be-
wegung der Boxer, mit der sie begreiflicher Weise im
Innern sympathisirt, zu unterdrücken. Denn andernfalls
käme es zur allmählichen Besetzung aller derjenigen Punkte
Chinas durch fremde Truppen, an denen fremdes Kapital
und fremde Arbeit thätig ist. Und das wäre, vom chine-
sischen Standpunkt aus gesehen, doch das gröbere Uebel.

Deutsches Reich.
— Auf Befehl des Kaisers sollen, den Berl. Pol.
Nachr. zufolge, ähnlich wie im Spätherbst 1890, in der
Woche nach Pfingsten mit Sachverständigen Erörterungen
über dieReform des höhercnUnterrichtswesens
stattfinden; der Kaiser dürfte wenigstens an den entscheidenden
Tagen die, Verhandlungen selbst leiten.
Badischer Landtag. V.O. Karlsruhe, 31. Mai.
(86. Sitzung der Zweiten Kammer.) Znr Berathung
standen zwei Petitionen.
Die Bitte des Verbands badischer Viehhändler um
Beseitigung des Z 33 der Badischen Vollzugsverordnung zum Reichs-
gesetz über die Viehseuchen wird ohne Debatte durch Uebergang
zur Tagesordnung erledigt.

Eine längere Erörterung knüpfte sich an den Bericht des Abg.
Werr über die Bitte der Gemeinde Grüns seid und um-
liegender Ortschaften um Bewilligung eines Staatszuschusses zur
Errichtung einer Filial-Apotheke in Grünsfeld. Die
Mehrheit der Kommission beantragte Uebergang zur Tagesord-
nung. g e h n t e r (Centr.) stellte im Plenum, unterstützt von
seinen Parteigenossen und den Demokraten den Antrag, die Ein-
gabe der Regierung zur Ke n ntnißnah me zu überweisen.
Obkircher, Pfefferte, Höring (natlid.), sowie Minister
Dr. Etsenlohr und Ministerialrath Dr. Glöckner traten
diesem Antrag entgegen, während Köhler und Werr (Centr.)
denselben befürworten. Der Antrag Zehnter und Gen. wurde
schließlich mit 30 gegen 20 Stimmen angenommen. — Nächste
Sitzung: Samstag: T.O. Petitionen.
Bayern. Ueber das Befinden des Königs Otto
gab Ministerpräsident Freiherr v. Crailsheim neuerdings
folgende Erklärung ab: „Er (der Minister) habe sich ge-
nauen Aufschluß von dem behandelnden Arzt geholt.
Danach bestehe keine unmittelbare Gefahr für das Leben
des Königs. Es werde nichts verheimlicht, und es sei
auch nichts zu verheimlichen, körperlich leidend sei der
König seit zwei Jahren. Genau kenne man das Leiden
nicht. Entweder sei es ein Blasen- oder ein Nierenleiden.
Eine genaue Konstatirung sei unmöglich, da der
König einer körperlichen Untersuchung den äußersten Wider-
stand entgegensetze. Gewalt wolle man aber nicht an-
wenden. Es sei auch deshalb von einer beabsichtigten
Untersuchung mit Röntgen-Strahlen abgesehen worden.
Der König könne sich, wenn er sitze, nicht allein wieder
erheben. Er könne auch nicht gehen und sich daher im
Garten auch nur sitzend aufhalten. Appetit und Verdauung
seien gut, ebenso der Schlaf."
München, 31. Mai. Die Augsburger Abendzeitung
erfährt aus authentischer medizinischer Quelle, König Otto
habe Blasen krebs und in der letzten Zeit auffallend
häufig lichte Momente.

Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben den
Kammerjunker Karl Grafen von Hennin in Fretburg und
den Kammerjunker Lambert Wilhelm Freiherrn vonBabo in
Frauenalb zu Kammerherren ernannt.
— Steuerkommissärassistent Fintan Bächle bei dem Großh.
Steuerkommlssär für den Bezirk Lahr wurde in gleicher Eigen-
schaft zu dem Großh. Lteuerkommissär für den Bezirk Offenburg
versetzt.
Karlsruhe, 31. Mai. Der Großherzog nahm
heute den ersten Vortrag des Präsidenten Dr. Nicolai
entgegen. Um halb 1 Uhr erhielt Seine Königliche Hoheit
de» Besuch des Prinzen Karl. Heute Nachmittag hörte
Seine Königliche Hoheit die Vorträge des Geheimen
Legationsraths Dr. Freiherrn v. Babo und des Legations-
raths Dr. Seyb. Der Großherzog ertheilte gestern dem
1. Vizepräsidenten des Badischen Militärvereins-Verbandes,
Generalmajor z. D. Fritsch, den Auftrag, die hier ein-
getroffenen Mitglieder des Deutschen Kriegerbundes Newyork
in seinem Namen herzlich willkommen zu heißen und den-
selben das Bedauern kundzugeben, daß Seine Königliche
Hoheit durch Unwohlsein verhindert waren, die alten
deutschen Krieger persönlich zu begrüßen. Diesem höchsten
Auftrag hat Generalmajor Fritsch bei Gelegenheit des
gestrigen Banketts in der Festhalte entsprochen.
— Auf Grund der Vorschriften unter 3. 5 der Normativ-
bestimmungen über Veräußerung und Verpachtung
des domänenärarischen landwirthschaftlich ge-
nützten Grundbesitzes vom 20. Juni 1894 sind im
Jahre 1899 in 18 Domänenamtsbezirken von 673,6289 ll» zur
Neuverpachtung gekommenen domänenärartschen Grundstücken
485,1581 da. also 72,02 Prozent, für eine weitere Bestandsperiode
an die seitherigen Pächter um den Anschlag aus der Hand über-
lassen worden. Der Bestandzins für die aus der Hand ab-
gegebenen Grundstücke beläuft sich für das Jahr zusammen auf
38 171 80 ^ oder für 1 da auf 78 68 Gegenüber

6)

Die Irre von Sankt Rochus.
Kriminalroman von Gustav Höcker.
(Fortsetzung.)

^ Ungeduldig schritt der lunge Arzt Doktor Gerth im
Vartesaale der kleinen Eisenbahnstation auf und ab. Er
bar mit dem Zuge der abzweigenden Nebenlinie ange-
ommen und wollte die Reise auf der Hauptlinie fortsetzen,
der erwartete Zug hatte aber fünfunddreißlg Minuten Ver-
vätung, und das ist ein verzweifelter Aufschub, wenn man
st einem todtkranken Bruder re.st, dem man vor seinem
Z'nscheiden noch ein letztes Mal die Hand drucken will,
rben schrillte der Pfiff einer Lokomotive, mächtig brauste es
>eran und die Schalten einer langen Wagenreihe verdunkel-
est plötzlich den Saal. Aber der angekommene Zug war
sicht dererwartete, sondern er kam aus der Provinzlalbaupt-
kstdt, und dorthin wollte der junge Arzt. Des Auf- und Ab-
lebens überdrüssig, trat er an eins der Fenster und blickte
erstreut in das bunte Gedränge der aussteigenden Personen,
luter diesen fiel ihm eine junge Dame auf, welche durch die
^erronthür in den Wartesaal trat. Ihre hohe, schlanke
gestalt war vom reizvollsten Ebenmaß. Wer sie sah, dessen
^sick wurde sogleich von den große», tiefdunklen Augen
stwngen, welche wie zwei Sterne flammten. Das zwischen
>stt und Stirn hervorschauende rabenschwarze Haar war
Verleugnung aller herrschenden Mode schlicht gescheitelt,
och vermochte diese puritanische Einfachheit die Schönheit
^er Gesichtszüge nicht zu beeinträchtigen. Aber dieses Antlitz
"str bleich und fast bis zur Durchsichtigkeit von einem tiefen
fkld vergeistgit, und in den wunderbaren Augen lag ein
Ausdruck der Trauer, Schwermuth und Hoffnungslosigkeit,
bn welchem der junge Arzt sich tief ergriffen fühlte.
, .Sie nahm in der hintersten Ecke des Saales an einem
^lnen Tische Platz. Zwei andere Passagiere, ein Mann

^ und eine Frau, setzten sich zu ihr. Nach ihrer Kleidung und
ihren sehr gewöhnlichen derben Gesichtszügen zu schließen,
waren beide keine sehr Passende Gesellschaft für die junge
Reisende, welche den Eindruck einer feingebildeten Dame
machte. Dennoch schienen sie zu ihr zu gehören; denn der
Mann wechselte einige Worte mit ihr, worauf die Frau
nach dem Büffett ging und ihr ein Glas Wasser brachte.
In einem Dienstverhältnisse standen sie jedoch nicht zu
der Dame, wenigstens war von jener bescheidenen Reserve,
I jener höflichen Unterordnung, welche dienende Personen
im Verkehr mit ihrer Herrschaft zeigen, an ihnen nichts zu
bemerken.
Während Doktor Gerth darüber grübelte, welch schweres
Leid die schöne Reisende in der Blüthe ihres Lebens wohl
schon getroffen haben könne, und in welchem Verhältnisse sie
zu ihren Begleitern stehen mochte, begegnete er dem dunklen
Augenpaare der interessanten Fremden. Als habe sie er-
rathen, welche Fragen ihren Beobachter beschäftigten,
streifte sie mit scheuem Blicke ihre beiden Reisegenossen
und senkte dann das Auge zu Boden, um eS nicht mehr zu
erbeben.
^ Die Ankunft des erwarteten Zuges schreckte den Arzt aus
seinen Gedanken. Er mußte sich losreißen von dem ver-
stohlen genossenen Anblick dieses feingeschnittenen Gesichts
mit dem geheimnißvolle» Leid. Noch einmal sah er zurück,
als er den Wartesaal verließ und noch einmal begegnete er
ihrem Auge, das ihm gefolgt war.
Während der Fahrt schwebten ihm fortwährend die graziöse
Gestalt, die schmerzliche Trauer lener Züge, diese wunder-
baren, von tiefem Seelenleid erfüllten Augen vor. Und wer
waren ihre seltsamen Begleiter? Ach, daß ihm dies jetzt
cinfiell Gerade ihm hätte es nahe liegen müssen, sich diele
Frage zu beantworten. Der Eisenbahnzug, aus welchen
die drei Reisenden zu warten schienen, berührte einen Ort.
wohin schon mancher gekommen war, welcher in unpassender,
ihm aufgezwungener Begleitung reiste, zu seiner eigenen
oder zu anderer Leute Sicherheit. Das war die Landes-

irrenanstali Sankt Rochus, und von diesem traurigen Orte
war Dr. Gerth gekommen. War dies das Reiseziel der
schönen Unbekannten und waren jener Mann und jene
Frau ihr als Wächter beigegeden, dann sah er die Unglück-
liche wieder, denn er bekleidete in St. Rochus die Stelle
des ersten Assistenzarztes. Nichts im Benehmen des
jungen Mädchens hatte eine geistige Störung verrathen, aber
indem Gerth mit jener so plötzlich in ihm aufgestiegenen Ver-
muthung die unsägliche Schwermuth ihres Wesens in Zu-
sammenhang brachte, schauderte er zusammen, denn dies sagte
ihm, dem Psychiater, mehr als ein ganzes Tollhaus. Ein ge-
brochenes Herz, zertrümmertes Liebesglück — das waren nur
zu häufig die Ursachen, welche innerhalb der Mauern seines
ernsten Wirkungskreises Jugend und Schönheit dem allmäh-
lichen Verfall entgegenführten, so sicher, so unaufhaltsam, wie
Narrheit und Raserei.
Als Doktor Gerth in der Provinzialhauptstadt ankam.
war sein Bruder bereits aus dem Leben geschieden. Der
Verstorbene, dem Arzte an Jahren weit voraus, harte sich
durch glückliche Handelsunternehmungen ein bedeutendes Ver-
mögen erworben, welches er, als kinderloser Wittwer, dem
einzigen Bruder hinterließ.
Als reicher Mann kehrte Doktor Gerth nach Sankt Rochus
zurück. Sein Schmerz über den Verlust des theuerften und
letzten Angehörigen war jedoch noch zu neu, als daß er sich
in das Bewußtsein, der Besitzer eines großen Erbes zu sein,
schon hätte einleben und neue Pläne für seine Zukunft fassen
können.
Er überrnahm wieder seine täglichen Pflichten, und kaum
daß er den Reisestaub von sich geschüttelt hatte, trat er seinen
gewohnten Rundgang au und begab sich, wie es täglich um
diese Stunde geschah, in einen von hohen Mauern umgebenen
groben Hof.
(Fortsetzung folgt.)
 
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