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Badische Post: Heidelberger Zeitung (gegr. 1858) u. Handelsblatt — 1923 (Januar bis Juni)

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Nr. 149 - 178 (1. Juni 1923 - 30. Juni 1923)
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https://doi.org/10.11588/diglit.15611#1025

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66. Zahrgang Ar. 16S

Dt« .Badt sche Poft' krscheint wöchentl stebenma!. Detlaaen: S'daskaN a kSonnt-1 —

«nterhaltnugsblatt sMontagss - Litrratnrblatt —vochsihu! beilag« <m o n atl i chs.
Unverlanate BettrSge ohne Verantwortung. Rücksendung nur, wenn Porto betltegt.

Heidelberger Zeitung

(Gegründet 1868)

«nd

LandelsblaLt

Sonntag, den 17. Zuni 1923.

Hauptgeschästsftelle w Schriftleitg. Ler.Badtschen Post" Hetdelberg, Hauvtstr. 23, Fsrnkor.

Nr. 182 Berliner V-rtretung: Berlin sv 48. Zimmerftraße 9, Fernspr. Zentr. 4tS
MLnchner Bertretung: Mtlnchen, «eorgenstr. 1l>7, Fernspr. S16S7.


WoMch«ck-»o«1o r Sranksurt a. M. V111V

Wostscheck-«o»t»l Sra«kfurt ». M.

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kompromiß aus Kosten DeuWands.

EnglanL sucht Lie Verständigung nrit Franlreich.

Von unselem -K o rr e sp o nd e n t c n.

London, 16. Iuni.

In unterrichteten Kreisen verlautet, die veraniwortlichen Ber.
n er Stellen hätten in London >die Befürchtung ausgedrückt,
das Evgelmis der franzöjisch-englischen Verhandlungen schließ-
Lazu führen würde, von Deutschland eine kaum ver-
?ullte Kapitulation zu verlangen, wodurch eine
^Nnerdeutfche Krife kaum zu vermeiden sein würde. Es ist
chNlicherweise aus diese Vorstellungen zurllckzusührsn, wenN der ofsi-
ö>ose ,D>aily Telegraph" heute abermals die Stellungnahme
^nglands klarzulegen versucht, doch geschieht Lies nicht ohne
?shsbliche Widersprüche. Auf der einen Seite wird sestgestellt, Latz
-??e französische Aufsassung natürlich nicht ernst zu nehmen sei, wonach
«nglische Negierung der sranzösischen Forderung nach Einstellung
7^s passiven Widersiandes sich anschlietzen könnte, ohne sich damit
Nsleich mit»der französischen Nuhrpolitik zu identifiziereN, was für
Mgland Mnz unmöglich sei. Aber am Schlusse des Artikels findet
nch die solgende Bemertung: Was die Unterbrechung (?) des
Msiven Wi-derstandes anbelangt, so glanben wir, Latz, soweit Ber-
v>n in Frage kommt, dieser Punkt keine grotzen Schwierigkeiten
»iach«n wür:e (?), wenn Deutschland einen noch so kleinen Vorteil
Malten würde, mit dem dis deutische Rcgierung ihre veränderte
^aitung rechtfertigen künnte. Aber wenn eine vollständige und ab-
Mut« Üebergab« verlangt würde, scheint es keinen Ausweg zu geben,
aenn keine deutsch« Regierung, die dies vorschlagen würds, könnte
^Uch nur noch einen Tag lang weiterleben.

Fm ganzen sind die Aussührungen des Blattes vom deutschen

^Ur dur'ch ein« kaum sichtbare Einschränkung von
^ner vollkommenen Kapitulation unterscheiden
erde n. Wenn L-ie englisch« Regierung und Diplomatie Lie Mög-
Meit einer Verständigung mit Frankreich sieht, die unter englifchem
Uichtspunkte annehmbar erscheint, so ist sogar d-a-m-it zu rechnen,
sie stch sehr ungehalten zeigen würde, wenn dieser Verständ'igung
Ai Verlin irgenLwelche Schwierigleiten in den Weg gelegt werden
i/Urdsn. Der politische Mitarbeiter des genannten enalischen Blattes
l^icht denn auch bereits von der Möglichkeit, datz England ge-
x^benenfalls in Berlin verschiedene Vorstellungen er'
?°ben werde. Jm tüanzen Lewegt stch d>ie Lntwicklung also,
s lveit sich von hier aus erkennen lätzt, in der Richtung eines
^anzösisch-englischen Kompromisses auf Kosten
^ ^ u t s ch l a n d s.

!» , Für die Strömungen innerhalb d-es englischen Kabinetts ist eine
tzEde bezeichnend, die d-er Kriegsminister Lord Derby gestern in
^ndon 'hielt. Derby sührte aus, es sei sein entschiedener
^unsch, datz Frankreich und England im Frieden
x?^nso z u s a m m e n a r b e i t e n, wie sie ries im Kriege taten,
L^i.n allein liege die Sicherheit der Welt (?) unddes
silicd « ns. Er habe deshalb die bestimmte Hossnung, datz sich aus
y,., gegewwärtigen Derhältnissen eine gemeinsame Lö-sung
^Flankreich finden lassen werde, obgleich infolge der Un-
i^sii'chkeit (!) Deutschland-s das Problem heut« schwicriger zu lösen
>, <Us bet der Unterzeichnung Les DeiLragss. Dennoch sei er über-
datz d-urch die notwendige Festigkeit, anf die man in diescm
y,7oe naiürlich nicht verzichten dürfe, England und Fiankreich ze-
z ^usam die Mittel sinden würden, um Deutschlandzahlend

ui a ch « n.

Dlr velglsche Knse.

Schwere Besorgnisse für das Fortbestehen der Entente.
Vonunjerem 8--Korrejpondenten.

Paris, 16. Juni.

Dj« aus BrLssel heute morgen vorliegeneen Meldungen
M erlennen, datz oas englische Memorandum der 5el-
Hen Regierung wenigstens lis heute vormittag nach nicht znr
tz?Untnis geiommen ist. An'dererseits hat Poincare die drei
^Sen Lord EurzonsZaspar mitteilen lassen, elenso di« Ant?
tzib er Larauf selbst vorschläg-t. Poincar« hosift, datz über die
. ersten Fragen eine g-emeinsame b e l g i s ch - f ra n z ös i s ch e
^tzsE^ort zusiande lommen weroe, die ürrtte Frage, die sich nur
?>« sranzchijche Reparat.onspolitik bezieht, wivü natürlich von
.«n nicht beantwortet wevden. Theunis und Iaspar hwlen
tzrH,Akitteilungen Poincares zusammen mit offiziellen Krei'sen g-e-
doch wirö darüber noch das grötzte Still-schweigen beivahct.
to» P^kaUn" schreibt heute morgen razu, datz nur ein Veroleiben
-Theunis unö Ja-siar an Ler Spitze der 3rezlerung für Belgien
bjiW' unüberwind-lichen Schwierigkeiren vermeiden lietze. Die bel-
Regierungskrise sei für die Entente von
^ roiüentlicher Bedeutung, und alle wahren Freunde
^K^Us könnten ihre schweren Nesorgnisse kaum vevbergen.
sezo,si.etwa insolg« Ler inneren Schwierigkeiten jctzt in Belgien eine
ikz^itischc Reg.crung ans Ruder lommcn, so würde dies das End«
Zusammenarbeit mit Frankreich bedeuien, ja
Ende Ler Entente, un-d es wllrde einen vollkommenen
^ujchwung für Belgien in seiner Stellung in
^.v.pa mir sich bringen. Es müsse Laher alles versucht werden,
Wes Unheil zu vermeiden, unL die einzige Hosfnung dasür sei,
. si-Üeun:s und Jaspar im Amte blejLen.

^ nüMinein nimml man an, tatz die Krise, w!« bereits gemeldet,
Einig« Tag« hinziehen dürfte. Jygendwetche bestimmte Vor-
mleu dajür j<hou heuke zu machen, ist natürlich nnmöglich.


Bomöenattentat auf einen Zug.

^i^^nz, i5. Juni. Donnerstag abend ist bei B u d e n h e i m am

iüietr» il ?> ....

?>iik den V-Zug Paris—Wiesbaden, dsr um 9-15 Uhr Binger-
Richtung Mainz verlätzt, ein Bombenattentat verübt
chi«sj Ein Soldat soll getötet sein. Eine Reiye von Passagieren
oder weniger schwere Verletzunaen Vier Per-
'r tzp!„churden unter dem Verdacht der Tätcrschaft verhaftet.
>«sun-sorgane haben insolgedessen jeden Verkehr aus dem

Abschnitt an d^r Dahnlinie Budenheim—Heidesheim verboten.
Die dort aufgestellten Wachen haben Befehl erhalten, bei Nichtbefol-
gung einmaligen Anrufes von de,r Wafse Eebrauch zu
m a ch e n.

Aus dem Sinbruch-geblet.

Neue Besetzung von Vahnhöfe«. — Die Franzose» wollen die
Hongersnot.

Münster, 16. Juni.

Auher den Dortmunder Bahnhösen Lesetzten die Franzosen
heute morgen -d-ie Bahnhöfe Langendreer, Gelsen-
kirchen sowie Len NotbahuhofHerne, sämtliche Bochumer
Vahnhöfe und den Vahnhof Hörd«. Der Personen- und Eüter-
verlehr auf den Strecken ruht. Di« Milchversorgung der Städte
über Dortmund hinaus ist infolgedessen sehr erschwert. Jn Boch-im
ist der Bochumer Verein nunmehr voll-kommen ahgesperrt. Auch der
Bahnhof Kray Nord wurd« morgens besetzt. Der Personen- und
GlltevLahnhof Bommern ist von den Franzosen g-eräumt worden.
Von Len an der Strecke Berge—Borbeck—Wanne gelegenen Stationen
sind sämtliche Eiisenbahnbeamten ausgewiesen. — Die in den letzten
Tagen und gestern hier eingegangenen Nachrichten aus Lem Ein-
bruchsgebiet lassen einen zunehmenden Druck der sranzösischen
Besatzung gegen die Bevölkcrung einerseits unter dvm Vorwand von
Sanktionen für angebliche Anschläge gegen franzosische Besatzungs-
angehörige in Dortmund, Recklinghausen und Herne durch strenge
Verkehrs-sperren und verschärft« Patzkontrolle und andererseits durch
die Heraufbeschwörung von Schwierigkeiten in der
Zufuhr von LebensmittelN infolg« der heutigen Massen-
besetzung von Bahnchösen zwischen Dortmund und Bochu-m erkennen.
Datz in der Unterbindnng der Lebensmittelzufuhr französischerseits
System liegt, erhellt sich aus den Aeutzerungen des Ortskomman-
danten von Herne, der auf die eintreteNde Hungersnot Hin»
gewtesen hat und ausdrücklich erklärt«, das wolle er gerade.

In Recklinghanstn ist der „Volksfreund", das Organ der S. P. D-,
auf acht Tage verboten worden. — Heute nachmittag fand in Reck-
linghausen di« Beerdigung -des evschossenen Kaufmanns Müller
statt. Zwi-schenfälle ereigneten stch n-icht. — Jn Bochum findet neuer-
d-ings wieder eine äutzer« scharfe Kontrolle au-f den Stratzen statt.
Zurzeit werden auch Personen, die ohne sranzöüsches Patzvisum aus
i-hven Ausweisen angetrofsen werden, angehalten und ein-
gesperrt. Die bisher polizeilich tätige Feuerwehr i-st von
d-en Franzofen auig-elöst und entwasfnet. worden. Polizi 7?ar
Selzer wurde ausgewiesen. Im städti-schen Eefnnonis -keschlagnahm-
ten die Franzosen 36 Karabiner, di« zur Bewachung der Eesangenen
Lestimmt waren, und d-ie die interallüsrte Kommi-sfton seiner'est g«.
nehmigt hatte. Bei der heute nacht erfolgten Bestcht-igung des
städti-schen Easmerls wurde der 60 Iahre alte Wächler verhastet.

Ludwigshafen a. Nh., 16. Juni. Wie mitgeteilt wird, ü-ben die
Franzosen neuerdings^ einen Druck aus di« bisher noch gebliebenen
Bahnhofswirte aus, um sie zum Ab-schlutz von Pachtverträg-m
mit der franMsch-belgi-schen Eisenbahnregie zu zw.ngen; sie erklären
den Leuten, datz si-e widrigenfalls Ausweisung und Be-schlagnahme
i-hres Eigentums zu erwarten HLtten.

Paris, 16. Juni. Eine Verfüzung des Eenerals Degoutt« ver-
hängt die Blockad« Lber Rohprodukte. Halbfabri-
kate und chemische Erzeugnisse derjcnigen Firmen und
Gesellschasten, die im besetzten Gebiet Kohlen-gruben haben und mit
Ler Bez-cchlung d«r Kohlensteuer im Rückstand stnd. Die Le-
zeichneten Produkte dürsen die Fabrik nur mit einem besondsren
Erlau-bnisschein der interalliierten Jndustriekontrollkommission ver^
lassen.

Paris, 16. Iuni. Die RheinlanLkommission hai vom 6. bis
11. Iuni 685 Eisenbahnangestellte und 65 Veamt« aus
dem besetzten Eebiet ausgewi-esen.

Sranzöslsche „Rechtspslege".

Nur die augeklagten Franzose» werden angehört.

Eigene Drahtmeldung.

Krefeld, 16. Juni.

Ein neuer schlagender Beweis dafür, wie im besetzten Eebiet
die Rechtspflege von seiten der Franzosen gehandhabt wird, ist fol-
gender Vorfall: Die deutschen Behörden hatten der sranzösischen Be-
satzungsbehörde sechs Fälle von Angriffen farbiger
Truppenauf deutsche Frauen gemeldet und die strenge
Bestrafung dcr Soldaten gefordert- Die Besatzungsbehörd« aber
antwortete, die Untersuchung aller dieser Fälle habe ergeben, datz
die Beschuldigungen der farbigen Truppen in allen Fällen haltlos
und datz ste lediglich aus böswilliger Absicht erhoben wor-
den seien, um den Truppen zu schaden. Die weitere Untersuchung
der deutschen Behörden hat jetzt ergeben, datz überhaupt keine
einzige von allcn sechs Frauen und auch keiner der in der
Anzeige mit voller Adresse genannten deutschen Zeugen in der
Angelegenheit befragt worden ist.

Wir stehen also hier vor der in der Rechtspflege schier unglaub-
lichen Tatsache, datz nur die Angeklagten, die natürlich bestrebt sind,
ihre Schuld zu leugnen, über ihr Vergehen Lefragt worden sind,
aber nicht die Ankläger und auch nicht die Zeugen. Natürlich haben
sich die deutschen Behörden bei einer solchen Antwort nicht beruhigt,
sondern unter Beisügung der an Eidesstatt gemachten Aussagen der
deutschen Frauen wie auch der deutschen Augenzeugen weitere
Schritte getan, um die Beftrafung der Schuldigen herbeizuführen.

Paris, 16. Juni. Wie d-as „Echo de Paris" aus Mainz berichtet,
hat der vom Kriegsgericht in Mainz zum Tode verurteilte deutsche
Landwirtschaftslehrer Eörges gegen d-as Urteil Revi»
sioneingelegt.

Auswärtige polilik.

Die Kabinettskrise i« Belgien. — Belgien und Deutschland. — Eng»
land iu seiner tiessten Crniedrigung. — Sein Kriechen vor de«

franzöfische» Militarismus. — Die Vorgänge i» Bulgarie».

Das deutsche Memorandum bewährt sich als heftiger
Eärungsstoff im Leib der Entente. Jn Paris herrscht Unruhe. Man
fühlt, datz eine grotze Entscheidung bevorsteht, die für das gesamte
zukünftige englisch-französtsche Verhältnis von höchster Bedeutung
werden kann. Poincars lätzt es nach seiner Manier auf Biegen
oder Brechen ankommen und er hofst, datz wie immer auch diesmal
wieder in London der jchwächere politische Willen matzgebend seio,
wirb. Es ist merkwürdig, wie steif und stierköpsig und vollkomme«
unelaftisch die Politik dieses Hochstaplers ist, dcr den Freunden
Frankreichs in den Ententeländern das Märchen von der armen, Le-
drohten Marianne unentwegt weitererzählt und Frankreich als den
Hort des Friedens hinstellt. Jn der Tat: das ctnzige echte Kenn-
zeichen des Siegers, über das Poincars verfügt, ist die Dumm-
heit, und kraft dieser Eabe untergräbt er Lie Position seines Lan-
des mit einer Leidenschast, die man scharfsinnig nennen könnte, wen»
sie nicht das Eegenteil wäre, was ihm die Anerkennung aller Feinde
Frankreichs eingetragen hat. An sich ist es freilich selbstverständlich,
datz der augenblickliche Zustand der politischen Machtverteilung m
Europa nicht von Dauer sein kann.

Jmmerhin darf ein so rüstiger Arbeiter am Umsturz der bs-
stchenden unmöglichen Verhältnisse des Dankes aller jicher sein, die
nür von einsm solchen Umsturz Las Heil erwarten.

Die Kabinettskrise in Belgien im jetzigen Augen»
blick wird in Paris natürlich nicht als eine Stärkung Poincarss
empfunden Nach autzen hin wird der Rllcktritt des Kabinetts mit
den Schwierigkeiten der Flamenfrage begründet. ALer die Tatsache,
datz in der autzerordentlichen a u tz e n politischen Spannung ei«
Kabinett überhaupt aus innerpolitischen Erünven stürzen kann,
ist ein deutliches Zeichen dafür, datz die Position dieses Kabinetts
nicht stark ist und datz man seine auswärtige Polttik nicht für glück-
lich hielt. Poincarö jedenfalls ist aller innerpolitischen Schwierig»
keiten bisher d-urch seine Autzenpolitik Meister geworden, und das
Wort „sauver xar I» Uulir" ist kennzeichnend für seine gesamte
Situation, wenigstens vorläufig noch. Wenn in Velgien die R: l-
sicht auf die auswärtige Politik sich nicht als stark genug erweisi,
die innerpolitischen Differenzen zu überwinden, so hat man i»
Paris allerdings allen Anlatz, unruhig zu werden.

Jn der Tat sieht sich der Ruhreinbruch vom belgischen
.Standpunkt aus erheblich anders an als vom französischsn. Bel-
gien ist ein kleiner Staat, der aber eine bedeutende Jndustriemacht
hat, deren Jnteressen zugleich im Handel und in der Durchfuhr lie-
gen, ist im stärksten Matz auf ein wirtschaftliches Blllhen Deutsch-
lands an-gewiesen. Der Handel in Antwerpen verdorrt, wenn
Deutschland vcrdorrt. Der Verkehr auf der Schelde geht mit dem
auf Rhein und Ruhr zugrunde. Dazu kommt, datz durch den Raub
von Elsatz-Lothringen auch der Warenverkehr von Belgien her stch
völlig vsrschoben hat, stch auf ein Mindestmatz gesenkt hat. Belgien
ist völlig von Frankreich ein-geschlossen, und je klarer geworden ist,
datz der französische Plan nicht nur auf Annexion des gesamien lin-
ken Rheinufers von Basel bis Emmerich, sondern auch auf dauernds
Festsetzung auf dem rechten Rheinufer und die VerwanLlung des
Ruhrgebiekes in eine französische Jndustrieprovinz hinausgeht, desto
näher kommt die Stunde, wo Belgien sich fragen mutz: Was wird
dabei aus mir? Der Abschlutz einer Militärkonvention mit Frank-
reich ist schlietzlich nur das äutzerliche Anzeichcn für die völlig«
Vasallenstellung, die das kleine Land seinem annexionstollen Nach-
barn gegenüber einnimmt, der, solange Lelgien Lesteht, noch keins
Regierung gehabt hat, In dersn Programm die Annexion Belgiens
nicht einen wesentlichen Punkt gebildet hätte.

Die starke Stellung, die Frankreich im übrigcn seit dieser Kon-
vention einnimmt, kann schlietzlich nicht ohne Vmwirkung auf Eng-
land bleibcn. Jn der Tat ist durch sie die Erundlage der engli-
schen Weltstellung erschüttert. Niemals hat England es geschehen
lassen, datz sich ihm gegenüber im Gebiet der Rheinmündung ein«
starke Militärmacht festsetzte, und im 19 Jahrhundert formulierte
man dies englische Interesse dahin, datz die englische Erenze nicht
an der englischen Küste, sondern an der Erenze Bel-
giens liege. Zum erstenmal in Ler Eeschichte Englands hat es
jetzt mitansehen müssen, datz stch in Brüssel und Antwerpen eine
starke Militärmacht, ja die stärkste Militärmacht, die es seit Napo-
leon gegeben hat, die einzige, die es gibt, fest eingenistet hat und
die Lage politisch beherrscht. Diess Tatsache beleuchtet ebenso die
Ohnmacht Englands wie die Allmacht Frankreichs und reiht sich
wllrdig den Schäden an, die die englische Politik nach dem Kriege
unter -der Führung des britischen Reisepredigers Lloyd George ge-
habt hat.

Auf der anderen Seite treten gewisie Anzeichen dafür in Sicht,
datz es in England allmählich Leginnen will, Tag zu werden, und
datz die Epoche der tiefsten Erniedrigung Erotzbritanniens vielleicht
ihrem Ende zugeht. Man hat augenscheinltch den Delgiern nach-
drllcklich die Frage vorgelegt, ob sie sich dauernd in die Botmäßig-
keit Frankreichs begeben und dadurch ein wssentlich englisches Jnter-
esse verletzen wollten. Dieser englische- Druck träfe zusammen mit
der wachsenden Lelgischen Erkeimtnis von den Unrentabilitat des
Raubzuges an der Ruhr, und so beginnen flch etwas die Schrauüen
und Bänder zu lockern, die Belgien vor den Wagen ves französtschen
Militarismus geschmiedet haben. Jn Franlreich kennt man die
Spannung der Situation natürlich sehr aut, ist aber nicht imstande,
sie zu mildern, sondern eher bestrebt,. ihre Lösung zu forcieren. Dar-
auf deuten wenigstens die mit traditioneller Absichtlichkeit aufge-
stellten unmöglichen Forderungen hin, von deren vorheriger Durch-
führüng es jede Besprechung des deutschen Memorandums abhän»tg
machen will. Man hat immer wieder den Eindruck, datz Poincarä
 
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