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Heidelberger Zeitung (44) — 1902 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203-228 (01. September 1902 - 30. September 1902)
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Zur allmahlichen Abtötung des eigenen Willens dienen die
geistlichen Exerzitien. Kann ein Mann, der selüst auf alle
persönliche Freiheit verzichtet hat, von der menschlichen Gesell-
schaft verlangen, gerade so wie jeder wirkliche Staatsbürger
behandelt zu werden? Nicht in konfessionellen Unterschieden,
nicht in religiösen Auffassungen ist der Protest gcgen die Män-
nerklöstcr begründet, wie der gemütvolle Dichter Hansjakob
annimmt, sonüern in dieser doppelartigen Ausnahmsstellung,
welche die Ordensbrüder für sich beanspruchen und mittels
deren sie in die Familien, in die Gomeinden, in alle öffentlichen
und privaten Verhältnisse aus höhere, unkontrollierbare Weise
eingreifen. Und da diese Wirksamkeit sich keineswegs auf ka-
tholische Lebenskreise beschränkt, sondern in hervorragendem
Grade sich auf gemischte Ehen und paritätische Gemeinden er-
streckt, ist die Frage durchaus nicht, wie Hansjakob ausführt,
ausschließlich eine wtholische Frage. Sie berührt in unserem
paritätischen Volk die evangelischen Väter und Mütter noch
weit mehr, denn die Thätigkeit der Orden war allzeit
gegen die Nichtkatholiken gerichtet.

Mannheim, 2. September. Nach einem Vor-
schlag der kirchlich liberalen Vereinigung wtirde vor
einiger Zeit der Beschluß gefaßt, in den Kirchen beson-
Lere Vorträge uber die zur Zeit schwebenden kirch-
lichen Fragen halten zu lassen. Auch die Klosterfrage
und andere den Protestantismus betreffende Fragen
werden dabei zur Verhandlung gelangen. Als Orte im
Unterland sind Schwetzingen, Neckarau und Walldorf ins
Auge gefaßt.

Elsaß-Lothringen.

— Die Folgen des Lturzes mit dem Pferde, den
GeneraIoberst Graf Häseler, der Komman-
deur des 16. Armeekorps in Metz, erlitt, siud noch keines-
wegs gänzlich behoben, haben vielmehr veranlaßt, daß
die großen Festungsmanöver, die in friihereu Jahren um
diese Zeit langst absolviert waren, diesmal bis zum Be-
ginn des Monats Oktober aufgeschoben wurden. Es
liegt dem Grafen Häseler viel daran, diese wichtigen
Uebungen persönlich.zu leiten und zu überwachen; sein
Zustand ist äbör noch nicht ein derart guter, daß Aus-
sicht zur Abhaltung der Festungsmanöver vor der ersten
Woche des Oktober vorhanden wäre. Es wird dann
allerdings nötig werden, entweder eine größere Anzahl
Regimenter, odsr aber Reserven hinzuzuziehen, da die
Truppenteile durch den Abgang der ausgedienten Mann-
schaften zu dem in Aussicht genommenen Termin Le-
Leutend geschwächt sind.

Preuße». ^ ^

— Mit dem Plan der Errichtung einer M nller e i
und Bäckerei zu „V e r s u ch s z w e ck e n" bchchaf-
tigte sich kürzlich die LandwirtschaftSkammer fur deu Re-
gierungsbezirk Kassel. Es wurde betont, dasz dre>e An-
gelegenheit neuerdings in landwirtschatfli'chen Krerwn leb--
haft erörtert werde; man verspreche sich von folchem
Untevnehmen einen bedeutenden Nutzen; insbe,ondere
werde dcidurch Gelegenheit gegeben, die Unterschiede zwi-
schen der Backfähigkeit der verschiedenen Getreide-
sorten, der inländischen, sowie der ausländischen, kennen
zu lernen. Der Landwirtschaftsminister habe die Grun-
Lung einer solchen Versuchsanstalt auf StaatKosten in
Aussicht gestellt. Die Versuchsanstalt soll in Berlin
errichtet werden.

Sachsen.

— Aus dem sächsischen Erzgeb i r g e wird
lebhaft über die Fleischteuer u n g geklagt. ^n
Stolberg z. B. kostet ein halbes Kilo Schwemefleifch
SN Pfcg, Kalbfleisch 80 Pfg., geräucherter Speck 1.20
Mark,'während die gleichen Fleischsortcu im nachbm--
lichen Böhmerlande um beinahe ein Drittel des Preises
billiger zu haben sind. Die erzgebirgischcn Arbeitcr
haben einen Wochenverdienst von 11—12 Mk. Man
kann sich lebhaft vorstellen, wie es da um dic Ernährung
Ler Familien bestellt sein muß.

Aie neue Hlechtschreiöung.

Die amtliche Ausgabe der neuen deut -
s ch e n R e ch t s ch re ib u n g ist jetzt im Druck erschienen
und den Leitern Ler Berliner Schulen zugegangen. Die
Einführung soll erst zu Ostern des nächsten Jahres er-
folgen: doch ist die Anwendung der neuen Schreibweiss
unter llmständen jeht schon gestattet. Der leitende
Grundsatz, nach dem bei Ler Neubildung unser Recht-
schreibung gearbeitet wurde, war, eins Orthographie zu
schaffen, in der alle 'deutschen Länder, auch Oesterreich
und die Schweiz, mit Len Eigentümlichkeiten ihrer
Schreibweisen möglichst zu ihrem Rechte kommen. Jn-
folge dessen sind manche Jnkonsequenzen zu verzeichnen,
so z. B. daß fortan „gibst", „gibt" zu schreiben ist, unter

Wegfall des Dehnungs-e, während Lie Endsilben ,,-ieren",
„ierung" mit Dehnungs-e geschrieben werden. Späterer
Zeit bleibt also noch ein gutes Stück Arbeit vorbehalten.
Von den Einzelbesümmungen der neuen Rechtschreibung
sei erwähnt, daß „th" in den deutschen Wörtern nicht
mehr geschrieben wird; es heißt fortan „tun" anstatt
„thun" und „Tür" anstatt „Thür". Ausgenommen von
dieser Regel sind aber einige deutsche Eigennamen, von
denen einige das „h" behalten müssen, einige jedoch auch
ebensogut verlieren, wie behalten dürfen. Eine doppelte
Schreibweise ist auch freigegeben sür die zweite Person
derjenigen Zeitwörter, deren Stamm aus einen S.-Laut
endigt; so bleiben also z. B. neben den Formen „du
liest", „du wächst", die veralteten „du liesest" und „du
wächsest" bestehen. Am vielseitigsten und schwierigsten
bleibt auch in der neuen Rechtschreibung das Kapitel über
Lie Anfangsbuchstaben. Jm Allgemeinen ist
die Stimmung fiir die kleinen Anfangs-
buchstaben gemäß der Vorschrift: „Jn zwei-
felhaften Fällen schreibe man mit kleinen Ansangsbuch-
staben." Jndessen soll z. B. die Anrede „du" und „ihr"
in Briefen auch in Zukunft groß geschrieben werden; es
soll künftig auch heißen: „Das Königlich Preußische Zoll-
amt" — Königlich Preußisch mit großen Anfangsbuch-
staben — dagegen z. B. die „preußischen" Beamteü.
Jm ersteren Falle sind die beiden Eigenschaftswörter
Teile von Titeln, im zweiten nicht. Ein ähnlicher Unter-
schied bleibt in der Schreibweise derjenigen Eigenschafts-
wörter, die von Eigennamen abgeleitet sind. Bezüglich
der Fremdwörter wird gesagt, daß „für die Schreibung
Ler Fremdwörter sich allgemein giltige Regeln nicht auf-
stellen lassen". Als Grundsatz gilt, die fremde Schreib-
weise beizubehalten, sofern die fremde Aussprache keins
Aenderimg erfahren hat; doch sollen Fremdwörter, die
keine dem Deutschen fremde Laute enthalten, vielfach
ganz nach deütscher Weise geschrieben werden, wie z. B.
Bluse, Sekretär u. a. Der K-Laut soll aber meist mit
„k" und der Z-Laut mit „z" geschrieben werden. An
Stelle von „cc" darf, wenn es den Laut von „kz" hat,
auch kz gesetzt werden, man darf also ebenso gut wie z. B.
Accent uud Accise, auch Akzent und Akzise schreiben.
Sehr zur Nachachtung M empfehlsn ist der Schlußsatz der
amtlichen Ausgabe: „Viele Fremdwörter können durch
völlig gleichwertige, gute, deutsche Ausdrücke ersetzt wer-
den; entbehrliche Fremdwörter soll man überhaupt ver-
meiden."

Aus Stadt und Land.

-p Die 11. Nllqemeine Konfercnz der deutschen Sittlich-
keitSvcrcine findct vom 5.—7. Oktober 1902 hier in Heidelberg
statt. Aus dcr Tagesordnirng 'hebcn wir hervor: Sonntag,
den 6. Oktober, abends 6 llhr Festgottesdlenst: abends 8 U'hr
öffentliche Volksversamnilung christlichen Charakters im groszen
Saal der Harmonie. Montag, den 6. Oktober, morgens 9—-11
Uhr, Vorstandssihimg, morgens 11—2 Uhr Delegierten-
Vcrsanimlun g; nachmittags 1—614 Uhr Hauptver-
sammlung im großen Saal der Harmonie; abends 814
Uhr M ä n n e r b e r s a m m l u n g im „Zwinger": abends
814 Uhr F r a u e n b e r s a m ml u n g im großen Saal der
Harmonie. Dienstag, den 7. Oktober, vormittags 9 Uhr Schluß
dcr Delegierten-Versammlung. Am Sonntag, den 6. Okto-
ber, abends 814 Uhr, wird glcichzeitig in Mannheim eine
grohe Volksversammlung stattfinden.

Schricshcim, 1. September. (D i e Waisen- u n d
R e t t u n g s a n st a l t Pilgerhaus) bci Weinheim
hat zum alten Hause, das hergcstellt wurde, einen Neubau
erstellt. Ersteres bleibt für Mädchen, Hauseltern nnd weiö-
liches Personal bestiknmt. Letzteräs für IKn'aben, Lehver,
Knecht und Gehilfen. Die beiden Häuser sehen freundlich und
gefallig in die schöne Pfalz hinmis und stehen im banmreichen
Garten. Das ncue Hmis ist für 40 Knaben eingerichtet, das
alte für 20 und mehr Mädchen. Zur Zeit sind 81 Zög-
linge in der Anstalt, früher tvaren es 30 bis 38. Das
Pilgcrhaus ist nicht in der glücklichen Lage des Reichswaisen-
hauses in Lähr, über 460 000 Mark Kapital zu verfügen.
sondcrn bekommt durch den Neubau eine Schuldenkast von
ca. 26 000 Mark. Wir gönncn dem Reichswaisenhause den
Wohlstand, doch sollte von manchen Gebern das ihnen näher
liegcnde Pilgerhaüs nicht vergessen werden, da es fast dieselbe
Anzahl Kinder beherbergt. Zudem sind diese Kinder mich
alle Rerchswaisen. Däs Pilgerhaus hat schon 62 Jahre
segensreich gewirkt. Wcr hilft den Reichswaisen im Pilger-
haus ihre Heimat schuldenfrei zu machen? Am 10. Sept.
mittags 3 Uhr wird das Jahresfest iind die Einweihung ge-
feiert. Kommt und feiert mitl

X Vom Landc, 1. Scpt. (G e f l ü g e l z u ch t.) Unscre
Landwirte, die sich mit Geflügelzucht abgeben, züchten die
Tiere ihrer Eier, ihrcs Fleisches oder ihrer Federn wegen.
Es ist dies das Nuhgeflügel. 'Jn größercn Wirtschaftis-

höfen finden wir den Pfau, Fasanen, Perlhühner, Schwäne
usw., diese find nur eine Zierde für -en Geflügelhof, man
nennt sie Luxusgeslügel. Jn unferem deutschen Vat-erlande
sollte imd könnte die Geflügelzucht in höherem Maße betrie-
ben werden, als das bis heute geschteht. Die Ansprüche, die
die Bevülkeruiig an das Nutzgeflügel stellt, könnten mehr durch
einheimische Ware befriedigt werden. Die bielen Millionen
Mark, die für Eier, getötetes Geflügel, Federn usw. ins Aus-
land gehen, sollten und könnten zum größten Teil im Lande
bleibcn. Wir wollen hier nur mit einigen Zahlen dienen.
Nachgewiesen wurde, dah im Jahve 1900 für 96,3 Millionen
Mark Eier aus Oesterreich, Rußland und Jtalien eingefiihrt
ivurden. An gelöretem Geflügel betrug im selben Jahre die
Einfuhr 6 661 000 Mark und mi lebendem Geflügel über
30 Millioneu Mark. Die Gesamteinfuhr an Eiern und Ge-
flügel usw. kann also aus rund 135 Milliouen Mark veran-
schlagt werden. Zahlen sprechenl Sollten diese Zahlen und
Thatfachen nicht anspornen, der Geflügelzutcht viel mehr Jnter-
esse entgegenzubriiigen? Könnten nicht viele von obigen Mil-
lionen unfer ackerbautreibendes deutsches Volk in die Taschen
stecken? Natürlich gehört auch hier das richtige Verständnis
dazu. Dieses bekundet sich aber nicht darin, datz ich den Rach-
bar sofort verklage und in Strase bringe, wenn ein Hühnchen
von ihm in meinem Hofe scharrt oder über meine Wiese läust.
Jn den Orten, wo einige Schreier es dahinbrachten, daß die
Hühner eingesperrt werden, ist die Wohlhabenheit nicht ge-
stiegen, zu merken ist wenigftcns nichts davon. Die Bernünf-
tigen haben sogar eincn Schaden konstatiert, und es durchge-
sctzt, daß üie Hühner wieder freien Lauf erhielten, was un-
bedingt notwendig ist für jede Geflügelart. Sage niemand,
dah sich die Geflügelzucht nicht rentiere. Bei richiigem Betrieb
wirft sie, selbst wenn das Futter gekaust werden muß, noch
eine gute Rente ab. Den Landwirten aber, die das Futter
selbst ziehen können, rentiert sich ihr Anlagekapital gut zu
30 und mehr Prozent. Jn einer späteren Nummer mehr
darüber.

Weingarten (A. Durlach), 30. Aug. (Re ue B ä ck e r-
innung.) Dem in der „Bad. Presse" erlassenen Aufrufe
betreffend Gründung einer Jnnung der Bäckermei-
st e r aus den Landorten der Amtsbezirke Dnrlach,
Bruchsal und Bretten Folge leistend, hatten sich am
Donnerstag hierselbst 120 Bäckermeister, darunter Mitglisder
der Genossenschaften in Karlsruhe, Ettlingen, Durlach und
Bruchsal bersammelt. Herr Handelskammersekretär Dr. Loth-
Karlsruhe erläuterte, wie die „Bad. Presse" berichtet, die Be-
stimmungen des Handwerkergesetzes, speziell diejenigen über
das Bäckerhandwcrk. Die fast 114stündigen Ausführungen
wurden mit reichem Beifall angenommen. Hieraus begrüßte
der Präsident des badischen Bäckerverbandes, Herr Wilser-
Karlsruhe, die Kollegen im Namen des' Vcrbandes und er-
mahnte zu festem Zusammenschluß zu Jnnungen. Danach be-
sprach Herr Weigenannt, Vorstand der Brnchsaler Genossen-
schaft, in längerer Rede die Lage des Bäckergewerbes nnd
brachte dmin dadurch eine ticfe Mißstimmnng in die Bersamm-
lung, daß er, wie es früher schon wiederholt der Fall war,
gegen die Gründung einer Jnnung für dre obengenannten
Landbezirke auftrat und nunmehr Gelegeiiheit erfaßte, die
Kollegen des Brnchsaler Landbezirks zum Anschluß an Bruch-
sal-Sta-t aufzufordcrn. Diese erklärten sich bei der W-
stimmung für den Antrag Weigenannt, wodurch die Miß-
stimrnung noch größcr wnrde. Die Folge war, daß der Vor-
schlag gemacht wurde, die Kollegen aus den Landorten der
Bezirke Durlach und Bretten sich zu einer Jnnung zu ber-
einigen, nnd der wcitere Vorschlag, daß dic Bäckermeister aus
den Landorten des Bezirks Durlach sich mit ihren Kollegen in
Durlach znsammenschließen. Crsterer Vorschlag wurde sei-
tens einiger Bäckermeister des Bezirks abgelehnt, letzterer ein-
stimmig von den Beteiligten verworfen. Nunmehr ergrifs Herr
Dr. Loth nochmals das Wort und ermahnte mit kernigen, ein-
dringlichen Wortcn die Landbäcker, sich fest zusammenzuschlie-
ßen, eine Jnnung zu gründen und nicht so resultatlos aus-
einanderzugehen. Nachdem sich die stürmische Bewegung etwgs
gelegt hatte, berichtcte der Vorsitzende in ausfül)rlicher Weise
über die Gründung der probisorischen Jnnung. Hierauf er-
klärten sich 16 Bäckermeister von den Orten Weingarten, Jöh-
lingen, Berghauscn, Grünwettersbach, Wolfartswcier, Wösch-
bach, Grötzingen, Wössingcn, Wciher, Forst, Oestringen, Ober-
und Untergrombach bereit, der Jnnung beizutreten, die den
Namen führen wird: Freie Bäcker-Jnnung der Landge-
meinden in dcn Amtsbezirken Dnrla ch, Bruchsal und
Bretten. Der provisorische Vorstand wnrde weiter mit der
Führung betraut. Alle Bäckermcister, welche der Fnnung bei-
tretcn wollen, mögen sich bei den Herren Häcker und Lepp in
Weingarten melden. Zuletzt wuvde beschlossen, vor der defini-
tiven Vorstandswahl eine Versammlung in Untergrombach ab-
znhalten.

»»-»»»»»»»»»»»»»»»>»>»>»M»E»»»»»»»>»»»»»M,,^,E»»»»»E

II. Weröaudstag der deuifchen Keweröevereine.

K a i s e r s l a ii t e r n, 2. Sept.
Heute iiabmsn die Verhaiidlimgeri des 11. Verbands-
tages ibren Fortgang. Der „Pfälch,Kur." berichtet dar-
über: Ein Bcgrüßungsschreiben des Reichstagsabgeordne-
ten Bassermaim wird verlescn und Herrn Bassermann
telegraphisch gcdankt.

Ueher die Sicherung der Forderungen der Bauhand-

„Jmmer höherl"

Sie sprang auf.

„Treiben Sie keinen Scherz mit mir, mein Herr, üitte, sagen
Sie mir die volle Wahrheit."

Anch er war aufgestanden und mit feierlicher Verbeugung,
wie er sie keiner Fürstin ehrfurchtsvoller hätte bezeugen kön-
nen, sagte er:

„Sie häben das große Los mit der Prämie gezogen — im
ganzen achtmalhunderttausend Mark — ohne die Abzüge selbst-
verständlich. — Meinen Glückwunsch, vcrehrte Frau."

Sie sank fprachlos auf einen Stuhl, alles Blut war aus
ihrem Gesicht gewichen und sie pretzte die Hand aufs Herz,
das nach sekundenlangem Stillstehen wild zn hämmern be-
gann. Jhr erster Gedanke suchte den Entschlafenen. Wenn
der das erlebt hättel Was sollte sie mit dem Reichtmn an-
fangen? Es wcrr, als ob sich plötzlich eine Last anf sie hevab-
senke, ein Druck, der sie M zermalmen drohte. Und dann zogen
in eiliger Flucht lockende Bilder vor ihrem geistigen Ange
vorüber, schmeichelnde Stimmen sprachen zu ihr: Du kannst
es nun 'den Vornehmen gleichthun, in glänzender Cquipage
sahren, Dienerschaft halten, dich kostbar kleiden. Und merk-
würdigerweise fiel ihr zunächst ein Hut ein, den sie noch neu-
lich am Schaufenster des großen PutzgeschäfteZ am Ringe ge-
sehen hatte. Ein großer Strohhut war's, mit weitzen Spitzen
nnd Straußenfedern garniert, den könnte sie nnn kaufen.
Das ging 'älles blitzähnlich durch ihren Sinn, während sie,
vor sich hinstarrend, dasaß. Richter beobachtete sie lächelnd.
Diese schlichte Bürgersrau hätte im Zimmer herumhüpfen,
vor Freude lachen und weinen sollen, statt dessen saß sie still
und in sich gekehrt da. Er mußte doch sehen, ob der Aublick
des Geldes kcine andere Wirkung bei ihr hervorrief.

„Jch biu von meinem Ches beanstragt, Jhncn einen Bor-
schuß in beliebiger Höhe zu dem üblichen Zinsfuße anzubieten,
denn die Summe selbst wird erst in einigen Tagen zur AuS-
zahlung gelangen. Wie viel wünschen Sie?"

Er ließ eine Anzahl blaue und braune Scheine durch die
Finger gleiten.

Sie säh mit einer Mischung von Berlangen nn'd Abneigung
auf das Geld. Wieder dachte sie an den Hut, vierundzwrmzig
Mark sollte er kosten, sie hatte sich erkundigt. Und wenn sie
den Hut hatte, so branchte sie auch einen fcinen UMhang dazu
nnd Handschuhe. Sie rechnete schnell nach.

„Geben Sie mir hundert Mark," sagte sie zögernd. Er
lachte, daß ihm die Thränen in die Angen traten:

„Hundcrt Mark? Köstlichl Jch habe fünftausend mit-
gcbracht. Bitte, wenn's gefällig ist."

Er breitete die Scheine auf den Tisch. Sein Lachen hatte
ihr die Rnhe wiedergegcben. Sie wollte kein Geld voraus
nehmen, das sie verzinsen mnßte, so nötig hatte sie es nicht.
Jhre 'Ersparnisse lagerten in sicheren Papieren in der fener-
festen Kässette unter ihrem Bett, die konnte sie jeden Angen-
blick versilbern.

„Jch dcmke," sagte sie, „ich hcrb' es mir überlegt, ich möchte
keinen Vorschnß nehmen."

Und dann, g-cmz Luhige Geschäftsfrau, setzte sie hinzu:
„Fch haüe einen gnten Freund nnd Ratgeber hier, den Rent-
meister Ehrentraut, der wird mir helfen, alles zu ordnen."

„Jch hoffte, meinem Chef mitteilen zu können, daß Sie die
Verwaltung des Vermögens in seine Hände legen werden,"
sagte Richter ganz betreten.

„Wie gesagt, ich will Herrn Ehrentraut um Rat fragen,
ich werde dann Herrn Goldstein benachrichtigen."

Richter verbeugte sich.

„Dann gestatten Sie wohl, daß ich Sie anf die Sitte auf-

merksam mache-dem Ueberbringer derartiger Nach-

richten — in unserem Falle, da ich das Los gezogen habe, dem
eigentlichen Urheber Jhres Glückes — eine — —"

Sie nntcrbrach ihn. Ein leises Rot war in ihre Wangen
gestiegen und nicht ohne Stolz hob sich das anmutige Köpf-
chen.

„Jch werde natürlich anch das nicht 'vergessen, sobald ich
das Geld in Händen habe," sagte sie kühl. Jhrer rnhigen
Haltung gegenüber wurde er nnwillkürlich zaghaft. Zögernd
betrachtete er ein Papier, das den Entwurf zu einer Schen-
kungsurkunde von —000 Mark enthielt.

„Vielleicht bedienen Sie sich dann später dieses Blattes, '
verehrte Dame."

Sie nahm ihm den Streifen Papier aus der Hand und legte
ihn zu dem Schreibcn, seines Chefs und der Gewimiliste, die er I
ihr schon vorher eingehändigt hatte.

Eine Pause entstand. Er raffte zögernd die Scheine zu-
sammen und stecktc sie in die Brieftasche. Fran Rose bedachte, s
daß sie dem Gaste immerhin cine Aufmerksamkeit schulde. Jn i
den Laden tretend, gab sie dem Lehrjungen einen Thaler und i
fchickte ihn zum Kanfmann hinüber nach einer Flasche Wein
und etlichen Zigarren. Und während sie zwei Gläsor sauber
polierte, ehe sie dieselben auf den Tisch stellte, sprach sie rnhig
mit Richter. Dieser kam ans der Vcrwunderung nicht mehr
hercrus. Daß cr mit seiner Botschaft die Seisensiederwitwe
nicht mehr aus dcm Häuschen gebracht hatte, schien ihm wirk-
lich unerklärlich. Nachdem er Wein und Zigarren eincr ein- !
gehendcn Beachtung gewürdigt hatte, verabschiedete er sich von
Frau Rose. Sie hatte sein Versprechen, daß er keinem Men-
schen von der Wendung in ihrem Schicksal erzählen werde.

Und nun war sie allein. Da zeigte sich's bald, daß ihre !
Ruhe gekünstelt gewescn war. Rastlose Pläne und Wünsche
durchkrenzten ihr Hirn. Sie schalt sich nun, weil ihr erstes
Sehnen dem H.ut gegolten hatte, war sie denn so citel, nur cm
Putz zu denken? Nein, zunächst wollte sie ein stattliches Eisen-
gitier um die Gräber ihrcr Lieben und ihre eigne zukünftige
Grabftätte machcn lassen.

(Fortsetzung folgt.)
 
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