Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 11.1919
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.21394#0715
DOI Heft:
Heft 21
DOI Artikel:Landsberger, Franz: Impressionismus und Expressionismus, 3, die neue Stellung zur Natur
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.21394#0715
lers das dargeftellte Stück Na-
tur zur Kunft erhebe; von hier
war der Schritt nicht mehr weit,
die Perfönlidjkeit auch einmal
gegen die Natur auszufpielen.
Mußte nicht fcßließlid) eine
3eit, welche von Photogra-
phien überfchwemmt wurde,
die Senfation des Künftleri-
[chen erft dann erleben, wenn
das reproduzierende Moment
ganz in den Hintergrund ge-
drängt war?
Und auch die modernen
Kunftgelehrten,vorallemÄlois
Riegl, mögen ihr Verdienft
an der Umbildung des Ge-
[chmacks haben. Gegen die
Lehre Sempers kämpfend, der
das Kunftwerk als mechani-
fd)es Produkt aus Gebrauchs-
zweck, Rohftoff und Technik
erklärt hatte, lehrte Riegl es
vielmehr als dasRefultat eines
beftimmten undzweckbewuß-
tenKunftwollens begreifen.
Die Polemik ift längft ver-
altet, fruchtbringend wurde
allein das Pofitive, der Be-
griff des Kunftwollens, d. h- Äbb. 18. Maria orans. Muran, Dom. Äpjls-Mofaik.
die Beftimmung des Kunft-
werks von innen heraus als Ausdruck einer feelifchen Haltung. Jetjt war der öUeg
frei, jede 3eit nach ihrer eigenen Kunftgefinnung zu befragen, anftatt ihr eine
fd)on fertige unterzulegen. Und da erwies es [ich auch fofort für das Mittelalter, daß
fein Bemühen keineswegs auf eine immer beffere Beherrfchung der Natur gerichtet war,
fondern vielmehr darauf, eine Äusdrucksform für feinen neuen Glauben zu finden. Die
Natur fand Aufnahme, foweit fie zur Erfüllung diefes Strebens notwendig war; darüber
hinaus hatte fie keine Dafeinsberechtigung und mußte jede Veränderung dulden, die fie
ihren 3wecken dienftbarer machte. Viel zu hoch wurden die Heiligen in byzantinifchen
Mofaiken emporgereckt, aber wie [trauten diefe aufweifenden, körperlofen Geftalten
vor goldfchimmerndem Grunde das Verlangen der Seele wieder, von irdifdßer Schwere
befreit zu werden (Abb. 18). In unmöglichen Gliedmaßen und Bewegungen ftanden
die Figuren gemeißelt an den Portalen der Kirchen oder gemalt in den Miniaturen der
heiligen Schriften, aber welche Eindringlichkeit der Gebärde wurde erzielt und wie
fand die religiöfe Inbrunft der 3eit hier eine Sprache (Abb. 19)!
Hatte diefe Hoch[pannung, die im Mittelalter Allgemeingut der Kunft war, feitdem
nicht nachgelaffen, um nur noch in einigen Künftlerperfönlichkeiten zutage zu treten,
687