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Heidelberger Zeitung (44) — 1902 (Juli bis Dezember)

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Nr. 229-255 (01. Oktober 1902 - 31. Oktober 1902)
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zu entscheiden. Es unterlregt keinem Zweifel, daß
sämtliche Staaten des Erdkreises, und zwar jeder für
sich, das Recht haben, sede Unbill, die ihren Landesge-
nossen von den amerikanischen „Revolutionsrepubliken"
zugefügt wird, zu rächen. Monroe-Doktrin und derglei-
chen Rücksichten kommen dabei gar nicht in Betracht. Das
deutsche Reich ist bereits in biesem Sinne gegen die Neger
von Haiti vorgegangen, als es wegen einer einem Deut-
schen zugefügten Unbill das haitische Schiff „Crete-a-
Pierrot" zum Untergang brachtc. Je mehr aber der
Weltverkehr in jenen anfständigen Republiken durch
die, wie es scheint, immer weiter um sich greifenden wil-
den Zustände gefährdet wird, desto näher tritt naturge-
mäß die Frage heran, ob es nicht möglich sei, durch ge-
meinsame Schritte die Sicherung in jenen Ländern her-
beizuführen. Der Gedanke ist nicht neu, seine Verwirk-
lichuug indessen nicht so cinfach, denn sonst wiirden wohl
schon angesichts der wachsenden Gefahren Vorschläge aus-
getaucht sein.

Wotkszählung 190V.

Jn Fortsetzung der bisherigen Beröfsentlichungen des Kai-
serlichen Statistischen Amts in Bczug auf die Volkszählung
1900 bringt das eben erschtencne Biertrljahrshcft zur Sta-
tistik des Deutschen Reichs weitcre Ergcbnisfe dieser Zählung.
Sie betreffen Alter, Familienstand, Religron, Muttersprache der
Bevölkerung, sowie die Verteilurrg der Bevölkerung auf Stabt
und LaNd.

Was das Alter betrifft, so stehen vo>r der Reichsbevölkerung
25 Millionen (44 v. H. der Gesamtheit) im Alter bis zu 20
Jahren, 17 Millionen (30 v. H.) im Alter von 20—40 Fah-
rcn, 10 Millionen (18 v. H.) im Alter von 40—60 Fahren
und 4 Millionen (8. v. H.) im Alter von über 60 Jahren.
Fm Vergleich zum Volkszählungsergebnis 1890 ist die Alters-
klasse von 20—40 Fcthren nm 1,2 v. H. stärker vertreten.

Hinsichtlich des Fmnilienstandes teilt sich die Bevölkerung
in 33 Millioncn (59 v. H.) Ledige, 20 Millioneu (35 v. H.)
Vcrheiratete und 3 Millionen (6 v. H.) Bcrwitwete und Ge-
schiedene. Jn den einzelnen Altersklassen erscheint die Fami-
lienftandsgliederung natürlich in veränderter Gestalt. Wäh-
rend die Altersklasse bis zu 20 Jahren im Wesentlichen uur
Lcdige (99,82 v. H.) aufweist, sind in den anderen Alters-
klasscn die Verheirateten zahlreicher, und zwar beträgt ihr An-
teil bici den 20—40jährigen 56 v. H., bci den 40—60jährigen
79 v. H., bei den über 60jährigen, unter denen sich 42 v. H.
Verivitwete (und Geschiedene) bcfinden, 49 v. H. Seit 1890
ist die Vertretung der Verheirateten unter der Bevölkcrung von
34 auf 35 v. H. gestiegen.

Dem Religionsbekenntnis nach ivurdcn 1900 gezählt 35
Millionen (62 v. H.) Evangelische, 20 Millionen (36 v. H.)
Katholische, 204 000 andere Christen, 686 948 (1 v. H.)
Jsraeliten, 995 Bekenner sonstiger nicht-christlicher Religionen,
10 000 Personen anderen Bekentnisses und 6000 Personcn
ohne Nngabc dcs Rcligionsbekenntnisses. Gegenüber 1890
haben sich die Evangelischcn nm 4,2 Millionen odcr 13,6 v. H.,
dic Katholiken um 2,7^Millionen odcr 15 v. H., die Juden um
19 000 oder 3,4 v. H., vermehrt.

Was die Muttersprache der Bcvölkerung anlangt, so habcn
62 Millionen deutsch als Muttersprache. Dcntsch und eine
frcmde Sprache sprcchen 253 000 Personen, darunter 170 000
deutsch und polnisch, 24 000 deutsch und wendisch, 11 000
deutsch und miasurisch. 4,2 Mllionen haben eine fremde (nicht
dcntschc) Muttersprache. Bon denselben sprechen 3 Millionen
polnksch, 212 000 französisch, 142 000 masnrisch, 141 000
dänisch, 106 000 litauisch, 100 000 kassübisch, 66 000 ita-
lienisch, 43 000 tschechisch. Da frühcr Nachweise über dle
Mnttersprache sur das gesamte Rcichsgebict nicht erhobcn wur-
den, ist ein zeitlichcr Verglcich dieser Daten einstweilcn nicht
möglich.

Von dcn Ergebnissen über die Vertcilung der Bcvölkcrung
auf Stadt »nd Land ist bemerkcnswert, datz in den 3360 städti-
schen Gemeinden, mit 2000 und mehr Einwohnern, 30,6 Mil-
lionen oder 64,3 v. H. der Gesamtbevölkerung, in den 73 599
ländlichen Gcmeinden 26,7 Millioncn (46,7 v. H.) leben.
Da im Iahre 1895 die städtische Bcvölkerunch 26,3 Millioncn,
die ländliche 26,0 Millionen bctrug, hat sich inzwischen die
ländliche nm 288 416 odcr 1,1 v. H. vcrringert zu Gunsten
dcr städtischen Bevölkcrnng, deren Zahl um 4 376 693 odcr
16,7 v. H. gcwachsen ist.

Die weitercn Einzelhchtcn der bci dcr Volkszählung von
1900 fcstgcstellten Ergcbnisse werden, abgesehen von den be-
sondercn Veröffentlichnngen der statistischcn Landcsämtcr,. vom
Kaiscrlichen Statistischen Amt in eincm ansführlichen Tcxt-
nnd Tabellenband dargcstellt, dcssen Fertigstcllung in einigen
Monaten möglich sein wird.

Kleine Zeitunq

-- Hcilbronn, 1. Oktobcr. Gestern begannen vor
dem hiesigen Schwnrgericht die anf 10 Tage berechneten
Bcrhandlungen gegen die Direktoren der Hcilbronner
Geweilliebank, Wilhelm Fuchs nnd Gotthilf Keefer und
ihren Proknristen Eugen Krug.. Am 13. September
vorigen Jahres hatte Tirektor W. Fuchs in einer Gene-
rakversammluiig dem Anfsichtsrat Pköhtich erklärt, die
Hälfte des Aktienkapitals sei verloren, sonst seien die

Bestände mtakt. Der Versuch einer Rettungsaktion miß-
glückte. Auch aüe Anstrengungen, den Konkurs zu ver-
hüten, waren vergeblich. Es stellte sich nämlich alsbald
heraus, daß öas gesamte Aktienkapitat nebst dem buch-
iiiäßigen Resevvefonds mj.t zusammen mehr als Mil-
lionen Mark verbraucht und daß auch die Guthaben der
Gläubiger angegrifsen waren. Es erfolgte daraus die
Verhaftung der drei Angeklagten, sodann die Konknrs-
eröffnnng ani 11. Oktober nnd die Einleilnng ides
Strafverfahrens gegen die Schnldigen. Die Vorunter-
suchung erstreckte sich znnächst nur anf den Vevdacht der
llntrene nnd der Bilanzverschleiernng; sie förderte in-
dessen immer mehr Rechtswidrigkeiten zu Tage, wegen
deren die Angeklagten sich jetzt zu verantworten häben.
Sie haben ein starkes Jahr in llntersuchungshaft zuge-
bracht. Die Voruntersuchung ist nach dem Ilrteil der
Sachverständigeii die umsangreichste, die in Württem-
berg überhaupt seit Bestehen der neuen Prozeßgesetze
geführt worden ist, und zwar von Landrichter Kart
Mandry. Die Anktage vertritt Oberstaatsanwalt Fr.
Hartmaiin. Den Vorsitz führt Landgerichtsdiret'tor AI-
bert Willich. Referent ist Landgerichtsrat Paul Ballufs.
Die Verteidignng haben drei Stnttgarter Rcchtsanwälte
übernommen, und zwar für Fuchs Regieruiigsrat Dr.
Schmal, für K«eefer Dr. Milczewski und für Krng Dr.
Reis. Als Zengen sind gegen 70 Personen geladen, zu-
meist geschädigte Aktionäre, die durch die Änssicht auf
eine bichprozentige Dividende verführt worden waren.

— Dcr Umban dcs Schlosscs in Fricdrichsruh ist
jetzt soweit gefördert worden, daß dessen Räumc bezogen
werden können. Fürst Herbert Bismarck ist mit Familie
am Montag in Friedrichsrnh eingetroffeii, um danernd
Wohnsitz im Schlosse zn nehmen. Das Sterbezim -
»i e r des AItrei ch skanzIer s ist nnberührt ge-
blieben; es soll in dem Zustande erhalten bleiben, wie es
war, als der große Kanzler in ihm die Augen für immcr
schloß. Der nene Aiibaii des Schlosses ist noch nicht ganz
fertiggestellt, geht aber demnächst seiner Vollcndung ent-
gegen.

— Dic Beteiligung an der tzom 4.—7. Oktober in Wies-
lmdcn stcrttfindenden fünftcn Gencralversammlung des Bundes
deutscher Francnvcrcinc verspricht nach den biKher eingelause-
nen Anmeldungen cine antzergewöhnlich zahlreiche zu werden.
Dem Bnnde sind gegenwärtig 166 Bereine angeschlossen (gegen
131 bei der letzten Generalvcrsainmlung), die durch ungefähr
200 Dclegierte vertreten sein werden. Bon den znr Ver-
handlung kmnmendcn Anträgen gelten etiva die Hälfte eineM
weiteren Ausbau der Organisation, wichtigen Statuten- und
Geschäftsordnungsänderungen. Ueber diese wird in geschlossener
Sitzung Sonntag, den 6. Oktober beraten. Alle Anträge auf
Erweiterung dcs bisherigen Arbeiisgebietes des Bundes, auf
Stellimgnahme zu Tagesfragen u. s. w. ivcrden in den allge-
mein zugänglrchen Sitzungen verhandelt, in denen auch sämt-
liche Btrichte erstattet werden. Gbenso slnd die Sitzungen der
Kommissionen, in denen u. a. die Thcmata „Belehrimg übcr
die geschlechtltchen Verhältnisse in Schüle und Haus" (Er-
ziehnngskmnmission), „Schutz der Konfektionsarbeiterinnen"
sKommission für Ärbeiterinnenschuh), „der Erlatz des preuß.
KultuSministers, betr. Schule und Alkoholismus" (Kommission
zur Bekämpfnng des-Alkoholismus) behandelt werden, öfsent-
(ich. Jn drci grotzen Abendvcrsammlungen werden Fragen der
wciblichen BUdnng, der ösfcntlichcn Sittlichkeit, der
Stellnng der Fraucn znr Politik. vom Stcmd-
pnnkte des Bundes behandelt. Die Referentümen
dazu sind: Frl. Helene Langen (Wissen und sittliche Kultnr),
Frl. Mathilde Plank (die Reform der höheren Mädchenschule),
Frl. Anna Pappritz (die wirtschaftlichen Ursachen der Pro-
stitution), Frau Hanna Bieber-Böhm (die Gefährdung der
Augeud und das Fürsorgeerziehungsgesetz), Frl. Alice Salo-
mon (das Vcrcins- nnd Versammlungsreclst), Frau Marie
Stritt (die Politik und die Frauen). Das Wiesbadener Lo-
kalkomitce hat nmfassende Vorbereitungen für die Tagung
getroffcn nnd veranstaltet für die Delegierten und Mitglieder
der Bnndesvereine am Abend dcs 3. Oktober einen festlichen
^Empfang im Kurhan'sc. Für Montag, den 6. Oktober ist ein
Ausslug nach Mainz geplant, zu deni die Mainzer Bundes-
vercine cingeladen haben.

— Paris, 28. Sept. In den bereits pemeldcten
Rennskandal sind zahlreiche bekannte amerikanische Iockey
Verivickelt. besonders die bereits letzthin dispnalifizierten
Riabh und Mac Jntyre. Es handelt sich nm eine wa'hre
„schwärze Bnnde'Z^ fast ansschließlich Amerikaner, die
„llebcrraschnncsen" mit Hilfe der ibnen ergebenen Jockeys
organisierten nnd dem RenNPnblikum ans diese Weise
nnge'heure Sunimen aus dcn Täschen zogen. Ällc diese
Abenteurer hätten ihre eigenen luxnriösen Hotels, sowie
Equipägen nnd Pferde. Die meislcn lebten auf dem
Fuße von 100 000 Franks Einkommen. Wie bereits be-
richtet worden ist, ergänzen sie ihre „Verdienste" noch
dnrch Falschspielen. Die Nachforschnngen nach ihrem
Treiben sind auf Veranlassnng der „Societe de I'encon-
ragement" eingeleitet worden, die in Longchamps, Chan-
tilly nsw. fortwährend llnregelmäßigkeiten selbst in den
größten Rennen, wenn amerikanische Jockeys sich an die-

sen beteiligten, seststellen mußten. Es ist zn bemer^,
daß diese sämtlichen transatlantischen Jockeys^ Buchma^,
und Stallbesitzer bereits in Amerika und England ^
qualifiziert worden sind. Jetzt wird ihnen auch hier
Thür gewiesen werden. Man wird gut thun, in Demi ,
land und Oesterreich aufzupassen, daß sie sich nicht
einzunisten versuchen. Die Namen werden demna"'
bekannt gegeben werden.

— Londmi, 29. Sept. Nach einer Meldung
„Evening News" aus Newyort' wurde in Corinth, '-"st
sissippi, ein Neger, der eine weiße Frau ermordet
am Pfahle verbrannt. Das Verbrennen war um eü ,
Tag verschoben worden, damit der Neger erst von Brü°,
und Mutter Abschied nehmen konnte. Das Komitee,
ches das Lynchen leitete, telegraphierte nach den
wandten des stkegers und arrangierte Extrazüge für n'.
schauer. Dem Schauspiele wohnten 5000 Personen
Füc Fraucn und Zeitungsreporter waren besond^
Plätze weserviert. Der Mord, den der Neger begaE,
hatte, war vor sechs Wochen geschehen, der Thäter bm
aber unentdeckt. Am letzten Sonntag prügelte de
Neger seine Fran, weil sie betrunken war und
zeigte sie ihn an. .

— Ein Scrum gcgcn Scharlnch. Anf dem deuE,
öc'aturforscher- nnd 'Aerztetag in Karlsbad rcfoscicm,
Assistent Dr. Moser (Wien) über ein nenes, von ihm F,
fundenes und init außerordentlichem Erfolg im SaM

Anna-Kindcrspital angewendetes Schavlach-Sernni.
Moser stellt sein Serum aus dem Blute gegen Schch-
lach immimisierter Pferde her. Durch Anwendnng diel^
Serums hat er die Sterblich'keit der an Scharlach erkra>m
ten Kinder im St. Anna-Kinderspitale anf die Hälfte
bisherigen Prozcntsatzes herabgedrückt Jm Anschluß Ä
das Referat Dr. Mosers aus dem Naturforscher- >im
Aerztetag bestätigte Professor Escherich dre günstigen
sultate mit diesem Sernin nnd machte gleichzeitig die iK''
teilnng, daß das Ministerium des Jnncrn nnd das lh^
terrichtsministerinm Fürsorge getroffen habqn, daß diest"
Serum in großeu Mengen erzeugtz werde und bei särm
lichen in den Wiener Kinderspitälern vorkommendiÄ
Scharlachfällen sofort in Angriff zu kommen habe. ÄU^
Professor Paltauf rühint die Erfolge, die mit dieseU'
neiien Sernm erziclt wurden. Mt Einspritzungen, b»
am ersten und zweiten Tage der Erkranknng vorgenoUU
men wurden, gelang es, alle erkrankten Kinder zu rettest-
Bei Einspritzungen, die vorgenommen wurden, a'ls di^
Jnfektion 'schon weiter vorgeschriten war, gelang es nov!
immer, 'die Biortalität anf neun Prozent gegenüber deh
Nichtgeimpsten herabziidrücken. Es gelang sogar, zM^
Kinder, die sich bereits in einem nahezn hoffnnngslostll
Zustande befanden, dem Tode zn entreißen. Der Leitek
des Kaiser Friedrich-Kinderspitats in Berlin, Professo^
Dr. Baginsky, teilte mit, daß er mit dem von ihm ois
zeugten Scharlachferum keine besonderen Erfolge erzieu
habe, .ttnd meinte, man müsse eine zuwartende Haltnng
einnehnien. Es muß jedocks bemerkt werden, daß da-
Baginskysche Sernni ein Meerschweinchenserum, das
sersche ein Psekde'serum ist.

— Folgcndcn Bricf erhielt kürzlich ein Lehrer aU
einer ainerikanischen Schule von den Eltern eines dek
Schüler: „Wollen Sie künftig meinem Sohne bitte leich
tere Hansaufgaben geben. Dieser Tage hatten Sie ihR
folgende Anfgabe aufgegeben: Wenn vier Galloncn Biek
zwcinnddreißig Flaschen füllen, wieviele Flaschen werdeU
dann durch nenn Gallonen gefüllt? — Wir haben deU
ganzen Abend versucht, das berauszusinden, es war abeU
iinmöglich. Mein Sohn weinte und sagte, er wolle cuU
nächstcn Tag nicht in die Schule gehen. Jch mußte alst
neim Galloncn Bier kaufen, was mir sehr s-chwer ge"
fallen ist, nnd dann haben wir uns viele Flaschen ge'
liehen. Wir haben sie gefüllt und mein Sohn hat die
Zahl als Antwort anfgeschrieben. Jch weiß nicht, ov
sie richtig ist, da wir beim Ilmgießen etwas Bier vei>
schüttet habcn. — P. S. Bitte das nächstemal mit Wassev
rechnen zu tassen, da ich nicht mehr Bier kaufen kann."

Wasserstraßen und KoHlenversorgnng.

Dcn nordfranzösischen Köhlenzechen ist es nur durch das
grohe nordfranzösische Wasserstraßenneh, an das sie alle, bis
anf einigc kleinere im äutzcrsten Westcn, drrekten Anschlutz ha-
ben, möglich gcivorden, der Konkurrenz dcr cnglischen Kohle,
dic seit jeher nach Paris cmf der Seinc verschifft Ivurde, ent-
gegenzutreten. Darin besitzt das französische Kohlengebiet
eincn gewaltigen Borteil vor unserem Ruhrbecken, wie Berg-
assessor Stein-Esscn in der letzten Nummcr des „Glückauf'
(„Notizcn Lber Steinkohlenbergwerke in Nordfrankreich")
überzeugend nachweist.

Die Kanäle Frankreichs gehören dem Staate, der sie mit
llnterstützung dcr Gemeinden nnd Begwerksgesellschaften aus-
geführt hat, während die Eisenbahnen dort im Besitze der

Der Kerl rechnete ihm vor, wie kolossal die Erträgnisse sich
steigern wüvden — aber freilich, Kapital mnßte man hinein-
stecken.

Der Oekonomierat hatte i'hn mit einem grimmigen Lächeln
angehört und war dann sacksiedegrob geworden, sodatz der junge
Mann ganz bestürzt seinen Koffer packte nnd schleunigst wieder
abfuhr.

Nun war da heute Morgen aus Berlin ein grotzer Schreibe-
brics mit Zeugnissen und Photographie gekommen, von einem
Herrn Platen. Auch ein Junger. ALer die Zeugnisse ivaren
gut —Fehr gut. Zuerst haite er auf einem märkischen Ritter-
gute praktisch gelernt, nachdem er die lsmdtvirtschastliche Hoch-
schule in Berlin absolviert; dann war er zum Freiherrn von
Rochlitz anf Gurtschinen in Ostpreuhen gekommen — be-
rühnste und grohangelgte Musterwirtschaft, bekannter Züchter,
biclfach prämiiert. Wer da an crster Stelle stand, sapperlot,
der verstand scuie Sache l

Mit Bedauern nur hatte der Besitzer von Gurtschinen, so
hietz es in dem Zeugnis, üiesen tüchtigen, gediegenen Fnspektor
ziehen lassen, da er sich im-'Auslande zu vervollkommnen
wünschte. Eine kleine Erbschaft hätte es ihm gestattet, so
schrieb Herr Platen selbst, sich über ein Jahr im Auslande um-
zusehen.

Er hätte viel Neues gelernt und dann noch in Berlin
während der letzten Monate einige bodenchcmische und andere
Fachstudien (speziell über Brennerei) betrieben. Nun wolle
er lwieder eine Stellung annehmen.

Er könne zwar jederzeit wieder äuf Gurtschinen eintreten,
abcr er rnöchte die Vebhältnisse, wie sip in Pommern feien,
kennen lernen, und auch seine thcoretischen Kenntnisse in Be-
zug auf Brenncrei, Ziegelei u. s. w. praktisch anwenden lernen,
wozu er beirn Baron von Rochlitz nicht viel Gelegenheit gehabt.

Vom Herrn Oekvnomicrat Roloff und von seincm Muster- i
gut Tressin hätte er so vicl Rühmliches gehört, datz er gelm bei
ihm eintreten ivürde, Das Gehalt sci zwar klein; aber er
häite einige Mittel und sähe mehr anf frcundliche Behandlnng,
Familienanschlutz und die Gelegenheit, etlnas Neucs zu
lernen.

Hm, hm, hm! Der Oekonomierat paffte nachdenklich vor
sich hin, bis sein Denkerhanpt in eine granc, stittkende Wolke
eingehüllt tvar.

Also ein Theoretikcr, ein sogenannter „Strebsamer"; aber
doch aus der anderen Seite ein prastischer, ausgezeichneter
Landwirt. Das „Mustergut Tressin" schmeichelte ihm auch;
und osfenbar schien der Mensch sich ja untcrordnen zu können,
denn der Baron Rochlih war als strenger Gebieter bekannt, wie
er znfällig wußte.

Die gute Behandlung, der Familienanschlutz — nun ja,
er war ja kein Alenschenfresser und komite sich schlietzlich auch
in die neue Zeit füge.n, die nnn einmal höflichere Umgangs-
formen gegen llntergebene verlangte.

Ein jüngerer, jödenfalls feiner und gebildeter Landwirt von
solchem Lerneifer würde auch sür Fritz ein Vorbild sein und
mehr Einflutz auf ihn gewinnen, als so cin alter „Stoppelhop-
ser", wie der Junge sie mit seinem Lieblingsaüsdruck nannte.

Und dann das Gehalt,.. Wo bekam er sonst für das
Gcld cinen tiichstgen Jnspektor her?

Auch hatte der junge Mann ein recht sympathisches, offenes
Gesicht. Na kurz, er wollte es einmal mit ihm versuchen, na-
türlich zunächst auf Pro-be.

Nachdem er rwch eine Weile nachgedacht und gepafft hatte,
nahm er einen Briefbogen und schrieb in diesem Sinne an

Herrn Jnspcktor Plaken in Berlin. Wenn er könnc, möchte et
schon in den nächsten Tagen eintreffen,

Anderen Tages kam cin Telegramm: „Bin mit alleM
einverstandcn und werde nächsten Sonntag eintreffen. Platen."

Der Gutsbesitzcr erzählte gelegentlich bei Tisch, datz er
für Ende der Woche einen neuen Jnspestor erlvarte. Da er
seinen Kindern nie eine Einmischung in seine Geschäfte er-
'laubte, sa nahmen sic die Nachricht mit grotzem Gleichmut auf.

Es würde lhnen eben bei Tisch wieder ein Mensch gegen-
übcrsitzen, der sehr rote Hände, einen struppigen Bart hatte
und wie cin Scheuneiidrescher atz, aber uie ein Wort von sich
gab, autzer weun er gefragt wurde. Viel reden liebte Papa
Roloff überhaupt nicht; und seine Jnspektoren hatten dieseste
Hcidenangst vor ihm, wie alle anderen Menschen.

Nur Fritz hatte noch ein besondercs Jnteresse daran, weil
er als „Lehrjunge", wic er sich selbst benamste, mit dem Jn-
spestor doch viel zu ihun bekam. Mit dem Letzten, der sich
selbsi vor dcm Meu gefürchtet, ja, ihn gehatzt hatte — alles
Gefühle, die Fritz so ziemlich teilte — haste er sich ganz vor-
trefflich gestanden. Kaum drehte „der Me" den Rücken, so
lockertcn sich die Zügel der Disziplin.

„Jst's ein alter oder ein junger?" fragte Fritz neugierig-
Der Oekonomierat, sonst nicht gewohnt, daß ihn sein Söhn
befragte, gab knurrend zur Antwort:

„Ein junger... Soll 'n heworragender Landwirt sein.. -
Hat 'n glänzendes Zeugnis von Rochlitz auf Gurtschinen. —
Du kannst ihm den Spiegel und den Waschstsch wieder ins
Zimmer 'reinstellen; sonst genügt's ihm vielleicht nicht. .. Die
jungen Leute sind heutzutage so anspruchsvoll."

(Aortsetzung folgt.)
 
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