Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 11.1919
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https://doi.org/10.11588/diglit.21394#0097
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Heft 4
DOI Artikel:Brieger, Lothar: Ludwig Meidner
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Ludwig Meidner
Es ift ungeheuer fcßwer, das Bekenntnis zur Primitivität von einer Seit zu ver-
langen, die glaubt mit allen Kläffern der reifften Kultur gewafcßen zu fein und die
eben erft einen Krieg hinter fid) \)at, der mit ungleich größeren Mitteln an die grau-
famften Kämpfe der Naturvölker erinnert. Das eben ift die Märtyrer- und Kämpfer-
ftellung diefer jungen Künftler vom Schlage Meidners in unferer 3eit, ift die Märtyrer-
und Kämpferftellung aller Primitiven gewefen: Daß fie immer am Ende einer an ficß
felbft erftickten Überkultur gegen fie ein Neues ßeranfüßren mußten, daß in ihnen
immer wieder das Selbftbewußtfein der Seele gegen die allzu üppig gewordene Materie
revoltierte. Anfang und Ende einer Stilperiode find nie deren Fjößepunkte, in ihnen
ift immer ein Plus nach einer beftimmten Richtung ßin. Bei den Primitiven enthält
diefes Plus die Elemente, aus denen der neue Stil wird, bei den Ausgehenden wird
diefes Plus zu einer Banalifierung der Elemente. Beide Parteien aber fteßen nicht in
der Luft, beide Parteien knüpfen an Vorhandenes an, mögen fie es nun auseinander-
reißen und verjüngen oder trivialifieren. In den naturaliftifcßen Elementen der ver-
soffenen Kunftzeit hat alles gefteckt, was in Meidners Arbeit zu einem Neuen wird.
Aber es war bloß Erfcßeinung, es wurde nicht zum Ausdruck, das Menfd)lid)e, das
Innerfte manifeftierte fiel) in ihm nicht. Es konnte breit fein, aber das KIid)tige war,
daß es tief wurde. Denn im Liefen erft faßt ein neuer Stil Klurzel.
Ludwig Meidner, Im Gefpräcß. Radierung.
Befitjer: Grapl)ifd)es Kabinett Neumann, Berlin.
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Es ift ungeheuer fcßwer, das Bekenntnis zur Primitivität von einer Seit zu ver-
langen, die glaubt mit allen Kläffern der reifften Kultur gewafcßen zu fein und die
eben erft einen Krieg hinter fid) \)at, der mit ungleich größeren Mitteln an die grau-
famften Kämpfe der Naturvölker erinnert. Das eben ift die Märtyrer- und Kämpfer-
ftellung diefer jungen Künftler vom Schlage Meidners in unferer 3eit, ift die Märtyrer-
und Kämpferftellung aller Primitiven gewefen: Daß fie immer am Ende einer an ficß
felbft erftickten Überkultur gegen fie ein Neues ßeranfüßren mußten, daß in ihnen
immer wieder das Selbftbewußtfein der Seele gegen die allzu üppig gewordene Materie
revoltierte. Anfang und Ende einer Stilperiode find nie deren Fjößepunkte, in ihnen
ift immer ein Plus nach einer beftimmten Richtung ßin. Bei den Primitiven enthält
diefes Plus die Elemente, aus denen der neue Stil wird, bei den Ausgehenden wird
diefes Plus zu einer Banalifierung der Elemente. Beide Parteien aber fteßen nicht in
der Luft, beide Parteien knüpfen an Vorhandenes an, mögen fie es nun auseinander-
reißen und verjüngen oder trivialifieren. In den naturaliftifcßen Elementen der ver-
soffenen Kunftzeit hat alles gefteckt, was in Meidners Arbeit zu einem Neuen wird.
Aber es war bloß Erfcßeinung, es wurde nicht zum Ausdruck, das Menfd)lid)e, das
Innerfte manifeftierte fiel) in ihm nicht. Es konnte breit fein, aber das KIid)tige war,
daß es tief wurde. Denn im Liefen erft faßt ein neuer Stil Klurzel.
Ludwig Meidner, Im Gefpräcß. Radierung.
Befitjer: Grapl)ifd)es Kabinett Neumann, Berlin.
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