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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 11.1919

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Heft 1/2
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Wolf, Paul: Die Architektur im neuen Deutschland
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https://doi.org/10.11588/diglit.21394#0023

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DIE ARCHITEKTUR IM NEUEN DEUTSCHLAND.
Von Stadtbaurat PÄUL WOLF in Hannover.
I.
In rafendem Tempo haben [ich in den nebeligen Novembertagen in Deutfchland Um-
wälzungen vollzogen, wie [ie vorher in Jahrhunderten nicht möglich waren. Kronen
find in den Staub gefunken und faft taufendjährige Dynaftien von ihren angeftammten
Sitten verfchwunden. Uralte Inftitutionen und Weltanfchauungen find vom Sturmwind
hinweggefegt worden, als wären es welke Blätter eines Baumes. Wir haben uns mit
der vollzogenen Tatfache abzufinden und aus den Trümmern des alten Deutfchlands ein
neues Reich aufzubauen. „Hart im Raume ftoßen [ich die Sachen“: Die Trümmerftätte
des Alten foll und muß die Wiege neuer fchöpferifcher Geftaltung werden, und neues
Leben wird aus den Ruinen erblühen.
Aber noch geht vorläufig das Zerftörungswerk weiter. Bismarcks Erbe ift bedroht;
durch das Berliner Chaos gefördert, bilden die feparatiftifchen Umtriebe im Süden und
Weften des Reiches noch eine ftarke Gefahr für den Weiterbeftand desfelben. Es wird
der ganzen Energie aller zu pofitiver Arbeit bereiten Deutfchen bedürfen, um das
Vaterland vor der drohenden Auflöfung zu retten. Dann erft können wir mit dem
Aufbau neuer Kulturwerte beginnen.
II.
Die neue Zeit wird auch eine neue deutfche Kunft gebären. Zwar auf dem Gebiete
der Malerei gärte die Revolution fchon vor der politifchen Umwälzung, und auch
die Plaftik war zum Teil davon erfaßt. Nur die Architektur, die zu allen Zeiten
höchfter Kulturentwicklung die Führung unter den bildenden Künften innehatte, blieb
bislang unberührt von diefer Bewegung. Sie, die ehemals die Achfe war, um die [ich
die gefamte bildende Kunft drehte, fchien jeden Zufammenhang mit den Schwefter-
künften verloren zu haben. Von den allerfrüheften Zeiten künftlerifchen Entftehens an
verbinden [ich Baukunft, Malerei und Plaftik zu gemeinfamem Schaffen. Beim ägyp-
tifchen wie beim griechifchen Tempel, bei den Monumentalbauten der Römer wie bei
der frühchriftlichen Kunft tritt diefer harmonifche Dreiklang der Schwefterkünfte in
Erfcheinung und führt im glänzendften mittelalterlichen Kunftwerk, dem Dom, zu höchfter
Entfaltung. Auch Renaiffance, Barock und Empire hielten an diefer Gemeinfamkeit feft,
bis vor bald ICO Jahren der Zerfall der Kunft in Deutfchland begann. Die Architektur
verflachte mehr und mehr, fie hörte fchließlich auf, Kunft zu fein, fie wurde zurTechnik,
die alle bisher dagewefenen hiftorifchen Stilarten mehr oder weniger fchlecht wieder-
holte, wie nach dem biogenetifchen GrundgefeZ Häckels jeder Organismus, von den ein-
zelligen Protiften an bis zum homo sapiens, nach beftimmten Vererbungsgefetjen in
feiner individuellen Entwicklung einen Teil feiner Stammesgefchichte wiederholt. Auch
die unerhört ftarke Zeit politifchen und wirtfchaftlichen Auffchwungs, die mit der
Reichsgründung einfetjte, konnte den Tiefftand der Architektur nur dahin beeinfluffen,
daß an Stelle kunftlofer, fchematifcher Arbeit, auf der einen Seite charakterlofer Material-
fchwindel, auf der anderen Seite Prozentual und Hurrapatriotismus [ich breitmachten.
Immer wird es eine Tragik in der Gefchichte deutfcher Kunft bleiben, daß in diefer
Zeit gewaltigfter Machtentfaltung und ungeheuren Wachstums deutfcher Städte, die
der Blütezeit der Hanfa nicht nachftand, ja diefe in mancherlei Hinficht noch über-
traf, die Architektur und Stadtbaukunft in Deutfchland völlig verfagten und auf eine
Stufe herabfanken, wie fie niemals einem Volke befchieden gewefen ift. Wäre der

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