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Heidelberger Zeitung (44) — 1902 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203-228 (01. September 1902 - 30. September 1902)
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nach Arankreich" etwas entdeckt werden können. Hier-
nach scheint es sich bei dieser „Künstlersahrt" nur um eine
Ausgeburt privater Reklamesucht zu handeln.

Äaden.

— Zu dem Kapitel gertnge St eu erkap ttalien
bei den Kathaliken schreibt die Zentrumspresse:

Daß die Katholiken wirtschaftlich im Rückstande sind, ist
nichts neues'; diese Zahlen dürsten aber doch in der größeren
Oeffentlichkeit verblüffen. Geht die wirtschaftliche Entwicke-
lung des Landes :wch einige Jahrzehnte so fort, und das ift
wahrscheinlich, dcmn find die Lkatholiken nur noch Proletarier
irr ihrem Baterlairde, mögen sie auch gleichberechtigte L-taats-
bürger bleiben, ihr Einfluß wiöd doch zurückgehen; denn der
wirtschaftliche Besitz ist von jeher eine Hauptstütze des politischen
Einflusses gewesen und wird es noch lcmge bleiben. Für den
katholischen Volksteil ist das aller Anlaß, gründlich uud ernst-
lich zu erwägen, wie er seiue Lage verbessern karm. Er wird
eine ernstliche Gewisseuserforschung in dieser Hinsicht anstellen
müssen, denn die Hauptursache liegt offenbar ber den Katholikerr
selber, wenn auch manche äuhere Umstände ihnen weniger
günstig waren und sind, als andereu.

Hierzu bemerkt die „Frkf. Ztg.":

Die hier geäußerten Befürchtungen sind aus naheliegenden
Gründen etwas übertrieben, ganz grundlos aber sind sie nicht.
Es steht längst fest, daß die katholische Bevölkerung Deutsch-
lands, nicht nur Badens, im Durchschnitt geringerer Wohl-
habeuheit sich erfreut, als die Volksteile andcrer Konfessions
zugehörigkeit. Natürlich ist das keiu Zufall, sondern — und das
will die katholische Presse selbstverstündlich nicht wahr haben
-— eine Folge der eigenartigen Weltanschauung, die durch die
katholische Kirche ihre Förderung findet. Der Katholik wird
ja garrz absichtlich und geflissentlich von seinen Geistlichen
in der verhängnisvollen Auschauung erhalten, daß er sich am
letzten Enlde nicht auf sich selbst, sondern auf 'das Wälteu einer
Lberirdischen Macht verlassen dürfe, die jsdem rmch Vevdienst
gerecht werde. Das muß ganz natürlich eine gewisse Jndolenz,
eine fatalistische Ergebung bewirken, die im Vorwärtsstreben
sehr hinderlich wirkt. Die Hauptursache aber der Rückständig-
keit der Katholiken auf dem Erwerbsgebiet ist das Bestrebeu
der katholischen Geistlichkeit, die Schulbildung möglichst anf
dem Iiiveau zu evhalten, das dem Glauben nicht gefährlich
werden kann. Wo der katholische Geistliche das nur kann., stellt
er sich der modernen Entwickelung der Bolksschule, der Haupt-
bildungsstätte der großen Mehrheit des Volkes, hindernd und
hemmcrrd in den Weg, und kann er, wie in Baden, nicht be-
herrschend direkt in das Schulwesen eingreifen, so sucht er
doch sonst, und leider nicht ohne Erfolg, mit allen ihm zu
Gebote stehenden Mitteln den durch den Schulunterricht viel-
leicht geweckten Selbstäüdigkeitstrie'b zu unterdrücken. Mangel
an selbständigem Urteil aber ist im modernen Wirtschastsleben
gleichbedeutend mit Rückgang. Will also die katholische Kirche
ihren Angehörigen wirklich zur ivirtschaftlichen Parität ver-
helfen, so begebe sie sich zunächst einmal des Einflusses auf die
Schulbildung, wenigstens aus die Ausgestaltung des Real-
unterrichts.

IZO Karlsruhe, 24. Sept. Behufs Gründung
eines n a t i o n a l l i b e r a l e n Iugendver -
ei n s fanden sich heute etma 300 junge liberale Bkänner
im Saale des „Friedrichshofs" ein. Anch der Kölner
Jugendverein hatte einige Vertreter entsandt. Der Vor-
sitzende des hiesigen aiationalliberalen Veröins, ,Herr
Prof. Goldschmit legte zunächst die Ziele dar, tnelche der
junge Vereiii sich znr Aufgabe gesetzt hat. Er will vor
allem in Versammlungen die wichtigsten Fragen des
politischen Lebens erörtern und dadurch in weiten Kreisen
Las Verstöiidnis für dieselben wecken und die großen Er-
innerungen an die ruhmvolle Vergangenheit des deut-
schen Vaterlandes allezeit wachhalten. Dec Redner kenn-
zeichnete sodann die Stellung der Nationalliberalen zu
den übrigen Parteien und richtete zum Schluß ernen
warmen Appell an die Ji'igend, eifrig im Sinne der na-
tionalliberalen Partei zu wirken; dann werden die Alten
stets mit Freuden an den heutigen Tag zurückdenkeir.
(Beifall.) Landgerichtsrat Scherer entwickelte sodann in
großen Zügen das Programni des jnngliberalen Ver-
eins, der die Bismarcksche Politik weiterzuführen gs-
Lenke. Der Redner schloß unter lebhaftem Beifall mit
einem Hoch auf die nationalliberale Jugend. Nach wei-
teren Äusführungen des Blechners Kiby und des Prof.
Fischer erfolgte die Konstituierung des jungliberalen Ver-
eins Karlsruhe, dem sofort fast fämtliche Anwesende bei-
traten.

— Jm „Landw. Wochenblatt" findet sich eine inter-
essante vorläufige Uebersicht über den Umfang des Tabak-
baues im Großherzogtum Baden für das Erntejahr 1902.
Unter 477 Tabakbau treibenden Gemeinden im Groß-
herzogtum gie'bt es nur 10, die eine Fläche von über
10 000 Ar mit Tabak bepflanzt haben; unter diesen be-
flnden sich zwei, Jchenheim und Ottenheim im Bezirk
Lahr, die übrigen sechs verteilen fich auf die Bezirke
Mannheim (Ladenburg, Sandhofen, Seckenheim), Wein-

weiß ichl" brummelte er halblaut in seine Pfeife und seinen
Bart, während er seine Wanderung von nenem aufnahm.
„Willst du nicht lieber bei deinem alten Bater bleiben, Lisbeth,
der dich so lieb hat nnd ohne dich nicht leben kann?"

Sie blickte ihn mit einem spöttischen Lächeln von der
Seite an.

„Um Gotteswillen, Vater, werde bloß nicht sentimentall
Wer dich kennt, glaubt dir das doch rncht!"

„Was habe ich für Kinderl Der Sohn ist ein Nichtsnutz,
ein Faullenzer und Bummler, >der fich betrinkt, und die Toch-
ter ein herzloses Geschöpf. Aüer das sage ich dir, in Berlin
verloben mit irgend so 'nem Mitgistjäger — ist nichl Dazu
habe ich dich nicht mit Mühe und Kosten grotzgezogen, um
irgend so 'nem hungrigen Leutnant oder Assessor die Taschen
zu füllen."

„Jch möchte blotz wissen, wie du äuf die Jdee kommst,
Vater?"

„Ra — deshalb hat dich die Tante doch nur eingeladen —
zum Männerfang! Und Papachen karm Nachher blechen. Aber
ich kann dir keine Mtgist geben — rricht mal 'ne Äus-
steuer, wo jetzt die Landwirtschaft fo> auf'm Hund is! Und
shne Mitgift nimmt bich ja doch keiner. Ueberhaupt branche
ich dich viel zu nötig; rch kann dich hier gar nicht entbehren —
sür die Wirtschast und dre Milchkammer. — Jch bin ein alter
Mann, du bist meine einzige Stütze; und es ist einfach deine
berdammte Pflicht und Sch'uldigkeit, bei mir zu bleiüen, bis
ich mal tot bin . . . Und es geht dir ja auch so gnt hier . . .
Was brauchst du zu 'heiraten."

Die letztcn Worte rief er der Abgehenden Nach, die ihn
nnr mit einem ernsteni Blick streifte und wortlos das Zimmer
verließ. Der Gntsbesitzer brummelte noch etwas vor sich hin;
dann blickte er sich vorsichtig nm und unterzog die alte, schäbige
Reisctasche, die auf dcm Tisch stcmd, einer genanen Unter-
suchnng.

Zuerst die Düte mit den Semmeln. Das war doch wirklich
eine nnerhörtc Verschwendung: die Brötchen waren singerdick

heim (HeLdesheim) und Karlsruhe (Friedrichsthal und
Spöck. Das größte mit Tabak bepflanzte Geläude hat
Heddesheim.mit seineu Kolonien (16 361,76 Ar); es
folgen Altenheim(15 943,28 Ar), Ladenburg (15 587,16
Ar) und Jchenheim (14 309,93 Ar). Jm Bezirk Lahr
beträgt die mit Tabak bebaute Fläche 77 320,30 Ar.

'it«»»»»»»»>0»»«!»»Ik!>I>I!>>,!,,....

Zur Irage

des Mßstandes in den Wolksschuken

(Eingesandt.)

II.

Endlich >hat sich ein Bater aufgerafft, öffentlich Klags
zu fühven über lcmgjährige Mißstände, aber er hat übersehen,
zu sagen, woran es fehlt, um Abhilse zu schaffen. Es fehlt an
Lehrzimmern und cm Lehrpersonäl, nm seine Wünsche zu be-
friedigen.

Er hat aber anch vergessen, >üaß anßer den Kleinsten, den
Erstklässein, «uch iwch die Drittklässer in sehr verkehrter Weise
ihren Ünterricht empfangen, ebenfalls wegen Lehrermangel,
wegen Sparsamkeit am Personaletat der Volksschule. Da die
Schüler des dritten Schuljahres je zwei Klassen von einem
Lehrer oder eine Lehrerin unterrichtet werden, haben diese
zum Teil nur vormittags, zum andeven Teil nur nachmittags
llnterricht. Der schlimmste Zustand ist aber thatsächlich
bei den Kleinsten, bei den Schülern des ersten Schuljahres, die
auch im gmizen Winter teilweise von halb 4 bis 5 llhr Unter-
richt haben, also ber Lampenlicht uNd dcmn nach 5 Uhr im
winterlichen Wetter zum Teil ihren weiten 'Weg heimwärts
machen müssen.

Wer je um diese Zeit am Schnlhaus 2 in der Plöck oder
am Schulhaus 3 bei schlechtem Winterwetter vorbei kam, mußte
Mitleid mit den armen Klemen haben, die nnn in der Nacht
heimgingen, aber er mußte sich auch fragen, ist denn der
Rektor nicht in der Lage, hier Aenderung zn schaffen, ist denn
die Schulkommission gar nicht über die Mißstände unterrichtet
oder wissen beide Stellen den Uebelstcmd nicht zn würdigen?
Daß er trotz Lehrer- und Lehrerinnenmangel zu beseitigen
wäre, ist mißer Frage, aber es wäre auch dringend nötig,
«endlich so viel Lehrkräfte anzustellen, daß weder die Mitzstände
bei den ersten Klassen noch bei >den driUen Klassen zu dauern-
der Emrichtung werden.

Ein Kinder- und Menschenfreund, wenn auch kein Vater eines
Erst- oder Drittklässers.

III.

Das „Emgescmdt" in der „Heidelberger Zeitung" vom
24. ds. über die Zustände in unserer Volksschule, besoniders in
den unteren Klassen, giebt mir Anlaß, auf noch einen meines
Erachtens ' großen Uebelstand hinzuweisen. Die kleinen Schü-
ler der ersten Klasse nämlich, welche täglich bon 10—12 und
von balb 4 bis 5 Uhr in d-er Schule sitzen müssen, erhalten
täglich Hausanfgaben, zu denen sie, wenn sie gewissenhaft sein
wollen, mindestens eine Stunde brauchen; sie haben beide
Seiten der Tafel voll zu schreiben und sollen sich überdies
im Lesen üben. Darauf rechnen, datz die Kinder es eben
nicht so gewissenhaft machen werden, wird doch gewiß die
Schule nicht, und es wäre auch ein pädagogischer Schaden,
wemi es mit der Pflichterfüllung nicht streng genommen wevüen
sollte. Aber wozu diese Last von Pfltchten? Hansaufgaben
für kleine Kinder haben einen Beschäftigungswert bei Privat-
unterricht, >der 3 bis 4 Stunden wöchentlich umfaßt, aber
hier? Und eine Erhöhnng der Leistungen braucht wahrlich
nicht angestrebt zu werden, denn die Kinder lernen in der
Schule reichlich genug. Wann soll ein Kind, das um halb 6
Uhr abends nach Hause kommt und um halb 10 Uhr des mor-
gens wieder zur Schule anfbrechen muß, diese Aufgaben ma-
chen? Soll es überhaupt gar nicht spielen, gar keine Freiheit
haben?

Es wäre ein Glück, werm dcr Wandel geschaffen würde!

Eine Mutter für vrele.

Geschüftlichss.

Wie uns der Generalagent I. Stürmer, Straßburg 1. E„
mitteilt, fiel der Haupttreffer von Mk. 20 000 der letzten
Jnvalid. Geld-Lotterie nach Weinheim und der zweite Treffer
von Mk. 0000 nach Rastatt i. B. Beide Gewinnbeträge sind
bereits präsentiert nNd bei Ansicht dieses in Händen der frohen
Gewinner. — Um zu ähnlichem Glücke zu gelangen, bietet sich
in allernächsterZeit Gelegenheit bei der Bad. Iubiläums-
l ot t e r i e, deren Zishung schon am 3. und 4. Oktober
1902 sicher stattfindet.

Besonders beachtenswert ist die Lotterie deshalb, weil die
Hälfte der Einnahmen zu Gewinnen verwendet Ivird und 7000
bare Geldgewinne hat, welche ohne jeden Abzug znr Uuszahlung
gelcmgen. Da der Vorrat beiränmt, beeile man sich mit dem
Lofe-Einkauf. Lose zu je 1 Mark, 11 Lose 10 Mark, Porto
nnd Liste 25 Pfennig extra, sind sölange der Vorrat reicht
zu haben bei I. Stürmer, Straßburg i. E„ Langestrahe 107,
und in allen durch Plakate und Prospekte kenntlichen Ver-
kaufsstellen.

mit Butter bestrichen un>d auf beideN Seiten dick mit Wurst und !
Schinken bepackt. Seine Kinder waren die geborenen Ver-
schwender. Das hatten ste von der Mutter.

Dann sehte er seine Untersuchnng fort. Unter allerlei
Kleinigkeiten, die eine junge Dame sür absolut nötig auf der
Reise Hält, fand er ein umfangreiches Packet mtt drei dicken,
selbstgemachten Würsten und einer geräucherten Gänsebrnst.

Ein Geschenk für die Tante. Und Lisbeth hatte thm nichts
davon gefagt! Zwei Würste nnd die Gänsebrust thaten es wohl
auch. Er nahm die dritte mit einem schadenfrohen Lächeln
heraus, wickelte das Papier wieder zu und versteckte seine
Beute sorgsam im Ligueurschränkchen, zu dem er den Schlüssel
bei sich trug.

Nachdem er die Spuren seiner Thätigkeii sorgsam verwischt,
nwhm er seine unterbrochene Zimmerpromenade von neuem
auf, nachdenkend, rauchend und vor sich hinbrummelnd, wie
es seine Gewohnheit war, wenn ihn etwas lebhaft interessierte.

Da war nun nichts mehr zn machen. Er hatte der ost
wiederholten nn'd' eindringlichen Einladnng Lisbeths durch
die Schwägerin nnd den Schwager leider zugestimmt, und
nnn konnte er nicht mehr gut zurück.

Ja, wenn nnr ein Ersatz für sie da wäre, dann könnte
sie feinetwegen noch länger fortbleiben, da er ja weiter keine
Kosten dadurch hatte. Mer es tvar ja kein Verlas; mehr auf
die Dienstboten. Die Mädchen werden ihn derweil schön be-
stehlen.

Die Köchin wivd mehr anfschreiben nnd noch schlechter
kochen und Micken wird ihn bei der Butter, den Eiern nnd
der Milch bemogeln. Dies Volk stahl ja an allen Ecken und
Cnden; und er konnte doch nicht überall zugleich sein.

Was für eine ansgezeichnete „Mamsell" und Wirtschafterin
seine Tochter war, das wnrde ihm jetzt ersi klar. Denn na-
türlich hatte er stch eins solche Ausgabe geschenkt, seitdem sie
deren Stellc Vertveten konnte — biel besser übrigens als ihre
verstorbene Mntter, der immer die städtische Herknnft cmzu-
merken war. Lisbeth dagegen war ein echtes Landkind.

Kleine Zeitunst.

— Berlin, 22. Sept. Ilnglückliche Liebe soll einen dec
ehemaligen Darmstädter Sieben, Patrik Huber, in den
Tod getrieben haben. Huber stand, wie der „Berl. Lok.-
Anz." berichtet, kurz vor der Verlobnng mit einer Dame
seiner Heimatstadt Mainz. Die Verlobung ging indessen
zurück und die Dame verlobte sich mit dem besten Freuüde
Hubers. Dieser snchte Huber in Charlottenburg in sei-
ner Wohnnng aus, nm ihm die Mitteilung von seinec
Verlobnng zu überbringen. Es kam zu einer erregten
Auseinandersetzung, die zur Folge hatte, daß Huber kurze
Zeit, nachdem ihn der frühere Freund verlassen hatte,
sich mit einem Revolver erschoß. Ein im selben Hause
wohnender Arzt konnte nur noch den bereits eingetretenen
Tod feststellen. Die Leiche des ungtücktichen jungen
Künstlers wucke vorläufig nach dem Eharlottenburgec
Schauhause geschafst. Nach einer Darstellnng des
„Tageblattes" ist der tötliche Schuß gleich gefaAen, nach-
dem der Frennd dic Thüre hinter sich zugemacht hatte,
so daß dieser noch, schnell wieder eintretend, Huber mit
dem Tode ringend anf dem FußboLen liegen sah.

— Ans Schlcsien, 21. Sept. Nach neueren Meldun-
gen ist es nicht zu erwarten, daß die Frage des Anschlusses
der neuen Warschan-Kalischer Bahn an das preußische Ei-
senbahnnetz bei Ostrowo bis zum Zeitpunkte der Eröff-
nnng der neuen russischen Bahn, die Mitte Novembec
dieses Jahres erfolgen soll, entschieden sein wird. Man
muß es im Jnteresse des allgemeinen Verk'ehrs sehr be-
dauern, daß bis zur endgiltigen Entscheidung der Ange-
legenheit noch viet kostbare Zeit verstreichen wick. Rutz-
laüd besteht aber nach wie vor darauf, daß der gesamts
Güterumschtag anf russischem Gebiet bei Kalisch zu erfol-
gen habe. Die Bedeutung des neuen Grenzüberganges
Ostrowo (bezw. Skalmierzyce) Kalisch kann so leicht nicht
überschätzt werden. Die Verbindnng Berlin-Warschau
erfährt zwar durch den neuen Grenzübergang eine Ab-
kürzung um nnr 6 Ktlometer, während die Abkürzung
für Dresden 52 nnd für Leipzig, Halle, Köln, Frankfurt
a. M. u. s. w. 45 Kilometer beträgt; die hauptsächliche
Bedeutung der neuen Bahn besteht aber Larin, daß die
an ihr gelcgene mächtig aufblühende Jndustriestadt Lodz,
die größte Jndustriesta>dt Rnßlands, durch sie eine direkte
Verbindnng mit Deutschlan'd erhält. Lodz ist die sünft-
größte Städt Rußlandtz, sie zählt heute über 400 000
Einwohner. Dabei sind 35 Prozent der Einwohnec
Deutsche. Msher konnte Lodz nur aus dem Umwege übec
Warschau erreicht wecken. Nach Eröffnung der War-
schau-Kalischer Bahn und nach Herstellung des Eisenbahn-
Grenzüberganges Kalisch-Ostrowo erfährt aber die Eisen-
bahnverbindung von Lodz mit Berlin und dadurch mit
Hamburg, Bremen, Magdeburg u. s. w. eine Abkürzung
von 146 Kilometer nnd die mit Leipzig, Halle, Frank-
furt a. M„ Köln u. s. w. eine Abkürzung von 186
Kilometer.

— Ein pfiffiger Londoner Droschkenkntscher wurde
Ende voriger Woche in der Londoner Vorstadt Dalston
der Anstister zu einem gswastigen Straßenauflaus, wie
ihn eben nur die Sechsmillionenstadt kennt. 'Er wartete
vor dem Dalston Jnnction Bahnhofe, als ihn einer seinec
Kollegen im Gespräche fragte, wer denn sein Fahrgast
sei. Mit einem selbstbewußten Lächeln antwortete dec
„Cabby": „Kein Geringerer als der neue Messias Pi-
gott". Das Wort sprach sich herum nnd im Handumdrehett
hatte sich um den Wagensührer ein Kreis gebildet, der ihn
neugierig mit Fragen bestürnste. Das Schweigen des
Mannes wachte die Menge, die allmählich zu Hnnderten
anwuchs, nur noch neugieriger. Bald bildeten sich erregte
Gruppen, die über die Sekte der Agapemoniten und ihrec
Führer eifrig hin und her diskutierten. Jnnerhalb einec
Viertelstunde war die Volksmenge auf einige Tausend an-
gewachsen, und kaum war die erste halbe Sstmde ver-
ronnen, da war die Bahnhofshalle und die umliegenden
Straßen überfüllt. Der Verkehr auf der Station mußte
eingestellt nnd die Thore derselben geschlossen werden.
Die herbeigerufene Polizei vermochte schließlich die Bahn-
hofshalle zn säubern, was ihr indessen auf den Straßeü
nicht so leicht gelang. Volle zwei Stunden vergingen und
ein starkes Polizeiaufgebot aus den naheliegenden Re-
vieren mußte herbeigezogen werden, ehe die Menschen-
massen zerstrent nnd der Verkehr wieder durchgeführt
wucke. Einige Spaßvögel aus der Menge suchten sich da-
durch zu unterhalten, daß sie zuweilen schrien: „Hioc
kommt er! Wtr haben ihn!" „Schlagt ihn tot, den Got-
teslästerer!" was von anderer Seite stets eine starke
Strömung nach jener Stelle hin zur Folge hatte. Dabei

Aber wie würde sie ihm aus Berlin zurückkommeu, wenN
sie die Geuüsse und Wunder der Weltstccdt kennen gelerrü-
Und tvenn sie nnn gcrr nicht wiederkam oder als Berlobte, uiN
ihm bald wieder davon zu flattern?

Aber zum Heiraten bedurste sie schließlich seiner Einwilli^
gung. Und die gab er einfach nicht. Und überhaupt —, er
atmete leichter auf — wer nahm derm heutzrckage ein Mäd^
chen ohne Geld und Anssteuer? Lächerlich!

Hatte das nicht schon wie eme nnsichtbare Mauer alü
jungen Herren der Umgegend ferngehalten I Denn natürliai
hatte er es urbi et orbi verkündet, daß sie nicht einen Groschesr
mitbekämc. Nur einer hatte den Mut gehabt, um sie cmzuhast
ten. Aber aus dem hatte sie sich zum Glück nichts gemacht.

Fh, Gott bewahre, er hatte sein Kind nicht mühsam grov
gezogen, damit irgend ein leichtsinnrger Habenichts erst di^
Mitgist verpuhte und ihm nachher auf der Tasche lag. Eisi^
Schraube ohne Ettde! Er hatte genug Beispiele gesehen.
sparten und arbeiteten ja heutzutage nicht mehr, die jungeü
Leute.

Wo konnte es denn seine Tochter besser haben, als hier»
So ohne Sorgen. Das bischen Arbeit war nicht der Redr
wert. Als Gutsfrau und Familienmutter würde sie sich isist
mehr guälen müssen. .

Und wenn er mal tot war, darm konnten Fritz und LisbeK'
die natürlich miterben würde, ganz behaglich hier weiterlebel''
Schon >des Jungen wegen war es ihm lieb, wenn sie lsi^
bliebe und nach dem Rechten sähe. Der Funge — dn liebt'
Gott, so em Träumer und Thunichtgutl ,

Ein Glück, dcrß er so gut für seine Kinder sorgte.
schalten ihn geizig — aber den Teufel cmch, dafür würdtsl
sie eines' Tages ein schönes Vermögen erben. Das wollte doo
etwas heißen, wo heutzutage die Landwirtschaft so heruiü>st
war. Aber das durste um Gotteswillen kemer wissen, dev"
sonst .... Jedenfalls sorgte er cmf seine Weise als
wissenhafter Bater fiir sie.

(Fortsetzimg folgt.)
 
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