Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (11.1919)

Die Vergeiftigung einer Induftrieftadt Kunft- und Kultur-

beftrebungen in Offenbad) a. M. Mit 25 Abbildungen \ von fritz hoeber

1.


er nun hinter uns liegende Kleltkrieg, in unendlich vielen Dingen fo auffchluß-

reich), hat uns mehr noch) als die Klicßtigkeit materiellen Befißes, den ßoßen

‘M“‘ Klert der geiftigen Bildung vielfad) dargetan.
Klenn aucl) in direkter Beziehung zu feinen tatfäcßlicßen Leitungen vor allem die
exakten Naturwiffenfcßaften, Pßyfik und Chemie, und ihre Anwendung in einer
beifpiellos organifierten Cecßnik fteßen, fo wird dod) niemand leugnen, daß ebenfo
aucß die Geifteswiffenfcßafteri, die „Kulturwiffenfcßaften“, wie fie Fjeinricß
Rickert lieber nennt, in ihrer wiffenfcßaftlicßen Reinheit und ihrer praktifcßen Ver-
wirklichung in der Kunft, an der feelifcßen Kraft unferer durd) äußere Niederlagen
und inneren Umfturz fo fcßwer erfcßütterten Nation reichlich teilhaben. Gefittung,
Bildung, Kultur bedeuten ebenfo viele Klaffen, geiftigen Vorfprung vor jedem Neben-
buhler auf jedem Gebiet, und find darum fchon rein um ihrer felbft willen zu pßegen,
wenn auch der materielle Nutzen, der bei den technologifd) orientierten Naturwiffen-
fchaften fofort in die Äugen fpringt, hier nicht in gleicher Kleife errechenbar fcheint. —
Der oft wiederholte Äusfprud) Richard Klagners „Deutfeh fein heißt-- eine Sache um
ihrer felbft willen treiben“, wird gerade da Geltung haben, wo es fiel) um Beftrebungen
geifteswiffenfd)aftlid)er, künftlerifcher, allgemein: kultureller Ärt handelt.
Auf diefe ihre kulturellen Verpßichtungen haben fiel) die deutfeßen Induftrieftädte
fd)on eine geraume 3ßd vor dem Krieg befonnen. Sie fingen an, die tiefe Klahjrheit
des Satzes einzufeßen, daß der Menfcß nicht allein vom Brot lebt: Daß wir erft
wahrhaft die materiellen Reichtümer genießen können, wenn fie als geiftige Klerte
zu erfaffen find. Und umgekehrt, daß die erweckten geiftigen Energien in befonderem
Sinn einen Antrieb zur Fjervorbringung all der wertvollen Sachgüter felbft bedeuten.
Aus einer noch frühem 3^it datieren die Volksbildungsbeftrebungen wiffenfeßaft-
1 ich er Art. Allein die Kliff enfehaft wendet fiel) an den fchon durch die Berufsarbeit
genugfam befchäftigten Intellekt. Sie kann darum nicht die erwünfd)te Ergänzung
und Erholung bieten. Kleiter erfcheint die Kliffenfchaft, felbft in ihrer Popularifierung,
nicht Jedermann zugänglich: Je nach der Veranlagung wendet fie fiel) an diefen fpeziell
oder an jenen, dadurch intellektuell befeßränkte Gruppen bildend. So trennt die
Kliffenfchaft wieder, wo das Ganze des Volkes als geiftige Einheit gewahrt
werden muß. — Deshalb hat die fchon vor vielen Jahren von einem Engländer,
John Ruskin, angeregte, in Deutfcßland aber erft in großem Umfang verwirklichte
Idee, die moderne Induftriebevölkerung durch die Kunft zu bilden, den Vorzug vor
einer blos wiffenfcßaftlicßen Erziehung: Die Kunft wendet fiel) an die in der beruflichen
Intellektsarbeit verkümmernden Seelenbedürfniffe des menfcßlichen Inftinkts, der
Phantafie, der feßöpferifeßen Änfcßauungskraft.
Karl Ernft Oftßaus in Fjagen i. Kleftf. hat als erfter den künftlerifcßen Gedanken
fofort in vollendeter Reinheit mitten im Induftriebezirk verwirklicht. Seine jedermann
zugängliche Privatfammlung, die das Erhabenfte der Kunft aller 3eüen und Völker in
auserlefenen Klerken vereinigt, feßuf aus der nüchternen weftfälifcßen Fabrikftadt einen
machtvollen Geiftesmittelpunkt. Durch fßin zielbewußtes Eintreten für den neuzeitlichen
Ärcßitekturgedanken gewann Ofthaus Einßuß auf die gefamte Bauentwicklung der

Der Cicerone, Xi. Jahrg., Heft 15

36

467