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Badische Post: Heidelberger Zeitung (gegr. 1858) u. Handelsblatt — 1923 (Januar bis Juni)

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Nr. 59 - 89 (1. März 1923 - 31. März 1923)
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https://doi.org/10.11588/diglit.15611#0373

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§6.

^ahrgang -

Är. 62

lche Posl" irlchemt wöchcntl. liebenmnl. Bei a >cn: Didaskalia lSonnt.! —

ungsbiaitIFreitagsI-LIterattirblatt- Dochlchuibeilage,monatlich>.
Bkitröpe ohne Derantworiuna. Rüchi 'dnna nur, wenn Dorto bei iegt.

Heidelberger Zeitung

(Gegründet 1863)

Sonniag, 4. wärz 1923

und

Handelsblatt

Hanptaeschöttsltclle u. Sclrriftleit». ter »>, adllche» Posl" 8.-idelbera.Hau>:istr. LS, Fernspr.r
Nr. 182 iVcrlaasort: Franlfurta.M, Berliner Deriretnng: Berlin8lV48, Zimmer-
stratzeS, FcrnIvr.Zentr.«1s, MünchnerVertret.- Mi>nchen,Seorgenstr.li>7, Fern vr.ülSS?

?°^sieli^^Ugst,rcis der .Bad.Polt' Mk.82»i> - (anslchl. ZnstcUgcliuhrl. Eelbstabhol.Mk. Sliiii.-. tluslaiid Mk.SSli».

^'Nur bis lum 2. sed.Mis angcnomm:». Am 1 u.2. noch gelicf.Zcitungen sind nach d. Cinzelverkanfrprets,u bc-
^ ^^ Einzelnummcr Mk. 1«i>.-. Jst die Zeitung am Crlchcinen vcrhindcrt, bcftehl kein Ansprnch aus Entlchädigung.

dtnzcigenvreiiö: die«1 mw bicite Nonparcille.leile kostet: lokalc Ttcllengesuchc MI.8i> -, kl.Eelcgenheilsanzcigen Mk Ivll.-,
Familienanzelgen P!k 8ü.—. Eleschältranzclgcn Mk.17S -,Finanz- und Jndustrieanzcigcn MI. 25».-,m.t Platzvorlchrisi und
ÄüontagsMI. I».—mchr. Die !>8 mm brcitc Rcklamc ci c kostet Mk.svv.—, Anzeigen unü Reklamen von auswärtr 2S"/» höher.

Dl,

Sie defeßmg wird ausgedehnl!

^anzosen in Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe teilweise eingerückt.


Eigene Drahtmeldung.

Darmstadt, S. März.

dgg' Freitag in den spätcn Nachmitta s- und Ab.ndstunLen
tz» .^ichg "'"ücht durch die Stadt Darmstadt. dah eine Bcsetzung
h-.^chte ' 3«nächst hatte man kcine weitcre Begriindung siir diese
itabEricsheim im Lause dcs Freitaz cinc An,fahl
tcrx "^vicher Trupprn aus La-iautomobilen eingetrosscn war,
d,o ^ n» dtörke und Zwcck jedoch alle Angaben auseinandergi gen.
d>o sth "bends stand lediglich dicse eine Tatsache fest, doch war
bp ^ dercn Bedcutung nicht klar, und bcstimmte Auokiinste
icst^tao ^ keincr Stelle zu crhalten. Jm Lause der Nacht ;uni
h,'^^ichtetcn stch die Nachrichten über die Abstchten der sran-
^ ° h r e»o ^en. Bei Tagcsgcauen des Samstag srüh rückten
'ranzösischr Kompagnicn von Ericsheim aus
""d bcsctzten zunächst das Eclände am Darm»
^hr ° hnhof. Auf der Ericsheimcr Stratze stand morgcns
«i>? D ^'chte Postenkette bis zur Strahenbrncke. Die zweite,
. Feih^^'cbswerkstätten führcnde Eisenbahnbrücke wurde durch
'ter y,;.?che von 1S Mann mit zwel Maschinengewchren gestchert.
h o? k st jj i/^'fch brsetzt wurde noch die Eisenbahnbetriebs»
frg , ' e und der gesamte Komplex dcs ELterbahn-
"fchlietzlich dcs Rangierbahnhoscs Aranichsteln. Der
!«I ^Hhen a» bagegen lag verödet da. und dcr Zugvcrkehr, der noch
'"tt crh". .°rgen oollkomineu regelmötzig sunltioniert hatte, zeigte
. Dj« K,'che Störungen.

!>d! Eo "^""8 fuchte sosort mit deu Eissnbahnern Berhandlun»
»h/. ^ Uk - bringcn. Uber di« wir zunächst solgendes ersahren:
tz "»It sn??srüh besetzicn die Franzosen die Lokomotioausbcsserungs»
tz°'!teh,'^7"kstijtte m am Bornheimer Weg. Der stellvertretende
»..b'escg Werkes» Oberbäurat Scheider, wurde aus dem
und ihm mitgeteilt, datz das Werk bcsetzt sel. Herr
>?'«»«>?'.°tcstickte sosort gegcn die militärische Besetzung und
s,-"iiisss^, "le Zurückziehung dcr Truppcn aus dcn Werk <ätten. Drr
h. , k«Ni>. ^»'nmanbant crwiderte, datz davon gar keine Rede
k», !>he "'°il die Bcsctzung eine Strasmahnahme gegcn die
jck °>t scj.^'^ung darstellc. Er sragtc, ob die Bcamten und Ard: ter
° ^ 'bre Tätigkeit fortzusetzen, die Franzosen würdcn sich

Ul!'l!ti!,.""!ch»ng ,n dcn Vrtrieb cnthalten, ihn vielmchr nur be»
i^V«»d bcsctzt haltcn. Oberbaurat Schcidcr antwortete
b, ° lie v!., "'Ukn dcr Vcamten könne er aus der Stelle erklären.

itc. 'd» Nufstcht und dcn Bajoncttcn dcr Franzcsen nicht
>>d ° N "^bxiten wrrden. Was die Arbeitcr anüctresfe, so
!>d Bctricbsrat darüber hören. D-r Betricbsrat gab

tz"°rg Arbejter die olciche Crklärung ab. Die Berhandlungen
h °»n,x°ch an. Der Vsrsteher dcs Werkstättenamts, Regierungsrat
d>j'>»n s ' bcsindet sich zurzclt in Bcrlin im Reichsverkehrsmini-
° Ss , "ird für hcute zurückcrwartct. Jm Lause dcs Vor»
"c," iw ^"U'melten sich die Vertreter der Arbeiter und Beamtcn»
NjDcn. ,?"Derkschastshaus. um zu der neucn Laae Stellung zu
"°r "^cr die Bcrhandlungen liegt bis zur StunLc nähercs
h^.dech "i»e Bcsctzunq dcr Stadt selbst zu crwartcn ist,

hj'Udlich 'cht sicher, aus alle Fälle ist jcdoch Lcr gr'tzte Teil der hier
chtnrig "Dchutzmannschast in srühcr Morgenstunde in der
«r n^i»n abgezogen.

h üch sh.üanzen Bcrhaltcn der Franzosen nach zu urteilcn. handelt
h., Iea °° uur darum, den bisher über Darmstadt-Baben»
!8d. S« ^^K"llcitcten Eiiterverk«hr zu kontrollieren
'idi'"rkell E " b i nd e n. Der durch den Hnuvtbahnhos gehende
si,"'Se Eii?" .ist völlig eingestellt wmdcn, doch können noch
«8° iiher dcn Norvbahnhos gcleitet werdcn. Dcr Pcr-
d? " 8 svp blcibt ausrcchterhaltcn, soweit cs stch bm Durch»
Lj? ba^ "'chr handelt. Züge. dic in DarmstaLt münden odcr
) " der «, wcrden jcdoch nicht angcnommen bezw. abgelassen.
1,j'!»che. v"!ichcrung dcr Franzosen steht in krassem W'derspruch dle
»>ä ° bcn Lokomotivschuppen oöllig unstcllt haoen ond

tzte^ich, d»"!» °«2- und rinlassen. Das erstcre ist allcrdings un-
konn>»!.""liche Maschinen rechtzcitig in Sicherheit gebiacht

"nten.

kidk^'eders^üraermeister erlietz soeben folgenden Anschlaq:
dv!!.-ütlich"i?lie Ansragcn veranlassen mich zu folgenLer Erklarung:
^tod^en. r,.x" Privateigcntums, insbesondere an Lebensmittel
Ved» Jch Wt keine DefHrchtung im Falle -der Bcsetzung, dei

lSle

^dmahnt, Bcsonnenheit, Würde und Nul>e zu bewahrcn.

Obcrbllrgermeister.

^^-itkg

Vormarsch auf Mannhelm

br^' bic ."m k Uhr rückten, wic uns aus Mannhelm grdrahtet
»>v»!^ lon,al,^'"beu Truppcn aus Ludwigshasen, übcr die Nhcin«
!ita?,'Üicrtcn »j ' bas Mannheimer Hajcngcbiet ein und
Äri-^' bis binter dem anderen durch di: Hafen« und Werst»

tzz"?e« «ack, N-ckarbrücke. Sämtliche Durchgänge und alle

bel-nt '"-H"!-"!icbiet wurden sofort durch französtsche
'M'Nenocnton. Franzosen sührtc» bei ihrem Kriegszug
l>rc. Feldkücheu und ihr, volle Vagage mit fich. was

daraus schliehcn läht, dah sie stch im Mannhelmer Hajengebiet wohl
auf längere Zcit niede.lassen wollen. Eine Vclästigung dcr
Zivilbevölkcrung hat bis jctzt nicht stattgcfunden. Elcich nach dem
Einriicken der Franzosen wurde vor allcn Dingen das Zollamt
im Hasengebict oon eincm oollcn Zuge sranzöstscher Soldatcn be-
sctzt. Der Eintritt von Zivilpersoncn wurde vcrhindert. Die Fran-
zosen bcsetztcn weitcr auch noch die Hildaschulc mit 1SV Mann,
die sie zu ihrcm Hauptquartier auscrschcn haben, und wo
ste sich gleich häuslich einrichtetcn. Die Besctzung dcs Hascngcbietes
ersolgte auch von dcr Wasserseite aus durch cin Schiff, das
Truppcn in der Nähe dcr Ncckarmiindung landctc. Das Borgchen
der Franzofen stellt stch als eine vollständige Abschnürung
des Hascngcbietes von der Stadt Mannheim hcraus,
und steht allem Wnschcinc nack, mit der Errichtung ciner Zoll-
linie ln Berbindnng. Dcr Mannhcimer Stadtrat hat sosort cine
autzerorLentliche Sitzung einberuscn, in der cr Protest einlegte
gcgen die Bcsctzung von Teilcn dcr Stadt Mannhcim und 0on
stäLtischen und staatlichen Einrichtungcn sowie gcgen die Bcschlag-
nahme von städtischem und privatem Eigentum- Dcr Stadtrat bittct
die Bevölkcrung, die Nuhe zu bewahren und nur den Anordn'ingcn
der deutschen Behörde Folge zu lcistcn. Der Landeskommissar, der
auf Einladung dieser Sitzung bciwohnte, hat stch im Namen dcr
staatlichen Verwaltungsbehörden dcr Erklärung dcs Stadtrats an-
geschlossen. Di« Eisenbahndirektion Mannhcim gibt bckannt, datz
der Zentralgüterbahnhos durch die sranzösischc Bejctzung gcsperrt
sei und deshalb keine Güter mrhr angenommcn werden könnten.

Aus Karlsruhe wird uns gleichzritlg oemeldet: Jn Wörth
aus dem linken Rheinuser sammelte stch heute vormittag cin sran-
zösisches Znfanteriercgiment» das aus Lastkrastwagcn oon
Eermersheim einrückte. Die Truppen wurden in Schulen und Sälrn
einquartiert. Um Uhr vormittags bcgab sich eine Abtcilung
von rund hundcrt Mann nnter Führung cincs Ofsiziers auf den
Marsch nach der Rhcinbrücke bei Maxau, und eine Stunde daraus
begann auch

die Besetzung des Karlsruher Rhoinhafens.

Die Soldaten gingen von der Schissbrücke bei Maxau an rheinaus-
wärts aus die Hasenanlagen zu, eine andere Abteilung dex sran-
zösischcn Truppcn näherte sich südlich der Hafenanlagen über den
Rhein und ging oon dieser Richtung hcr aus den Rheinhasen zu.
Damit sind in Karlsruhe das gesamtcHasengebiet und alle
Lagerhäuser und sonsiigen Anlagcn gegenüber dem unbesctztcn
Eebiet vollständig abgeschnürt, und der Warenverkehr von
dort aus ist bis auf weiteres unterbunden. Dic Franzoscn erklären,
datz die Absuhr oon Lebensmittcln nur Lann erlaubt wird, wcnn
vor der Absuhr dcr Warcn cine Zollgcbühr von 1V Prozent des
Warenwertes an die sranzöfische Behörde entrichtet wird.

Zu der Besetzung der einzelnen Städte w:rdcn >'ns noch folgende
Erganzungen gedral>t,.t: B:i der Bcsetzung dcr Mannhe>mer
Hafcnanlagen handelt es sich um das sogen. alte Hafeng e b t e t,
Las fluüabwiirts, aiso nördlich der Nh> nbrücke licgt, und das Nhein-
vorland, dcn Muhlauhasen. den Binncnhaicn und dcn Vcrbinbungs-
kanal, den Neuarhaien und den Jndustr.chasen um atzi. Jn diclem
Eebiete befindct sich vor allen Dingen auch das Hauptzollamt
und das Maunyeimer städti,che Elektrizitütswerk. Alle
Zugänge zu diesem Geb.et sind besetzt und ameschnrtlen. de Hafcn-
anlagen wurden von den Fran/osen ia die R h e i n z o I l gr »n ze
einbezogen. Aus diesen Ma^nahmcn der Franzos n geht her-
vor. datz es sich weniger um eine militärische Akt:on handeit. als
vie/mehr um eine wirtschaftli-che zur e n e.tl.chen Durai-
führung der Rheinzollgrenze. Ein.- wei'ere Aus ehnung der Be-
etzunq auch auf Lie Stadt Mannheim uni olelleicht auch auf
die Stadl Darmstadt. ist nicht sehr wahrschelnlich. au<> liegen
bisher keinerlei Anzeichen vor. datz eine AusdehN'Ng d r B se';ung
aeplant wäre. Uebrigens muh belont w rden, datz sowohl im Mann-
heimcr. wie auch im Karlsruh r Nheinbafen bisber e ne il.-ine
französische Be atzung xosticrt war. D >- Franzo'en st llen s,l> yu
den cclandpunkt,' däh die Besetzunq der Pfalz a ch dn ge am en
Rh-iniirom nmsaht, also nickit burch bie in, dcr M, e de) S rou es
liegende Erenze der deu schen Nhe n'ifcrbundes taatcn beruh-t wird.
Jm Mannheimer Indu.lriehafen, M^'lauhasen un) Nhe nhwcn
kaa früher cine Be'atzung von nur 10 Mcinn, s it Bcginn d r Ri hr-
aktion 30 Mann, und im Karlsruher Hafen befanden hch von allem
Anfang an etwa 60 Mann. Diese Bosatzung wurde zetzt erhebl ch
verstärkt, doch läht sich die genaue Zahl der Truppen naturlich zur
Stunde noch nicht angeben.

«

Kobkenz. 3. März. Die Franzosen besetzten Freitag avend
dle beiden rechtsrheinischcn Bahnhöfe Camp und Braubach.

Entgegen anüerslautenden Meldungen erfahren wir aus zu-
verlässiger Quelle, dah Ltmburg nicht besetzt worden ist.

*

Unsere Derliner Nedaktion drahtet uns: Ueber Mahnahmen. die
die Regiertlng in Anbetracht der durck die Mtion gegen Mannheim.
Karlsruhe und Darmstcrdt neugeschaffenen Lage zu tressen gedenkt.
verlautet.zur Stunde noch nichts. Es wird nu,r gemeldet, dah die
zuständigen Ressorts bereits eine kurze Vesprechung gehabt
haben. Man wartet zunächst noch die weiteren Nachrichten über
die Ausdehnung der Desetzung ab. da sich hier noch nicht übersehen
läht, ob die Franzosen sich nur dle Verkehrsvunkte sichern wollen.
oder ob sie die drei Städte als Erundlage für die weitere Aus-
dehnung der rechtsrheinischen BcsatzungsLone zu benutzeu aodenkcL.

' Die Reichsregierung hat sich veranlaht gesehen, die am Ruhr«
einfall nicht beteiliglen Rcgierungen aus den furchtbaren Ernst
der Lage nachdrücklich hinzuweisen. Es sieht in der Tat — wir
dürfen uns darüber keinen Selbsttäuschungen mehr Hingeben — sehr
drohend aus, was sich heute am politischcn Horizont zusammenbraut.
Die «Hossnungen aus eine Zntervcntion — wcnn sie überhaupt ein-
mal ernstlich waren — schwinden täglich mehr. Heute am 4. März
geht der ameruanische Kongreh zu Ende und die Möglichkeit eines
direkten Eingrcisens in die europäischen Angelegcnheiten wird damit
wenigstens bis zum Ende Les Jahres hinausgeschoben. Eine Tat-
sache, die sür uns Deutsche um so schwerer ins Dewicht sällt, als
Amerila wirklich das einzige Land ist, von dem wir eine wirksame
politische Hilfe erwarten konnten. Wenn diese versagt — und cs
sieht nicht so auS, als ob es noch im letzten Augenblick anders wer-
den sollte — Lann stehen wir eben ganz allein. Und was bann
mit uns geschieht, wenn wir nachgeben mühten, Larüber dürste wohl
selbst hei den Optimisten kaum noch eine llnklarheit bestehen. Oder
gibt ds wirklich noch Träumer bei uns, die glauben, Lah man sran-
zösischerseits auch nur im geringsten daran denkt, mit uns als
G le i ch b e re ch t i g t e n sich an dcn Vcrhandlungstisch zu jetzen?
Sollte es wirklich noch Leute in Deutschland gebcn, die an den ,,Ee«
rechtigkeitssinn" Framreichs glauben oder gar an das ..Weltgewissen"
appellieren, dicse xastorale Jdee, die wohl in den Cehirnen verbohr»
ter Sozialdemoiralen spukt, Lafür aber im heutigen politischen
Eeschehen auch nicht die geringste Rolle spielt? Solche Leichtgläubi-
gen hätten in der Tat nichts, aber auch gar nichts gelernt aus den
Ungeheuerlichkeiten, die wir dank deS famosen Versaillcr „Friedens"-
machwerks über uns ergehen lassen müssen. Solchen Leuten wäre auch
eine so schrille Merkwllrdigkeit verborgen gebliebcn, wie die, dah
Lngland, das einst wegen eines angeblichen deutschen Neutralitäts-
bruchs uns den Krieg erklärte, heute sich schweigend zurückzieht, wa
Frankreich uns mittcn im Frieden Lberfällt. Diese Jdeologen müh-
ten vergessen haben, Lah Lasselbe Amerika, das cinst aus Huma»
n i t ä t s grllnden in den Krieg eintrat und uns dumme Deutschcn
schliehlich mit seinen Friedensschalmeien betört und eingesangcn hat,
dah dieses sclbe Land heute gar nicht daran denkt, uns, deren Un-
glück es verschuldet hat, die hclscnde Hand zu reichcn!

So unglaublich es klingcn mag — aber es gibt in Deutschland
tatsächlich noch solche Leute. Es ist unvcrkennbar nach Lage der
Dinge, dah die Sozialdemokraten heute auf die Regierung
Cuno eincn Druck auszuüben versuchcn, um sie fiir Verhandlungen
gefügig zu machen.' Daraus zielt durchsichtig genug die ganzs Taktik
hin, die Herr Wels ünd Eenossen mit unglanblicher politischer Un-
geschicklichkeit gegen die Regierung versolgt. Man weih auf der
Linkcn sehr wohl, dah Dr. Euno nicht verhandeln kann, dah er sich
sdstgelegt hat und auch wohl nicht daran denkt, Las Veispiel des Ee-
nossen mit „der verdorrten Hand" nachzuahmen. Und weil man das
weih, muh man eben versuchen, den unbcquemen Mann zu.stllrzen,
seine Regierung zu diskreditieren. Was wäre dafür wohl geeigneter,
als auf die . Mihstände in Heer und Marine" hinzuweisen, auf die
„gehsimen Verbände", auf diesen „Herd der Reaktion", der den glau-
bensseligen Freunden von links schon immer eiil Dorn im Auge ist
und der beseitigt werden muß, wenn Las „Jdeal" dcs Wdltsriedens
verwirklicht werden soll, und uns die „Brüder" von ä'ontrs 1s
Rkin versöhnt die Hand reichen.

Man faht sich an den Kopf. Sah denn Hcrr WeIs nicht, was
er tat? Die Quittung hat er ja nun inzwischen aus F-rankreich er-
halten, wo schon die Presse srohlockt über den kommenden demütigen
Umfall Deutschlands. Frankrcich wird sein Mäglichstcs tun, um dcn
— lyan Larf wohl annchmen — unfreiwilligen Freundschaftsdienst,
den ihm Herr Wels geleistet hat, nach KrLften auszunutzen. An
dieser Tatsache werden alle Ecgenerklärungen der deutschen Sozial-
demokraten nicht das Eeringste mehr ändern köilnen. Frankreich
wird schüren und Intrigicren, bis ihm die Ersüllungsfanatiker nnd
die Vcthandlungsfreünde das deulsche Daterland ausgeliefert habcn,
um schliehlich dann am .Verhandlungstisch" neue Bedingungen z«
diktieren. Es ist wahrlich traurig genug, dah so etwas nicht nur
einn>al, nein hundertmal wieder gesagt mcrdcn mnh in einer Zeit,
wo die Tatsachen täglich, stllndlich eine unglcich wuchtigere
Sprache reden.

Das „Dementl" des H-rrn Wels steht in der Tat auf sehr
schwachen Fühen. Wir wollen ihm ja gerne glaubcn, Lah er nicht
mit dem französischen Jmperialismus symxathisiert. Das ist aber als
Sozialdemokrat seine versluchte Pflicht und Schuldigkeit, und da »
braucht er uns wahrhaftig nicht crst zu „erklärcn". Es haudclt sich
aber in der Tat ja auch gar nicht Larum. mas cr will, sonLern nur
Larmtl, was er getan hat. Und dah er Las nicht selber beizeiteq
gesehen hät, ist in der Tat cin Veispiel von seltener politischer Un»
reise. Es könnte wiederum komisch sein, wenn es nicht ebcn s«
traurig wäre, dah sich ausgerechnet heute die EozialLemokratcn am
geräuschpollsten aufregen über „beutiruhigende Ereignisse" in Mün»
chen. Dah dort 80 (sage und schreibc achtzig) Nuhrslüchtlingc auf.
getaucht sind, die nicht In das sozialdemokratische Horn tutcn, ist ii«
Ler Tat vcrdächtig. Aber könnie man diesen „Reaktionärcn", die di«
französischen „Friedensabsichten" am eigenen Leibe ersahren haben,
verLcnken, wenn ste nicht mit derselbrn Engelsgeduld die Peitschen.
hiebe der Eindringlinge ertragen wie Herr Wels, der sie weniger
sühlt, weil er einstweilen noch weit vom Schuh ist? JndesseN
es sind in Wirklichkeit ja weniger die 80 D-ulschen, die den Ee.
nosscn Sorge machen. Es ist etwas Anderes, viel Schwerwiegendcres.
was sie bedrllckt, und diesmal — mit Recht. Es stnd die National«
sozialisten! Es ist gewih nicht zu vcrkennen, dah die Anhängerzahl
dieser neuen Partei auherordentlich gcstiegen ist und noch täglich zu»
nimmt. Aber danl wessen? W e r hat sich denn die Schuld daran
zuzujchreiben, wcnn nicht die Sozialdemokratie, dix mit ihrer Kapi«
 
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