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Heidelberger Zeitung — 1900 (Januar bis Juni)

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Nr. 101-126 (1. Mai 1900 - 31. Mai 1900)
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vorgenommen, wie kaum je zuvor. Die Stichwahl erhält
übrigens eine besondere politische Bedeutung dadurch,
daß die Sozialdemokratie mit ihrer seitherigen Taktik ge-
brochen und ihre Anhänger aufgefordert hat, ihre Stim-
men dem Nationalliberalen zu geben. Freilich sind wir
weit entfernt davon, in diesem Borgang auch nur den An-
fang eines Frontwechsels zu erblicken; es muß vielmehr
die Stellungnahme der Sozialdemokratie in diesem einzel-
nen Falle lediglich als eine Demonstration gegen das
Centrum wegen seines Eintretens für die Flottenvorlage
und für die I-sx Heinze angesehen werden. Immerhin
aber ist die Haltung der Sozialdemokratie ein Beweis da-
für, daß die alte Parole: „Unter allen Umständen gegen
die Nationalliberalen!" bei der Opposition ihre Giltigkeit
verloren hat.
—-!!—- Vom 7. badischen Reichstagswahl-
kreis, 26. Mai. Nach der Wahl. „Die Schlacht ist
aus, geschlagen ist das Heer", so müssen wir leider be-
kennen; aber das Centrum wird auch eingesehen haben,
daß in dem schon so lange todtgesagten oder für im Ab-
sterben begriffenen Nationalliberalismus doch noch Leben
steckt und daß noch nicht Zeit zum Triumphiren ist. Nur
465 Stimmen Unterschied. Diese Stichwahl hat noch mehr
wie die Hauptwahl gezeigt, daß die Bauernvereine die
harmlosen, unpolitischen Zwecken dienenden Vereine denn
doch nicht sind. In einem Dorf, Mucken schöpf, voll-
ständig protestantisch, fielen schon im ersten Wahlgang
64 Centrumsstimmen, und trotz lebhafter Agitation im
2. Gang noch 8 Stimmen mehr. Da muß man sich
denn doch fragen, wo die Ursache für eine solche, sich
selbst vergessende Haltung der Wähler liegt, und man wird
nicht fehl gehen, wenn man die Ursache im dortigen Bauern-
verein erblickt. Wo die Haltung der Bauernvereine, wie
Dorf Kehl z. B>, eine andere war, wird der einzige
Grund die Stellung des dortigen Vorstandes sein.
— Die Steigerung der Einnahmen der badischen
Bahnen dauert fort. Inden vier ersten Monaten dieses
Jahres wurden 1900000 mehr vereinnahmt, als in der
gleichen Zeit des vorigen Jahres.
Badischer Landtag. L. 0. Karlsruhe, 26. Mai.
(84. Sitzung der Zweiten Kammer.) Auf der Tages-
ordnung standen Eingaben.
Ueber die Bitte der Gemeinde Gundelfingen um Er-
hebung ihrer Lokalzugstation zu einer Kursstation ging das
Haus ohne weiteres zur Tagesordnung über. Die Bitte der
Gemeinde Dürrenbüchig um Errichtung einer Haltestelle
an der Kraichgaubahn daselbst wurde Großh. Regierung zur
Kenntnißnahme überwiesen, desgleichen die Eingabe der Gemeinde
Oensdach um Halt des Zuges 74 an der Haltestelle daselbst.
Die Petition der Gemeinde Dürrenbüchig wurde von Abg.
Kogler (natl.), die der Gemeinde Oensbach von den Abgg.
Geppert und Fischer ll. (Centr) befürwortet. Die Berichte
erstatteten nach einander die Abgg. Fische r II., Kirchen-
bauer und Blümmel.
Die nächste Sitzung findet am Montag, 28. Mai, Nachmittags
4 Uhr statt. Tagesordnung: Budget der Eisenbahn-
schuldentilgungskasse und Bericht über das Finanz-
gesetz.
Hessen. Darmstadt, 26. Mai. Aus Jagdschloß
Wolfsgarten erhält die Darmst. Ztg. die Nachricht, daß
die Großherzogin gestern Abend kurz nach acht Uhr
von einem tobten Knaben entbunden worden ist.
Bayern. München, 25. Mai. In der heutigen
Sitzung des Finanzausschusses des Landtages fragte beim
Etat des königlichen Hauses und Hofes der Berichterstatter
Dr. Deinhard an nach dem Befinden des Königs.
Ministerpräsident Frhr- v. Crailsheim theilte darauf, der
Allg. Ztg. zufolge, mit, daß der König seit zwei
Jahren etwa an einem Blasen- oder Nieren-
leiden erkrankt sei; sein geistiger Zustand erschwere
sehr die Untersuchung. Zu Besorgniß für sein Leben sei
zur Zeit keine Veranlassung; die Nahrungsaufnahme sei
genügend; Gehen und Stehen vermeide der Kranke; er
bringe 6 bis 8 Stunden täglich sitzend im Freien zu.
Der geistige Zustand sei unverändert.
Preußen. Stolp (Pommern), 23. Mai. Ueber
Krawalle, die hier vorgekommen sind, berichtet die Ost-
fee-Ztg.: In dem Kontor einer Kohlenhandlung in der
Langenstraße hatte sich ein Arbeiter des Hausfriedens-
bruchs schuldig gemacht und es hatte ein Polizist zur Hilfe
geholt werden müssen, der die Verhaftung des Excedenten
vornehmen wollte; der Arbeiter aber widersetzte sich und
stach schließlich mit einem Messer auf den Polizeibeamten

ein, der seinerseits von der blanken Waffe Gebrauch machte.
Es wurde weitere polizeiliche Hilfe herangezogen und der
Arbeiter in den Polizeigewahrsam gebracht. Dieser Vor-
fall spielte sich um 6 Uhr Abends ab. Er hatte eine
Menge von Leuten angezogen, die zum Theil für den Ar-
beiter Partei nahmen. Ihre Schaar wuchs im Laufe des
Abends immer mehr an; sie demonstrirten vor der Polizei,
durchzogen die Straßen, stießen antisemitische Hetzrufe
aus und zertrümmerten in einigen Läden jüdischer Kauf-
leute die Fensterscheiben. Die Polizei war dem Treiben
gegenüber machtlos, und man wandte sich daher schließlich
an den Kommandirenden des Husarenregiments, der eine
Schwadron zu Pferde und mit blankgezogenem Säbel gegen
den Haufen aussandte, indem er die Gewalt über die
Stadt in die Hand nahm. Gegen 10 Uhr waren die
Straßen gesäubert und der Tumult zu Ende. (Die Un-
ruhen haben sich am nächsten Tag wiederholt.)
Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Grobherzog haben dem
Oberbürgermeister Albert Gönner in Baden das Kommandeur-
kreuz zweiter Klasse mit Eichenlaub des Ordens vom Zähringer
Löwen verliehen.
— Die Versetzung des Buchhalters Anton Kuth beim
Großh- Finanzamt Breiten zum Großh. Finanzamt Hornverg
wurde zurückgenommen und Buchhalter OttoRott beim Großh.
Finanzamt Donaueschingen, statt zum Großh. Finanzamt Breiten
zum Großh, Finanzamt Hornberg versetzt.
Karlsruhe, 26. Mai. Der Großherzog hatte
eine schlafreichere Nacht, das Allgemeinbefinden war daher
heute ein günstigeres. Der Bronchialkatarrh erfordert nach
ärztlichem Rath große Ruhe und Vermeidung von Ge-
sprächen. Die Großherzogin wohnte heute Vormittag
11 Uhr der musikalischen Matinve bei, mit welcher der
Bazar zu Gunsten des neu erbauten Vincentius-Kranken-
hauses im Markgräflichen Palais eröffnet wurde. Am
Nachmittag um halb 3 Uhr traf dieselbe zum Beginn des
Gartenfestes dortselbst ein und besichtigte in einem Rund-
gange sämmtliche Veranstaltungen im Garten und im Pa-
lais. Die Kronprinzessin von Schweden und Nor-
wegen wird Dienstag, den 29. d. Pt. aus Venedig hier
eintreffen. Dieselbe beabsichtigt über das Pfingstfest hier
zu verweilen.
— Der im vorigen Jahre außerordentlich gestiegene Ver-
sandt an Kohlen, Koks, Brikets, Bau- und
sonstigen Rohmaterialien hat im Laufe dieses Jahres
eine wettere nicht unerhebliche Zunahme erfahren, so daß zur
Befriedigung der Anforderungen zeitweise jetzt schon höhere
Wagengestellungen, als in der verkehrsreichsten Zeit der früheren
Jahre, erforderlich gewesen sind. Im kommenden Herbste, bei
Htnzutritt der Verfrachtung der landwirthschaftltchen Erzeugnisse,
wird daher der Verkehr voraussichtlich zu ganz besonderer Stärke
anwachsen und seine Bewältigung außergewöhnliche Anforderungen
an den Eisenbahnbetrieb und die Wagenzuführung stellen. Es
ist deshalb dringend erwünscht, daß die Bestrebungen der
Eisenbahnverwaltungen, den Verkehr in dieser Zeit anstandslos
zu bewältigen, allerseits Unterstützung finden. Vor allem ist es
hierzu erforderlich, daß der Kohlenvedarf für den Winter, nament-
lich an Hausdrandkohle, möglichst frühzeitig gedeckt
wird und, um allen Zufälligkeiten im Winter zu begegnen,
soweit irgend angängig, Vorröthe in den Sommermonaten ange-
sammelt werden. Ferner wird den Interessenten empfohlen, bei
allen Bezügen in Wagenladungen auf die volle Ausnutzung des
Ladegewichts der Wagen Bedacht zu nehmen und sich die schleunige
Be- und Entladung der Wagen angelegen sein zu lassen, damit
so lange als es im öffentlichen Interesse angängig ist, von einer
allgemeinen Verkürzung der Ladefristen abgesehen werden kan».
Ausland.
Schweiz. Bern, 25. Mai. Eine vom eidgenössi-
schen Finanzdepartement einberufene intercautonale
Experten-Kommission zur Besprechung von Maßnahmen
gegen fortwährende, die Emissionsbanken (Banken, die be-
fugt sind, Banknoten auszugeben) schwer schädigende Aus-
fuhr von Baarschaft findet das einzige auf die
Dauer wirksame Hilfsmittel in der Befestigung der Ursache,
nämlich des ungünstigen Wechselkurses auf das Ausland,
besonders auf Paris. Der hohe Curs hat seine Ursache
in der passiven Handelsbilanz der Schweiz. Die Banken
könnten da nicht helfen; wohl aber sei es wünschenswerth,
daß von den eidgenössischen Behörden beim Abschluß neuer
Handelsverträge auf Verbesserung der Handelsbilanz durch
Ermöglichung einer vermehrten Ausfuhr hingcarbeitet
werde, zu welchem Zweck vor allem für sorgfältige Aus-
rüstung unserer Vertragsunterhändler zu sorgen sei. Da
die Banken selber bei ihrer jetzigen Organisation wenig

thun könnnen, bezeichnet die Kommission als unerläßlich
für die Verbesserung des Zahlungsverkehrs die rasche Er-
richtung einer starken centralen Notenbank.
Afrika. Das Interesse des deutschen Publikums
an dem Kriege in Südafrika ist sichtlich erlahmt; die Zei-
tungen fassen sich dementsprechend in letzter Zeit wesentlich
kürzer. Für heute ist zu bemerken, daß die britischen
Truppen den Vaalsluß bei Groblersdrift in der Nähe von
Parys überschritten haben. Die Brücke wurde bei Ver-
eeniging von den Buren in die Luft gesprengt. Damit
hat also die von Kroonstadt vorgehende britische Hauptmacht
das Gebiet der Transvaalburen betreten. Die Buren
stehen östlich davon noch auf Oranjegebiet bei Heilbron,
das schon einmal von den Engländern besetzt war, von diesen
aber aufgegeben und von den Buren wieder besetzt worden ist.
Amerika. Chicago, 25. Mai. Eine Versammlung
von Vertretern der ersten Büchsenfleisch-Firmen
richtete an den Sekretär des Ackerbau-Departements und
an den Senator Cullom eine Eingabe, worin sie um die
Unterstützung beider nachsuchen, damit der deutsche Fleisch-
beschau-Gesetzentwurf in seinen Folgen für Chicago ab-
gcschwächl werde. Insbesondere ersuchen sie darum, An-
strengungen zu machen, damit der Gesetzentwurf nicht früher
in Kraft trete, bevor nicht die augenblicklich in Kraft be-
findlichen Verträge abgelaufen sind. Dem Vernehmen nach
versprachen beide, ihr Möglichstes zu thun.

Aus Stadt und Land.
Heidelberg, 28- Mai.
* Zu Ehren der Anwesenheit Ihrer Kgl. Hoheit der Groß-
herzogiu in hiesiger Stadt gestern Nachmittag waren die Häuser
beflaggt. Ihre König!. Hoheit fuhr nach der Ankunft sogleich
nach der Peterskirche zur Aufführung des Weihnachts-Mysteriums
von Wolfrum. Nach dem Concert begab sich Ihre Kgl. Hoheit
nach Schwetzingen. Mit ihr wohnte Ihre Großh. Hoheit die
verwittwete Fürstin von Lippe der Aufführung bei. In Beglei-
tung der fürstlichen Damen befanden sich die Hofdamen Freiin
von Zand, Freiin von Lindenberg, Obersthofmeister von Edels-
heim und Geh. Kabinetsrath von Chelius.
8 Kathol. Kirchengemeindevertretung. Die auf gestern Vor-
mittag 11 Uhr in die röm.-kath. Nolhkirche einberufene Sitzung
der kathol. Kirchengemeindevertretung war nur schwach besucht.
De- erste Gegenstand der Tagesordnung betraf die Ersatzwahl
für den verstorbenen Gymn.-Professor Both, zu dessen Ehren
auf Vorschlag des Vorsitzenden, Stadtpfarrer Wilms, sich die
Versammlung von den Sitzen erhob. Gewählt wurde der Amts-
nachfolger oes Verstorbenen, Prof. Bauer. Ueber den zweiten
Berathungsgegeustand, betr. den Kirchensteuer-Voranschlag für die
Jahre 1900 und 1901, erstattete Dr. Moufang ausführlichen
Bericht, worauf wieder wie in den beiden vorhergegangenen
Jahren die Erhebung einer Kirchensteuer von 4 Pfg. von
100 Mk. Steuerkapital einstimmig beschlossen wurde, welche nach
Abzug der Erhebungskosten voraussichtlich jährlich 10650 Mk.
eindringen dürste. In den Jahren 1898/99 betrug das Rcin-
erträgniß 9850 Mk. Nach Verkündigung der Kirchensteuer- und
Kirchenbaukostenrechnung für die Jahre 1898 und 1899 schloß
der Vorsitzende mit Worten des Dankes die Versammlung.
O Rudersport. Der Heidelberger Ruder-Klub ver-
anstaltete genern seine jährliche Frühjahrs.Ausfahrt. Dabei
fuhren 8 Achter, 5 Vierer, 1 Zweier, 1 Einser. 1 Grönländer
mit. zusammen 57 Mann, nach dem Adler in Ziegelhausen.
Dort war auch eine Anzahl Mitglieder mit der Bahn eingetroffen
und in diesem Kreise wurden von einem Mitgliede gestiftete
Becher an die fünf Ruderer vertheilt, die im Jahre 1899 in
über 100 Ruderstunden gerudert hatten. Bei der Thalfahrt be-
gleiteten einige Damen im Vergnügungszweier die Boote. Der
alte Schulachler, dessen letzte Fahrt die gestrige sein sollte, schlug
im Steingcrümpel voll und sank, ein würdiger Schluß für eine
7jühre Thätigkeit im Dienste des Klubs. Die Mannschaft konnte
leicht durch Schwimmen das Ufer erreichen.
Konzerte der 23er aus Landau. In Vertretung des
städt. Orchesters concertirte am Samstag und Sonntag auf deol
Schlosse und im Stadtgarten die Kapelle des kgl. bayr. Jufanierie-
Regiments Nr. 23 aus Landau unter Leitung ihres schneidigen
Kapellmeisters Herrn Aug. Henkelmann. Die Kapelle besteht
aus 42 Mann, ihr Zusammenspiel ist ganz ausgezeichnet. Die
im Programm verzeichnelen Musikpiscen wurden vorzüglich a»s>
geführt und mit grotzem Beifall ausgenommen, so daß verschiedene
Zugaben, insbesondere schöne Märsche erfolgten. Wir hoffen, >>v
Lause des Sommers die Kapelle noch öfters hier zu hören. Da»
Eoncert am Samstag Abend im Stadtgarten, das leider wege/j
des schlechten Wetters nicht sehr stark besucht war, begann »stk
dem Marsch von L. Andrs „Unter deutscher Flagge". Von de»
übrigen Stücken wollen wir nur die Ouvertüre „Phedre" »o»
Massenet und die Fantasie aus der Oper „Lohengrin" von M
Wagner hervorheben, die ausgezeichnet einstudirt waren und A
einer bis in die geringsten Einzelheiten fein nuancirlen Weist
zum Vortrag kamen, so daß die Zuhörerschaft nach jedem Saö°
derselben zu dankbarem Beifall begeistert wurde. Die Concert
am Sonntag, um 4 Uhr im Schloß und 8'/, Uhr im Stadtgase"'
waren stark besucht. Die Zuhörer sprachen sich über das Dat'
gebotene sehr befriedigt aus.

Bachvereins-Concert am 27. Mai 1900.
A Heidelberg, 28. Mai. „Ein Weihnachtsmysterium im
wunderschönen Monat Mail" so wird wohl Mancher lächelnd
ausgerufen haben, als er die Ankündigung des Concerts in der
Pelertskirche las. Diese Aufführung von gestern vor Ihrer Kgl.
Hoheit der Großherzogin hat ihre Geschichte. Seitdem nach der
ersten Wiedergabe des Weihnachtsmysteriums von Wolfrum durch
den Bachverein vor zwei Jahren dies originelle, bedeutende Werk,
wie wir es vorausgesagt haben, seinen Weg durch Deutschlands
musikalische Städte angetreten und dort die begeisterndste Auf-
nahme gefunden batte, war es der Wunsch Ihrer Königlichen
Hoheit, das Mysterium auch in Karlsruhe zu hören. Aber
Hindernisse der verschiedensten Art schoben den Termin immer
wieder hinaus, und Ihre Kgl. Hoheit hatte die große Liebens-
würdigkeit, mehrmals diese Verzögerung Herrn Prof. Wolfrum
mit dem Ausdruck des Bedauerns anzuzcigen. So war es eine
Pflicht der Höflichkeit seitens des Bachvereins, seinerseits den
Großh. Herrschaften die Bereitwilligkeit auszudrücken, das Weih-
nachtsmysterium hier noch einmal aufzusühren und Ihre Köntgl.
Hoheiten dazu einzuladen. Das Anerbieten wurde allerhöchsten
Ortes sofort angenommen und als Aufführungstag der 27. Mai
bestimmt. Zu Aller Bedauern war Se. Kgl. Hoheit der Groß-
herzog durch eine Unpäßlichkeit am Erscheinen verhindert. Da-
gegen erschien in Begleitung der Frau Großherzogin Ihre Großh.
Hoheit die verwittwete Fürstin von Lippe-Detmold, die selbst
hoch musikalisch ist und in tbrem Palais einen kleinen gemischten
Chor zum Singen zu versammeln Pflegt. Die allerhöchsten Herr-
schaften, die sich jeden offiziellen Empfang ausdrücklich verbeten
hatten, fuhren vom Bahnhof gleich zur Peterskirche, wo sie von
Geh. Regierungsrath Pfister, Sr. Magnistcenz dem Prorektor
Geh. Bergrath Rosenbusch, Oberbürgermeister Dr. Wilckens und
Oberstleutnant Osiander empfangen wurden. An der Kirchthüre
hatten sich die Damen und Herren vom Vorstand des Bachvereins
versammelt, um die Fürstinnen zu begrüßen. Der I. Vorstand,
Prof. Maler, sprach seinen Dank für ihr Erscheinen, sowie die
Freude des Vereins aus, vor Ihrer Kgl. Hoheit das Oratorium
zur Ausführung bringen zu dürfen. Nachdem den fürstlichen

Damen von Frau Baumeister Schmidt und Frl. Maler Sträuße
herrlicher Rosen überreicht und die einzelnen Vorstandsmitglieder
vorgestellt worden waren, wurden sie nach ihren Plätzen ge-
leitet, und das Concert nahm seinen Anfang.
Da schon nach der ersten Aufführung aus sachkundiger Feder
eine ausführliche Besprechung des Oratoriums in diesem Blatte
erschienen ist, so können wir uns über die gestrige Wiedergabe
kürzer fassen.
Es darf wohl vorausgeschickt werden, daß die diesmalige Aus-
führung mit ganz besonderer Liebe seitens der Mitwirkenden vor-
bereitet war. nicht sowohl wegen des besonderen Anlasses des
allerhöchsten Besuches, oder um Prof. Wolfrum die Freude an
der Wiederholung seines Werkes auszudrücken, um die er noch
bei der letzten geselligen Vereinigung des Bachvereins seitens des
I. Vorstandes unter jubelnder Beifallszustimmung der Anwesen,
den gebeten worden war, als besonders weil thatsächlich durch
das erneute Studium eine erhöhte Freude an der lieblichen und
doch wieder erhabenen Musik alle Sänger beseelte.
So erschien deshalb auch die gestrige Aufführung ganz be-
sonders gelungen und verfehlte nicht, auf die Anwesenden einen
tiefen Eindruck zu machen. Besonders sprach sich auch die Frau
Großherzogin entzückt über das Werk und die vortreffliche Auf-
führung aus und bedauerte wiederholt, daß der Großherzog nicht
anwesend sein konnte.
Unter den Solisten waren uns die drei Damen von der ersten
Aufführung her bekannt: Frau Julia Uzielli und Fräul. Anna
Wiegand aus Frankfurt und Frau Wolter-Choinanus aus
Weimar, die ihre Partien mit ihre» wunderbaren Stimmmitteln
in herrlicher Weise zu Gehör brachten. Von den Herren der
ersten Aufführung hatte nur unser Herr Dürr wieder die Bariton-
Partie übernommen und führte sie mit seiner weichen, wohl-
thuenden Stimme aus. An Stelle des kürzlich verstorbenen, un-
vergeßlichen, treuen Freundes unseres Bachvereins, Herrn Vogl,
war Herr Robert Kaufmann aus Zürich getreten, und wir freu-
ten uns wieder einmal, den begabten Sänger mit seiner herr-
lichen Stimme, die mühelos das hohe L erreicht, und mit seinem
verständnißvollen Vortrag zu hören. Herr Keller aus Ludwigs-

hafen sang den einen Hirten mit dramatischer Lebendigkeit »n
vortrefflichem Vortrag. Frau Uzielli trug die Arien der MaA
mit keuscher Innigkeit und tiefer Empfindung vor. Die keines
Wegs leichte Partie brachte sie mit ihrem hohen Sopran iu tade»
loser Reinheit herrlich zur Wirkung. Auw Frl. Wigand war j
ihrer Partie als Engel und Hirtin vortrefflich mit ihrer hobt
reinen Stimme, während Frau Walter mit ihrem volltönende
Mezzo-Sovran sich ihr würdig anschloß.
Den Orgelpart hatte Direktor Seelig übernommen und n>
viel Verständniß und Sicherheit durchgeführt.
Prof. Wolfrum als Dirigent versteht es trefflich, sein kun>
lerisches Empfinden dem von ihm geleiteten Chor und OrchtN.
mitzutheilen, und so ist es kein Wunder, daß die gestrige AN
führung ganz vorzüglich gelang und von großartiger Wirr»n
war.
Neben der kindlich frommen Ausdrucksweise der Chöre, die
Einklang mit der poetischen Sprache des Textes steht, kamen ^
Stellen, in denen die ganze Wucht der menschlichen Stimme 1 ^
mit dem Orchester vereint, ganz großartig in der Kirche
Geltung. Die Chöre trete» ja allerdings verhältnißmäßig n^K
ger hervor, aber einige zeigen doch die polyphone Kunst " §
Komponisten in hervorragender Weise. Wir erinnern nur an° -
Schlußchor „Dies ist der Tag" und an „Ehre sei Gott -
wie aus lichten Höhen anfangs von Ferne ertönt und zuu>n°
wältigenden Fortissimo sich steigert, gleichsam zu einem >w
mel und auf Erden erklingenden Lobgesang, der von
Wirkung ist und die Seele mit unwiderstehlicher Kew
mit sich emporhebt. z,
Den vollen Reichthum aber an Gedanken, Wendungen
Perioden mit einer an Bach erinnernden kontrapunktlicheu D»
führung hat Wolsrum in seinen Orchestersätzen gezeigt.
herrscht eine Poiyphonie von gewaltiger Wirkung, dank
modernen Orchestertechnik, die der Komponist als Mestler^jt
herrscht. Er hat eine geradezu erstaunliche Ausdruckstanz^,,
in der Orchesterbehandlung. Diese glühende Farbenpracht >n
Jnstrumcntalsätzen mit ihren originellen Klangwirkungen
zu dem Schönsten, was die letzten Jahre hervorgebracht N
 
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