66. Zahrgang Rr. 172
Di« .Badi Iche Post" krscheint wSchentst sied cn ma I. Pel'a en: Vida»sali a iSoiint.) —
LnterbaltungSblatKMontagr» - Ltteratnrbiatt—Kochichn,Lci>a<;c lin onatNchs.
Unoerlanftt« BeitrSge ohne Derantworiung. Rüil cnLnng nur. wcnn Porlo bcUteg«.
Hekdel-erger Aektung
lGegründet 1858)
«nd
Landelsblatt
vostsch«ch.«o»to: Sranrfurt a. M. vltlll.
Sonntag, ten 24. Zmi 1S2Z
Vostscheck-Kouto t vrankfnrt a. M. 0141V
HanptgeschSstsstelle u. EchriMeitg. der.Badischsn Post" Hetdelberg, Dauvtstr. 33, Fernspr.
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Lnni-Dezugspreis dcr.Bad. Post" MI. k,6U8 — lausschl. Zustsi getühri. Selbftabhol. Mk. K8VV.—. AuSlaud Lik. 1SVVV.—
Abbeftell.werd nur bis zum S. jed.Mrs angcnommcn. Am l «.L.noch geiief.Zeitungen stnd nach d. Eiiizelverraufspreis zu be»
zahlen. PrcisL.EinzeIttUtnmer Mk.80v.-. Lst dieZeitung am Crsch-inen verhinderr,bestchr kein Anspruch aufEntjchüdtgung
A»zeigenvreise:vie44 mm bieite Nonpareillezeile lostet-lokale Ltellengesuch- Mk.SS I -, "l.Delcgenh-ilranzeigenMk LSV.-,
Famili-nanzeig-n Llk 4UV.-. S-schästsanz-igen Mk.bttv -, Finanz- und Industrieanzc-.gcn Mk. 8vv.-,mit Platzvorschrisr unb
MontagsMk.SV.—mehr. Die V8 mm brcite Reklamezetle kostet Mk.3000.—, Anzeigcn uno Reklamen von auswarts 2S"/» höher
Die engUch-smnMchen FSden.
Balsour in Paris. — Ein zweites englisches Memorandum?
Von unserem -K o rr e s p o n d e n t e a
London, 23. Jsni.
Dre gesamte englische Presse, sowoh! die Blätter der Regierung
wie auch die der Opposition, hatten seit einiger Zeit säst volliommen
aufgehört, sich mit dem Ruhrtonflilt und mit den damit zusammeu-
hängenden Fragcn zu beschäftigen. Diese Schweigsamkeu. in der stch
die Unsicherheit und Ratlosigksit der englischen Politik widersp'.egelt,
wird heute lediglich Lurch einen Artikel der „Times unterörochen,
der jedoch auch laum razu beitragen dürste, dcn englischen Standpunlt
fester und klarcr erscheinen zu lassen. Einerseith betonen dte „Times",
datz die einzige Rettung in einer Verständigung zwischen Franlreich
und Englano liegc, und datz die englische Regierung alle nur denk-
baren ZugestänLnisse an Frankreich machen sollte, wenn sich Lamit
»wirklich eine Ausstcht auf eine allgemeine Regelung biete, aus der
' andersn Seite müsse es aber Engtand ablehnen, seine Politik der-
ienigen granlreichs unterzuorünen. Wenn Poincars verlange, datz
! England seinen Einfluß aufbieten solle, um die französtschen Opera-
tionen im Ruhrgebiet zu erleichtern, so miisse klar gcsazt werden,
daß dies außer Frage stehe. Es handle sich daber nicht nur um
woralische, sondern auch um politische Bedenken, Lenn
Franlreich würde aus einer Vesetzung keine wirtschaftlichen Vor-
teile ziehen können. selbst wenn alle Regierungen der Welt die Ein-
stellung des passtven Widerstandes verlangen würden, einschlietzlich
eer dcutschen Rcgierung, die damit eine grotze Gefahr fllr lhre
eigene Existenz Lbernehmen würde. Die Deutschen seien ein geüul-
diges unü diszipliniertes Volk, aber es sei fraglich, wie lange noch
sich die Einheitssront unter der fast unerträglichen wirtschaftlichen
Last werde aufrecht erhalten laffen, und unter diesen Umständen
könne die englische Regierung nicht die schwache und nutzlose Eeste
»lachen, von Deutschland die Einstellung des WiLerstandes zu ver-
langen. Frankreich könne dies selbst tun, indem es erkenne, datz
eine Lösung wirtschaftlicher Probleme durchZwang
riichtnur unmöglich, sondern auch für ganzEuropa
Sefährlich sei. So lange der Ruhrlonflikt nicht beendet ist, sei
eine ernsthafte Diskussion über die Reparationen unmöglich, der
Konflikt lönne aber nur beendet werden. wenn beide Seiten
die Waffen niederlegten. „Deutschland ist zusammengs-
brochen, Frankreich hat es jetzt in der Hanü, die Eeste des Siegers
-lu zeigen."
Soweit die „Times". Wenn die englische Politik keine anderen
Mittel zur Verfügung hat, als den AppeÜ an die franMsche „Erotz-
>Uut", so wird dies den europäischen Konflikt schwerlich lösen können,
arn allerwenigsten ist damit den Intereffen Deutschlands gedient,
»essen Lage durch schöne Worte von englischer Seite nicht gemildsrt
werden känn. Wichtiger scheint, datz nach dem Pariser Berichte des
stlejchen Blattes der Vorsitzende der englischen Handelska>nmern,
«alfour, augenblicklich in Paris wcilt, um mit französtschen
svirtschaftlichen Kreisen eine Verständigung auf der Erundlage der
^stternationalen eimidcl-.fcitniiiei'licsziliHse in Rom kierlieiiiiiiüircn.
Handelskammerbeschlüsse in Rom herbeizuführen.
^alfour hat den Eindruck gewonnen, datz, soweit die französische
^ e s ch äfLswelt in Frage komme, jeder geeigflets Ausweg aus
«rn Schwierigkeiten willkommen wäre.
- Unser 8-Korrespondent drahtet uns ferner aus Paris:
Dke Lage in Paris crscheint allmählich immer konfuser. An Pariser
Mtlicher Stelle schiebt man alle Schuld für die allsetts ale uner-
Mgljch empfundene Verzögerung auf die Lelgische Minifterkrise. Es
Ls für Frankreich gefährlich, so wird betont, anders als im engsten
^invernehmen mit Brllffel irgendwelche entscheidenden Schritts zu
Englanü selbst wird durch Lieso Verschleppungstaktik allem An-
Mine nach auch recht unangenehm berührt. Der englische Dot-
lchafter in Paris stattete am Frsitag Poincars einen längsren
^esuch ab, um ihn zu bitten, die sranzösische Antwort auf den eng-
jstchen Fragebogen baldmöglichst London zukommen zu lassen. Ueber
?'ese Unterreoung wird zwar allgemein strengstes Stillschweigen beo-
?2chtet, so oiel aber steht fest, datz der Botschafter ein Memo-
^ndumseiner Rexierung überreichte, das Poincar 6
Entscheidung drängen will.
Nachrichten über die bevorstehende
ri> Jrgendwelche positiven , . .
-osung üer belgischen Ministerkrise. die von Poin-
als ein höchst willkommener Vorwand seines Zögerns benutzt
ilirü, lediglich um dadurch die Lage in Deutschland zu verschärfe'n,
»,'igen auch jetzt hier noch nicht vor- So oiel aber scheint festzu-
^hen, Latz di« belgische Kammer am Dienstag zusammen-
iketen wird, um weitere Etatsprovisorien zu bewilligen und um
Verlängerung von Zollverträgen zu beschlietzen, ganz unabhängig
^von. ob bis dahin die Minifterkrists gslöst ist oder nicht.
ilm das Saargebjet.
Etue Saardebatte in der sranMschen Kammer.
Don unserem 8.-Korrejponventen.
Paris, 28. Juni.
2» der gestrigen Kammersttzung kam eg zu erner kurzen Debatte
Las Saargebiet. Der rommunistjsche Abgeordnete Tachin
jjR die berüchtigte und jetzt endlich glücklicherweise aufgehobene
i^'verordnung der Saarregierung scharf «n und bezsichnet sie als
vollkommenen Wlderspruch zum Versailler
u^trage stehend. Aber ste sei durchaus nicht die ein-
^8 e Verletzung Les Versailler Vertrages durch die Saarregierung.
>Mei wirklich angebracht, Larüber einmal ausführlich in üer Kam-
h," äu sprechen. Es sei der Wille der Bergarl^iter Les Saargebiets,
lsj)„"che zu bleiben, ebenso wis trotz der Aunexion Elsatz-Lothringens
der Wille Ler Elsatz-LothriNger war, Franzosen zu bleiben.
' .^ngiand, so schlotz Lachin seine Ausfuhrungen, rufe die Haltung
.z sllrejchs !m Saargebiet bereits lebhafte Unruhe heroor. Minister
^Trocquer wutzte darauf nichts anders zu erwidern, als datz
^ /totverordnung berechtigt gdwescn sei. da dte Sireikbewegung im
h>>Vgebiet nur eine rein politische Bewcgung gewesen sel. Dem
^vsprach jedoch Cachin und hob hervor. datz es sich bsj dem Streik
!>,Mine rein soziale Bewegung gehandelt habe. Zu Beginn der
Taardebatte hatte der radikale Abgeordnete Margaine
^insührung der Frankenwährung im Saargebiet schars kritistert.
Der Berichterstatter meinte schlietzlich, datz man etwas vorsichtiger
sein sollte und datz man gegen die Bevölkerung des Saargebietes
behutsamer vorgehen müsse, wenn nian wolle, datz dieses Land bei
der Abstimmung nach elf Iahrcn fttr Frankreich stimme.
poilicmes letzte Waffe.
Ernährungsminister Luther über die Hungerülockade.
Verlin. L3. Iuni.
Der Reichsminister für Ernährung und üandwirtschaft, Dr.
Luther, hat einein Verrreter des Wolffbüros eine Unterredung
gewayrt. in der er zu dem Vsrjuch der Franzosen, durch Hunger
die Bevölkerung des Ruhrgebiets zum Nachgeben zu
zwrngen, Ltellung nahm. Der Minister sührte aus:
Nach den jetzt vorliegenden Nachrichten kaun — so unglaublich
cs klingt. kein Zweisel mchr sein, datz die Franzosen den Versuch
machen, über die gejamte Devötkerung des Ruhrgebiets die Hunger-
blockade zu verhünaen- Die schwcre Rot, die schon lange durch die
Matznahmen der Franzosen, besonders auch im altbesetzten Gebiet,
hervcrxerufen worden ist, genügt thren politischen Zieten ofsenbar
noch nicht. Der feste Wille der Bevölkerung, stch nichr rnter das
milltärijche Joch zu beugen, und die äutzerste Kraftanstrengung ganz
Deutschlands wird auch den neuen ungeyeuerlichen Anschlag zunichte
machen. Das hauptjachlichste Mlttel der Franzosen jst die Lahm-
legung des gesamten Eisenbahnverkehrs im Nuhr-
gebiet. Die einschneidende Bedeutung dieser Matznahme gerade sür
das Ruhrgebiet beruht darauf, datz m dem weit erstreckten Bezirk
mit seincn rund viel Millionen Einwohnern Lebsnsmittel nur in
geringem Umfange erzeugt werden, sodatz fast alles non drautzen
mit der Eijenbahn herangebracht werüen mutz. Der Hinweis der
Franzosen, datz gegen Zahlung der Eebühren die ankommenden
Eijenbahnwagen auf den von ihnen miliiarisierten Strecken weitsr-
befördert würüen, ist nur geeignet, vor aller Welt offenkundtg zu
machen, datz der wirkliche französische Plan rein politischen
Inhalts ist. Die deutschen Eisenbahner, Lenen die Franzosen mit
roher Eewalt dic Stätte ihrer Arbeit fortgenommen haben, und die
obendrein ohne Rückfichtnahme zu vielen Lausenden mit 'hren Fa-
milien von Haus unü Hof vertrieben worden sind, werden niemals
bereit sein, die aus dem unbesetzten Deutschland kommenden Ledens-
mitteljendungen an die französtschen Sotdaten und Eisenbahner zu
übergeben. Diese Stellungnahme deckt sich mit der Auffassung der
gesamten Bevölkerung von Rhein und Ruhr, die sehr genau weitz,
um was es sich handelt. Auch unm-ittelbare Eingriffe der
Besatzunasmüchte in Lebensmittelsendungen, sogar in Liebes-
gabensendungen, kommon immer häufiger vor. Selbst bei der
jür die Kinder so lebensnotwendigen Milch werden immer wieder
solche Störungen herbeigeführt, sodatz die Milch, wenn überhaupt, in
vsrdorbenem Zustande ankommt- Datz die Franzosen zu Äus-
hungerungsversuchen schreiten würden. haben nicht nur die meisten
Deutschen, sondern auch die zahlreichen Ausländer, mit denen
ich seit Monaten über die Möglichkeit gesprochen habe, für völlig
ausgeschlossen erklärt, weil sie annehmen, datz das französische Volk
sich niemals vor der Mit- und Nachwelt mit dem jürchterlichen Ruf
belasten wllrde, mitten im Frieden unbewaffnete
Menschen auszuhungern. Nun unternehmen die Fran-
zosen diesen Vernichtungsversuch gerade jetzt, da die Meinung fast
der ganzen Welt auf eine endgültige wirtschaftliche Lüsung der
Reparationsfrage hindrängt.
Der Awischensall bel Vuer.
Berlin, 28. Iuni. Aus dem Ruhrgebiet wird über den aestrigen
Zwllchensall bei Niarl in der Nähe Buers noch berichtet, dah üas
belgisch« Kommando sich damit einoerstanden erklärt hat, die Er-
mittlung Ler Täter durch die deutsche Kriminalpolizei vornehmen
zu lassen. Wie aus aufgefundenen Papieren heroorgeht, sind die
Täter keine Polizaibeamte, sondern Zivilpersonen. Ueber
den Vorgang selbst ist noch inzwischen ermittelt worden, datz sämt-
liche Deutsche in Marl übereingekommen waren, ein übelbeleumun-
detes Subjekt, den tn sranzöstschem Solde stehenden Verräter
Plankow zu ergreifen. Als sich Plankow bedroht fllhlte, rief er
belgische Soldaten zu Hilfe, die sofort das Feuer er-
öffneten, was von den Deutschen erwidert wurde. Jm Laufe
dieser Schietzorei wurüen zwei belgische Soldaten getötet, eln wei-
terer sowte ein Deutscher wurden schwer verletzt; letzterer ertrank bei
Lem Versuche. sich durch Schwimmen durch die Lippe zu retten. Die
Belgier haben über die Ctadt Buer. aus der der eine Täter stammt,
die schwersten Sanktionen verhängt. Durch die neuerlichen
Verhaftungen ist die Stadt Buer ihrer sämtlichen führenden Beam-
ten, ües Bürgermeistcrs und aller besoldeten Stadträte beraubt wor-
den. Die Belgier machten heuts den unbesoldeten Stadtrat, Studien-
rat Freigüter, zum Bürgermeister von Buer. Auch in Marl haben
die Belgier sisben Bürger als Eeiseln verhaftet und übsr die Ec-
meinde bis auf weiteres eine Verkehrssperre von 9 Uhr abends bis
6 Wr morgens verhängt.
Awei neue Aiorde.
Paris. 23. Juni. Havas meldei aus Necklinghausen, ein deutscher
Zivilist, der für die Besatzungsvehörde auf der Erube „Vlumenthal"
arbeitete, sei in der Nacht zum Freitag von einer Eruppe von Deut-
schen angegriffen worden und zwar in nächster Nähe des französtjchen
Machtxostens. Die Soldaten des Postcns, die die Hilferufe des
Uebersallcnen gehört hätten, seien erschienen und hätten nach vor-
schriftsmätziger Aufforderung aus vie Deutschen geschossen und einen
von ihnengetötet. Am gleichen Abend ist nach Havas noch
oin Deutscher, der sich angeblich auf der Eisenbahnlinie befun-
Ven haben soll, von einer sranzöstschen Wache, etwa 100 Meter vom
Bahnhof Fintrop entfernt, erschofsen worden.
Eine neue Niederlags der englischen Negierung.
London, 23. Juüi. Die Regierung hat einen wsiteren Sitz im
Parlament verloren. Bei der Ersatzwahl in Tioerton (Devonshire)
siegte der liberale Kandidat über den Konservativen mit eincr
Mshrheit von 403 Stimmen. Bisher war Ler Kreis durch eineu
Konservativen vertreten. ^.. ....^ ....
AuötvWge polttik.
Dic Kabiilettekiise und dic Haltung Ler Sozialisten kn Bclgken. —
Die »viehijche Servitut" in Frankreich. — Sklavenmoral. — Die
Kammerabftimmung in Paris.
Die Aniwort der einstigen Enteniemächte auf Deutschlands
Memorandum lätzt immer noch auf sich warten, und es ist nicht das
schlechteste Kennzeichen der politischen Situation, datz gerade das
Ausbleiben oder wenigstens die Verzögerung der Antwort als eine
Befferung der Lage angesehen wird. Ob mit Necht, wird stch erst zu
erweisen haben. Der Fonschritt der Zeiten besteht allerdings darin,
datz die deutsche Note vom 2. Mai umgehend von Franlreich als
„undiskutabel" abgelehnt wurde, was eine gemeinsame Aniwort der
Entente unmöglich machte, während diesmal Franlreich eine gleiche
diktatorische Taktik einzuschlagen nicht gcwagt hat.
Da es seine Aniwort nicht sofort geben ronnte — eine Ant-
wort, die natürlich wrederum nur ablehnend ausfallen würde, so
sucht Frankreich die Beantwortung Lberhaupt hinauszuschieüen. Es
hofst, durch eine konzcntrierte Zerrüttung der Leutschen Wirtschaft
und Finanzen Deutschland dein rohesten Bolschewismus ausliefern zu
können. Durch eins wohlorganisierte Nuinicrung des Ruhrgebi ts,
durch systcmatische und immer wiederholte Milliardendiebstähle in
Waren wie in Papier, durch eine im grotzen betriebene Falsch-
münzerei und Ausgabe falschen deutschen Papiergeldes. zugle'.ch durch
eine in den Mantel der „Iustiz" gehüllte Beraubung hervorragcnder
Wirtschastsführer, denen man „Strasen" in Höhe vieler Milliarden
auferlegt, arbeitet man an seinem Teile mit am weiteren Sturz der
Mark, und je höher das Elend in Deutschland steigt, dcsto höher steigt
die Hoffnung in Paris, datz endlich der fessellose Bürgerkrieg in
Deutschland ausbricht, die Klammern zerreitzen, die das Reich noch
zusammenhalten und damit Ruhr und Rhein als lang ergierte Frucht
Frankreich in den Schotz sallen.
Diesem Bestreben Frankreichs, Zeit zu gewinnen und
Deutschland am langsamen Feuer zu rösten, ist die immer noch
ungelöste Kabinettskrise in Belgien zu Hilfe gekcm-
men. Die Lösung Lieser Krists ist ein Kapitel für sich und ihr«
Schwierigkeit beruht nicht zuletzt in der Haltung der belgischen
Sozialdemokratie. Auf dem Kongreh, den die sozialijtischen Parleien
kürzlich in Hamburg abhielten und allwo die „internationale 2)4"
in der „internationalen L" aufging, ertönten gar viele Beteuerungen.
datz nunmehr und von nun an ganz wahrhaftig die sozialistischen Par-
teien des Auslandes ctwas gegcn die Ruhrschande tun wollten. Von
lnlgischer Seite sprach auch Vanoervelde, der Typus des Salon-
sozialisten, selbstgefällig und „geistreich", der als sogenannter Sozialist
und Minister das Schandstück von Vcrsailles mit unterzeichnet hat
und das mit der wahrhaft „geistreichen" Wondung vor den Hamburger
Arbeitern zu entschuldigen suchte, der deutsche Hermann Müller habe
das Diktat ja auch unterschrieben! Jn seinen Reden gegen Deutsch-
land und die deutsche Sozialdemokratie hat er stets den Versailler
Diktatfrieden und die von Deutschland zu erpressenden Reparationen
verteidigt. Jmmerhin halte auch die belgische Sozialdemotratie die
Pflicht übernommen, im eigenen Lande gegen die Ruhrbejetzung auf-
zutreten. Da nun die belgische Kammer aus bL Katholiken, 06 Sozia-
listen und 83 Liberalen besteht, so wäre es das Normale, datz die
Kammerkrisis durch den Eintritt der Sozialisten in das Kabinett
beendet würde. Allein dem steht das Bedenken der belgischen Sozia-
listensühver gegenüber. Latz sie Lann aus ihrer C ch e i n opposition
gegen die Ruhrbesetzung eine ernste Aktion machen mützten. Davor
scheuen sie aber zurück. So wirft die belgische Kaüinettslrise zugleich
auch ein Licht auf den wahren Charakter der „Internationale", die
jedesmal verjagt, wenn sie zugunsten Deutschlands aufzutreten hätle
und deren Wirkung wie in und nach dem Kriege so auch jetzt rvieder
der Raubpolitik der Ententestaaten zustatten kommt.
Denn die Verzögerung dicser Krisis kommt zunächst nur dcm
französischen Militarismus zugute. Man gibt sich in Paris der Hosf-
nung hin, nach und nach doch wiedsr England klein zu lriegen. Und
dazu fehlt nur eins, wi« es bei Dehmel heitzt: nur Zeit. Herrtich, datz
Belgien diese fehlende Zeit herbcigezaubert hat. Wir gehcn an
dieser Stelle nicht auf die Meldungen ein, die bereits von einem
Nachgeben Englands zu melden wissen. So weit sind die Dinge
noch nicht.
Die englisch-sranzösische Fühlungnahme dreht
sich in der Hauptsache um die Forderung Poincar4s, Deuts-Hland
müffe im Ruhrgebiet zuerst völlig kapitulieren, das heitzt, wie man
sich in Paris Las vorstellt, von Berlin aus müsse der Ruhrb> völ-
kerung „befohlen" werden, die Ruhrbesetzung anzuerkennen und den
eingebrochenen Banditenhorden bci ihren Räubereten und bei der
Ausplünderung dcs Landes zu helfen. Jn Wahrheit würde diese
Kapitulation Dsutschlands zugleich einc Kapitulation Eng-
lands sein. Das dürfte man an der Themfe wohl begreisen. Jn
Deutschland aber ist keine Regierung denkbar, die stark und ehrlos
genug wäre, die Forderung Frankreichs zu erfüllen. Es ist bezsich-
nend fllr das miliiaristische Denren Frankreichs, datz es sich den
Widerstand eines Volkes gegen Tyrannsi und Frriheitsberaubung
nnr als Folge eines „Befehls" von oben denken kann. Der stark
zentralistische Charakter Frankreichs, dsr nur blinden Kadavergehor-
sam kennt, hat nicht erst seit Napoleons Zeiten zu wirksn begonnen.
Schon am 16. Jahrhundert höhnie man in Deutschland über die
„viehische Servitut" dcs französischen Volkes vor seinen absolutisttschen
Machthabern, der man die „deutjche Libertüt" gegenüberstellte, die
von keinem Absolutismus wisse. Und Montaignc, der auf seinen
Reisen in Deutschland als eine besondere Eigenart dieses Landes
gerade die „deutsche Freiheit" zu rühmen wutzte im Eegeusatz zu den
Zuständen seiner sranzösischen Heimat, jprach damit nur aus, was
damals alle Welt empfand. Trotzdem handelte es sich damals um
eine Verkennung der historischen Situation. Die „viehische Servitut".
das heitzt der Sklavensinn des französischen Volkes, war im Grunde
nur die Folge der grötzeren staailichen Konzentration des Landes,
die dann durch die Staatsform des sranzösischen Absolutismus eine
besonders ausgeprägte und machtvolle Eestalt nach autzen hin empfing.
Diese Zucht im Sinne der allcs beherrs^Mden Staatsgewalt ist in
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Sonntag, ten 24. Zmi 1S2Z
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Nr. 18V- Berliner Vcrtrctung: Berlin StV 4g, Zlmmerstratze g, Fernlpr. Zentr. 41S
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Abbeftell.werd nur bis zum S. jed.Mrs angcnommcn. Am l «.L.noch geiief.Zeitungen stnd nach d. Eiiizelverraufspreis zu be»
zahlen. PrcisL.EinzeIttUtnmer Mk.80v.-. Lst dieZeitung am Crsch-inen verhinderr,bestchr kein Anspruch aufEntjchüdtgung
A»zeigenvreise:vie44 mm bieite Nonpareillezeile lostet-lokale Ltellengesuch- Mk.SS I -, "l.Delcgenh-ilranzeigenMk LSV.-,
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Die engUch-smnMchen FSden.
Balsour in Paris. — Ein zweites englisches Memorandum?
Von unserem -K o rr e s p o n d e n t e a
London, 23. Jsni.
Dre gesamte englische Presse, sowoh! die Blätter der Regierung
wie auch die der Opposition, hatten seit einiger Zeit säst volliommen
aufgehört, sich mit dem Ruhrtonflilt und mit den damit zusammeu-
hängenden Fragcn zu beschäftigen. Diese Schweigsamkeu. in der stch
die Unsicherheit und Ratlosigksit der englischen Politik widersp'.egelt,
wird heute lediglich Lurch einen Artikel der „Times unterörochen,
der jedoch auch laum razu beitragen dürste, dcn englischen Standpunlt
fester und klarcr erscheinen zu lassen. Einerseith betonen dte „Times",
datz die einzige Rettung in einer Verständigung zwischen Franlreich
und Englano liegc, und datz die englische Regierung alle nur denk-
baren ZugestänLnisse an Frankreich machen sollte, wenn sich Lamit
»wirklich eine Ausstcht auf eine allgemeine Regelung biete, aus der
' andersn Seite müsse es aber Engtand ablehnen, seine Politik der-
ienigen granlreichs unterzuorünen. Wenn Poincars verlange, datz
! England seinen Einfluß aufbieten solle, um die französtschen Opera-
tionen im Ruhrgebiet zu erleichtern, so miisse klar gcsazt werden,
daß dies außer Frage stehe. Es handle sich daber nicht nur um
woralische, sondern auch um politische Bedenken, Lenn
Franlreich würde aus einer Vesetzung keine wirtschaftlichen Vor-
teile ziehen können. selbst wenn alle Regierungen der Welt die Ein-
stellung des passtven Widerstandes verlangen würden, einschlietzlich
eer dcutschen Rcgierung, die damit eine grotze Gefahr fllr lhre
eigene Existenz Lbernehmen würde. Die Deutschen seien ein geüul-
diges unü diszipliniertes Volk, aber es sei fraglich, wie lange noch
sich die Einheitssront unter der fast unerträglichen wirtschaftlichen
Last werde aufrecht erhalten laffen, und unter diesen Umständen
könne die englische Regierung nicht die schwache und nutzlose Eeste
»lachen, von Deutschland die Einstellung des WiLerstandes zu ver-
langen. Frankreich könne dies selbst tun, indem es erkenne, datz
eine Lösung wirtschaftlicher Probleme durchZwang
riichtnur unmöglich, sondern auch für ganzEuropa
Sefährlich sei. So lange der Ruhrlonflikt nicht beendet ist, sei
eine ernsthafte Diskussion über die Reparationen unmöglich, der
Konflikt lönne aber nur beendet werden. wenn beide Seiten
die Waffen niederlegten. „Deutschland ist zusammengs-
brochen, Frankreich hat es jetzt in der Hanü, die Eeste des Siegers
-lu zeigen."
Soweit die „Times". Wenn die englische Politik keine anderen
Mittel zur Verfügung hat, als den AppeÜ an die franMsche „Erotz-
>Uut", so wird dies den europäischen Konflikt schwerlich lösen können,
arn allerwenigsten ist damit den Intereffen Deutschlands gedient,
»essen Lage durch schöne Worte von englischer Seite nicht gemildsrt
werden känn. Wichtiger scheint, datz nach dem Pariser Berichte des
stlejchen Blattes der Vorsitzende der englischen Handelska>nmern,
«alfour, augenblicklich in Paris wcilt, um mit französtschen
svirtschaftlichen Kreisen eine Verständigung auf der Erundlage der
^stternationalen eimidcl-.fcitniiiei'licsziliHse in Rom kierlieiiiiiiüircn.
Handelskammerbeschlüsse in Rom herbeizuführen.
^alfour hat den Eindruck gewonnen, datz, soweit die französische
^ e s ch äfLswelt in Frage komme, jeder geeigflets Ausweg aus
«rn Schwierigkeiten willkommen wäre.
- Unser 8-Korrespondent drahtet uns ferner aus Paris:
Dke Lage in Paris crscheint allmählich immer konfuser. An Pariser
Mtlicher Stelle schiebt man alle Schuld für die allsetts ale uner-
Mgljch empfundene Verzögerung auf die Lelgische Minifterkrise. Es
Ls für Frankreich gefährlich, so wird betont, anders als im engsten
^invernehmen mit Brllffel irgendwelche entscheidenden Schritts zu
Englanü selbst wird durch Lieso Verschleppungstaktik allem An-
Mine nach auch recht unangenehm berührt. Der englische Dot-
lchafter in Paris stattete am Frsitag Poincars einen längsren
^esuch ab, um ihn zu bitten, die sranzösische Antwort auf den eng-
jstchen Fragebogen baldmöglichst London zukommen zu lassen. Ueber
?'ese Unterreoung wird zwar allgemein strengstes Stillschweigen beo-
?2chtet, so oiel aber steht fest, datz der Botschafter ein Memo-
^ndumseiner Rexierung überreichte, das Poincar 6
Entscheidung drängen will.
Nachrichten über die bevorstehende
ri> Jrgendwelche positiven , . .
-osung üer belgischen Ministerkrise. die von Poin-
als ein höchst willkommener Vorwand seines Zögerns benutzt
ilirü, lediglich um dadurch die Lage in Deutschland zu verschärfe'n,
»,'igen auch jetzt hier noch nicht vor- So oiel aber scheint festzu-
^hen, Latz di« belgische Kammer am Dienstag zusammen-
iketen wird, um weitere Etatsprovisorien zu bewilligen und um
Verlängerung von Zollverträgen zu beschlietzen, ganz unabhängig
^von. ob bis dahin die Minifterkrists gslöst ist oder nicht.
ilm das Saargebjet.
Etue Saardebatte in der sranMschen Kammer.
Don unserem 8.-Korrejponventen.
Paris, 28. Juni.
2» der gestrigen Kammersttzung kam eg zu erner kurzen Debatte
Las Saargebiet. Der rommunistjsche Abgeordnete Tachin
jjR die berüchtigte und jetzt endlich glücklicherweise aufgehobene
i^'verordnung der Saarregierung scharf «n und bezsichnet sie als
vollkommenen Wlderspruch zum Versailler
u^trage stehend. Aber ste sei durchaus nicht die ein-
^8 e Verletzung Les Versailler Vertrages durch die Saarregierung.
>Mei wirklich angebracht, Larüber einmal ausführlich in üer Kam-
h," äu sprechen. Es sei der Wille der Bergarl^iter Les Saargebiets,
lsj)„"che zu bleiben, ebenso wis trotz der Aunexion Elsatz-Lothringens
der Wille Ler Elsatz-LothriNger war, Franzosen zu bleiben.
' .^ngiand, so schlotz Lachin seine Ausfuhrungen, rufe die Haltung
.z sllrejchs !m Saargebiet bereits lebhafte Unruhe heroor. Minister
^Trocquer wutzte darauf nichts anders zu erwidern, als datz
^ /totverordnung berechtigt gdwescn sei. da dte Sireikbewegung im
h>>Vgebiet nur eine rein politische Bewcgung gewesen sel. Dem
^vsprach jedoch Cachin und hob hervor. datz es sich bsj dem Streik
!>,Mine rein soziale Bewegung gehandelt habe. Zu Beginn der
Taardebatte hatte der radikale Abgeordnete Margaine
^insührung der Frankenwährung im Saargebiet schars kritistert.
Der Berichterstatter meinte schlietzlich, datz man etwas vorsichtiger
sein sollte und datz man gegen die Bevölkerung des Saargebietes
behutsamer vorgehen müsse, wenn nian wolle, datz dieses Land bei
der Abstimmung nach elf Iahrcn fttr Frankreich stimme.
poilicmes letzte Waffe.
Ernährungsminister Luther über die Hungerülockade.
Verlin. L3. Iuni.
Der Reichsminister für Ernährung und üandwirtschaft, Dr.
Luther, hat einein Verrreter des Wolffbüros eine Unterredung
gewayrt. in der er zu dem Vsrjuch der Franzosen, durch Hunger
die Bevölkerung des Ruhrgebiets zum Nachgeben zu
zwrngen, Ltellung nahm. Der Minister sührte aus:
Nach den jetzt vorliegenden Nachrichten kaun — so unglaublich
cs klingt. kein Zweisel mchr sein, datz die Franzosen den Versuch
machen, über die gejamte Devötkerung des Ruhrgebiets die Hunger-
blockade zu verhünaen- Die schwcre Rot, die schon lange durch die
Matznahmen der Franzosen, besonders auch im altbesetzten Gebiet,
hervcrxerufen worden ist, genügt thren politischen Zieten ofsenbar
noch nicht. Der feste Wille der Bevölkerung, stch nichr rnter das
milltärijche Joch zu beugen, und die äutzerste Kraftanstrengung ganz
Deutschlands wird auch den neuen ungeyeuerlichen Anschlag zunichte
machen. Das hauptjachlichste Mlttel der Franzosen jst die Lahm-
legung des gesamten Eisenbahnverkehrs im Nuhr-
gebiet. Die einschneidende Bedeutung dieser Matznahme gerade sür
das Ruhrgebiet beruht darauf, datz m dem weit erstreckten Bezirk
mit seincn rund viel Millionen Einwohnern Lebsnsmittel nur in
geringem Umfange erzeugt werden, sodatz fast alles non drautzen
mit der Eijenbahn herangebracht werüen mutz. Der Hinweis der
Franzosen, datz gegen Zahlung der Eebühren die ankommenden
Eijenbahnwagen auf den von ihnen miliiarisierten Strecken weitsr-
befördert würüen, ist nur geeignet, vor aller Welt offenkundtg zu
machen, datz der wirkliche französische Plan rein politischen
Inhalts ist. Die deutschen Eisenbahner, Lenen die Franzosen mit
roher Eewalt dic Stätte ihrer Arbeit fortgenommen haben, und die
obendrein ohne Rückfichtnahme zu vielen Lausenden mit 'hren Fa-
milien von Haus unü Hof vertrieben worden sind, werden niemals
bereit sein, die aus dem unbesetzten Deutschland kommenden Ledens-
mitteljendungen an die französtschen Sotdaten und Eisenbahner zu
übergeben. Diese Stellungnahme deckt sich mit der Auffassung der
gesamten Bevölkerung von Rhein und Ruhr, die sehr genau weitz,
um was es sich handelt. Auch unm-ittelbare Eingriffe der
Besatzunasmüchte in Lebensmittelsendungen, sogar in Liebes-
gabensendungen, kommon immer häufiger vor. Selbst bei der
jür die Kinder so lebensnotwendigen Milch werden immer wieder
solche Störungen herbeigeführt, sodatz die Milch, wenn überhaupt, in
vsrdorbenem Zustande ankommt- Datz die Franzosen zu Äus-
hungerungsversuchen schreiten würden. haben nicht nur die meisten
Deutschen, sondern auch die zahlreichen Ausländer, mit denen
ich seit Monaten über die Möglichkeit gesprochen habe, für völlig
ausgeschlossen erklärt, weil sie annehmen, datz das französische Volk
sich niemals vor der Mit- und Nachwelt mit dem jürchterlichen Ruf
belasten wllrde, mitten im Frieden unbewaffnete
Menschen auszuhungern. Nun unternehmen die Fran-
zosen diesen Vernichtungsversuch gerade jetzt, da die Meinung fast
der ganzen Welt auf eine endgültige wirtschaftliche Lüsung der
Reparationsfrage hindrängt.
Der Awischensall bel Vuer.
Berlin, 28. Iuni. Aus dem Ruhrgebiet wird über den aestrigen
Zwllchensall bei Niarl in der Nähe Buers noch berichtet, dah üas
belgisch« Kommando sich damit einoerstanden erklärt hat, die Er-
mittlung Ler Täter durch die deutsche Kriminalpolizei vornehmen
zu lassen. Wie aus aufgefundenen Papieren heroorgeht, sind die
Täter keine Polizaibeamte, sondern Zivilpersonen. Ueber
den Vorgang selbst ist noch inzwischen ermittelt worden, datz sämt-
liche Deutsche in Marl übereingekommen waren, ein übelbeleumun-
detes Subjekt, den tn sranzöstschem Solde stehenden Verräter
Plankow zu ergreifen. Als sich Plankow bedroht fllhlte, rief er
belgische Soldaten zu Hilfe, die sofort das Feuer er-
öffneten, was von den Deutschen erwidert wurde. Jm Laufe
dieser Schietzorei wurüen zwei belgische Soldaten getötet, eln wei-
terer sowte ein Deutscher wurden schwer verletzt; letzterer ertrank bei
Lem Versuche. sich durch Schwimmen durch die Lippe zu retten. Die
Belgier haben über die Ctadt Buer. aus der der eine Täter stammt,
die schwersten Sanktionen verhängt. Durch die neuerlichen
Verhaftungen ist die Stadt Buer ihrer sämtlichen führenden Beam-
ten, ües Bürgermeistcrs und aller besoldeten Stadträte beraubt wor-
den. Die Belgier machten heuts den unbesoldeten Stadtrat, Studien-
rat Freigüter, zum Bürgermeister von Buer. Auch in Marl haben
die Belgier sisben Bürger als Eeiseln verhaftet und übsr die Ec-
meinde bis auf weiteres eine Verkehrssperre von 9 Uhr abends bis
6 Wr morgens verhängt.
Awei neue Aiorde.
Paris. 23. Juni. Havas meldei aus Necklinghausen, ein deutscher
Zivilist, der für die Besatzungsvehörde auf der Erube „Vlumenthal"
arbeitete, sei in der Nacht zum Freitag von einer Eruppe von Deut-
schen angegriffen worden und zwar in nächster Nähe des französtjchen
Machtxostens. Die Soldaten des Postcns, die die Hilferufe des
Uebersallcnen gehört hätten, seien erschienen und hätten nach vor-
schriftsmätziger Aufforderung aus vie Deutschen geschossen und einen
von ihnengetötet. Am gleichen Abend ist nach Havas noch
oin Deutscher, der sich angeblich auf der Eisenbahnlinie befun-
Ven haben soll, von einer sranzöstschen Wache, etwa 100 Meter vom
Bahnhof Fintrop entfernt, erschofsen worden.
Eine neue Niederlags der englischen Negierung.
London, 23. Juüi. Die Regierung hat einen wsiteren Sitz im
Parlament verloren. Bei der Ersatzwahl in Tioerton (Devonshire)
siegte der liberale Kandidat über den Konservativen mit eincr
Mshrheit von 403 Stimmen. Bisher war Ler Kreis durch eineu
Konservativen vertreten. ^.. ....^ ....
AuötvWge polttik.
Dic Kabiilettekiise und dic Haltung Ler Sozialisten kn Bclgken. —
Die »viehijche Servitut" in Frankreich. — Sklavenmoral. — Die
Kammerabftimmung in Paris.
Die Aniwort der einstigen Enteniemächte auf Deutschlands
Memorandum lätzt immer noch auf sich warten, und es ist nicht das
schlechteste Kennzeichen der politischen Situation, datz gerade das
Ausbleiben oder wenigstens die Verzögerung der Antwort als eine
Befferung der Lage angesehen wird. Ob mit Necht, wird stch erst zu
erweisen haben. Der Fonschritt der Zeiten besteht allerdings darin,
datz die deutsche Note vom 2. Mai umgehend von Franlreich als
„undiskutabel" abgelehnt wurde, was eine gemeinsame Aniwort der
Entente unmöglich machte, während diesmal Franlreich eine gleiche
diktatorische Taktik einzuschlagen nicht gcwagt hat.
Da es seine Aniwort nicht sofort geben ronnte — eine Ant-
wort, die natürlich wrederum nur ablehnend ausfallen würde, so
sucht Frankreich die Beantwortung Lberhaupt hinauszuschieüen. Es
hofst, durch eine konzcntrierte Zerrüttung der Leutschen Wirtschaft
und Finanzen Deutschland dein rohesten Bolschewismus ausliefern zu
können. Durch eins wohlorganisierte Nuinicrung des Ruhrgebi ts,
durch systcmatische und immer wiederholte Milliardendiebstähle in
Waren wie in Papier, durch eine im grotzen betriebene Falsch-
münzerei und Ausgabe falschen deutschen Papiergeldes. zugle'.ch durch
eine in den Mantel der „Iustiz" gehüllte Beraubung hervorragcnder
Wirtschastsführer, denen man „Strasen" in Höhe vieler Milliarden
auferlegt, arbeitet man an seinem Teile mit am weiteren Sturz der
Mark, und je höher das Elend in Deutschland steigt, dcsto höher steigt
die Hoffnung in Paris, datz endlich der fessellose Bürgerkrieg in
Deutschland ausbricht, die Klammern zerreitzen, die das Reich noch
zusammenhalten und damit Ruhr und Rhein als lang ergierte Frucht
Frankreich in den Schotz sallen.
Diesem Bestreben Frankreichs, Zeit zu gewinnen und
Deutschland am langsamen Feuer zu rösten, ist die immer noch
ungelöste Kabinettskrise in Belgien zu Hilfe gekcm-
men. Die Lösung Lieser Krists ist ein Kapitel für sich und ihr«
Schwierigkeit beruht nicht zuletzt in der Haltung der belgischen
Sozialdemokratie. Auf dem Kongreh, den die sozialijtischen Parleien
kürzlich in Hamburg abhielten und allwo die „internationale 2)4"
in der „internationalen L" aufging, ertönten gar viele Beteuerungen.
datz nunmehr und von nun an ganz wahrhaftig die sozialistischen Par-
teien des Auslandes ctwas gegcn die Ruhrschande tun wollten. Von
lnlgischer Seite sprach auch Vanoervelde, der Typus des Salon-
sozialisten, selbstgefällig und „geistreich", der als sogenannter Sozialist
und Minister das Schandstück von Vcrsailles mit unterzeichnet hat
und das mit der wahrhaft „geistreichen" Wondung vor den Hamburger
Arbeitern zu entschuldigen suchte, der deutsche Hermann Müller habe
das Diktat ja auch unterschrieben! Jn seinen Reden gegen Deutsch-
land und die deutsche Sozialdemokratie hat er stets den Versailler
Diktatfrieden und die von Deutschland zu erpressenden Reparationen
verteidigt. Jmmerhin halte auch die belgische Sozialdemotratie die
Pflicht übernommen, im eigenen Lande gegen die Ruhrbejetzung auf-
zutreten. Da nun die belgische Kammer aus bL Katholiken, 06 Sozia-
listen und 83 Liberalen besteht, so wäre es das Normale, datz die
Kammerkrisis durch den Eintritt der Sozialisten in das Kabinett
beendet würde. Allein dem steht das Bedenken der belgischen Sozia-
listensühver gegenüber. Latz sie Lann aus ihrer C ch e i n opposition
gegen die Ruhrbesetzung eine ernste Aktion machen mützten. Davor
scheuen sie aber zurück. So wirft die belgische Kaüinettslrise zugleich
auch ein Licht auf den wahren Charakter der „Internationale", die
jedesmal verjagt, wenn sie zugunsten Deutschlands aufzutreten hätle
und deren Wirkung wie in und nach dem Kriege so auch jetzt rvieder
der Raubpolitik der Ententestaaten zustatten kommt.
Denn die Verzögerung dicser Krisis kommt zunächst nur dcm
französischen Militarismus zugute. Man gibt sich in Paris der Hosf-
nung hin, nach und nach doch wiedsr England klein zu lriegen. Und
dazu fehlt nur eins, wi« es bei Dehmel heitzt: nur Zeit. Herrtich, datz
Belgien diese fehlende Zeit herbcigezaubert hat. Wir gehcn an
dieser Stelle nicht auf die Meldungen ein, die bereits von einem
Nachgeben Englands zu melden wissen. So weit sind die Dinge
noch nicht.
Die englisch-sranzösische Fühlungnahme dreht
sich in der Hauptsache um die Forderung Poincar4s, Deuts-Hland
müffe im Ruhrgebiet zuerst völlig kapitulieren, das heitzt, wie man
sich in Paris Las vorstellt, von Berlin aus müsse der Ruhrb> völ-
kerung „befohlen" werden, die Ruhrbesetzung anzuerkennen und den
eingebrochenen Banditenhorden bci ihren Räubereten und bei der
Ausplünderung dcs Landes zu helfen. Jn Wahrheit würde diese
Kapitulation Dsutschlands zugleich einc Kapitulation Eng-
lands sein. Das dürfte man an der Themfe wohl begreisen. Jn
Deutschland aber ist keine Regierung denkbar, die stark und ehrlos
genug wäre, die Forderung Frankreichs zu erfüllen. Es ist bezsich-
nend fllr das miliiaristische Denren Frankreichs, datz es sich den
Widerstand eines Volkes gegen Tyrannsi und Frriheitsberaubung
nnr als Folge eines „Befehls" von oben denken kann. Der stark
zentralistische Charakter Frankreichs, dsr nur blinden Kadavergehor-
sam kennt, hat nicht erst seit Napoleons Zeiten zu wirksn begonnen.
Schon am 16. Jahrhundert höhnie man in Deutschland über die
„viehische Servitut" dcs französischen Volkes vor seinen absolutisttschen
Machthabern, der man die „deutjche Libertüt" gegenüberstellte, die
von keinem Absolutismus wisse. Und Montaignc, der auf seinen
Reisen in Deutschland als eine besondere Eigenart dieses Landes
gerade die „deutsche Freiheit" zu rühmen wutzte im Eegeusatz zu den
Zuständen seiner sranzösischen Heimat, jprach damit nur aus, was
damals alle Welt empfand. Trotzdem handelte es sich damals um
eine Verkennung der historischen Situation. Die „viehische Servitut".
das heitzt der Sklavensinn des französischen Volkes, war im Grunde
nur die Folge der grötzeren staailichen Konzentration des Landes,
die dann durch die Staatsform des sranzösischen Absolutismus eine
besonders ausgeprägte und machtvolle Eestalt nach autzen hin empfing.
Diese Zucht im Sinne der allcs beherrs^Mden Staatsgewalt ist in