Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (11.1919)

Von OTTO FREUNDLICH
Mit 8 Abbildungen

] a n 11) u r als Graphiker

Die Verführung zu unferen optifdjen Fertigkeiten, zu jener Änfäffigkeit inmitten
erlernter Bildgewohnheiten wurde eines Hages als ein unwürdiges Beharren in
dem Gefet} der {Trägheit empfunden. {Hie ganz anders wünfchte der Künftler
zu fchaffen, als wohin ihn die Gefichte riefen, die nicht feine Gefichte waren, und
Niemandes Gefichte, fondern die ftarren Masken, gereicht von Äuge zu Äuge, von
Fjand zu Fjand, die verdorrten, fenilen Effekte einer gänzlich hmtergrundlofen Paffivität.
Das Gewiffen der Schöpfung fchrie auf in dem Künftler und verwarf die Gebrechen
feines Gehorfams. Ein fühlbarer Ekel folgte der fervilen Fjand, und fein Äuge, ge-
fchwängert mit den Nichtigkeiten klaffifizierter Impreffionen, erfchuf fiel) das Vakuum
des {Herdens, verabfcfjiedend die Faßlichkeiten einer leeren Ordnung, {Has blieb? Das
Nichts? Das Äll! Es blieb das {Hort und fein Buchftabe und die gefcfmittene Rune.
Es blieb das an den Fjimmel gehängte Komma, die Interpunktionen der Ätempaufen
blieben allein dem Künftler, und fein 3uftand glich der Menfchgewordenen Marionette,
die die Fäden zerriß, an denen Puppen tanzen. Diefe Fäden, fo wol)l verdeckt, fo
fein, fo unficßtbar für Puppenaugen, entfdileierten fiel) dem Äuge der Menfcßen; er
faß den Stolz der Hampelmänner und Fjampelweiber, die ganze Fjarlekinade der Natur;
er hörte auf, mitzufpielen, und fand fiel) einfam in einer Leere. Ja, er fchrie es oft
in feine Einfamkeit: (Denn dies nur Puppen find und eine puppenhafte Natur. {Hie
fiet)t dann der Menfch aus und die wahre Natur. Da befann fiel) fein letztes Ge-
wiffen auf die unerfchjaffenen, nie zu erfchaffenden Kräfte, und fat) das Lächeln eines
Vaters, über allem Sein, außer allem Sein und er trat ein in das unbetretene Reich
der großen Vorbedeutung. Diefes aber hat feine eigenen Gefefee. Diefe Gefet^e find
wie eine unausgefäte Saat, fie find die Aufforderung an Älles und Jeden: Lebe Dich
noch einmal, lebe Dich anders. Der ganze Menfch foll anders leben und jeder feine
Sinne. Der Menfch foll anders Menfch fein,, als er es bisher war; das Ohr foll
anders hören, als es bisher hörte; das Äuge foll anders fehen, als es bisher fat). Denn
fie alle lebten bisher nur aus dem kargen Schal} des Sichtbaren und für das Sicht-
bare. Sie lebten als Undankbare gegen das Unficl)tbare, dem fie ihre Nahrung ver-
dankten. Sie lebten wie Räuber, die als Kinder von einem gütigen {Hefen ihre Klug-
heit lernten, und fie fpäter dazu verwendeten, es zu beftehlen. Sie füllten ihre Speicher
mit fremden Schäden, und als die Böden bis zum brechen belaftet waren, glaubten
die Diebe verforgt zu fein bis ans Ende der 3eiten. Die Kurzfid)tigen, die Vorräte
reichten Jahrhunderte lang. Äber jede Generation verdummte immer mehr in dem
{Hahne ihrer Väter. Ihre Dummheit hueß: tHir find verforgt. Älle ihre Organe der
{Tätigkeit ftumpften ab, und vor allem ihre Erinnerung an das {Hefen, das fie erzogen
und belehrt hatte.
Diejenigen, die fich fchämten immer nur zu nehmen; die fich erniedrigt fühlten in
der Maftkur ihrer Sinne, die den Proteft hmausfd)rien in die {Heit: {Hir wollen geben.
(Hir wollen erwerben und Erworbenes weitergeben. Seltfam, diefe Verkünder der
Rechtfchaffenheit wurden gemieden, geächtet, boykottiert als Verbrecher, als Rebellen
und Anarchien: Sie waren Äusgeftoßene aus dem Konzern jener Gemeinfchaft, die
vom Diebftaßl lebte. Und darum nicht feltfam! Hnd darum um fo ftrenger die Forde-
rung: {Hir müffen geben, wir müffen wieder lernen zu erwerben.
Hnd diefes Lernen geht vorbei an den geheiligten Feftigkeiten füftorifcher Catfachen:

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