Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 11.1919
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DOI Heft:
Heft 21
DOI Artikel:Landsberger, Franz: Impressionismus und Expressionismus, 3, die neue Stellung zur Natur
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das wiederzugeben, was ich) vor
mir feljc, gehe ich eigenmächtig
mit der Fafbe um. Id) will eben
vor allem einen [tarken Ausdruck er-
zielen. Doch) laffen wir lieber die
Oieorie beifeite, id) will Dir lieber an
einem Beifpiel klar machen, was ich
meine. Denk Dir, ich male einen be-
freundeten Künftler, einen Künftler,
der große Cräume träumt, der arbeitet,
wie die Nachtigall fingt, weil es juft
feine Natur ift. Diefer Mann foll blond
fein. Alle Liebe, die ich für ihn empfinde,
möchte ich m das Bild hineinmalen. 3u-
erft male ich ihn alfo fo wie er ift, fo
getreu wie möglich, doch das ift nur
der Anfang. Damit ift das Bild noch
nicht fertig. Nun fange ich an, will-
kürlich zu kolorieren. Ich übertreibe
das Blond der Haare, ich nehme Orange,
Chrom, mattes 3itronengelb. Hinter
den Kopf— ftatt der banalen 3'mmer-
wand — male ich die Unendlichkeit. Ich
mache einen einfachen Hintergrund aus
dem reichften Blau, fo ftark es die
Palette begibt. So wirkt durch diefe
einfache 3nfammenftellung der blonde
beleuchtete Kopf auf dem blauen reichen
Hintergründe geheimnisvoll wie ein
Stern im dunklen Äther.“
An diefer Deutung berührt es nur
noch altertümlich, daß van Gogh mit
der getreuen Abfchrift nach der Natur
beginnt, anftatt gleich direkt auf fein
3iel loszugehen. Aber das ift nicht
das Entfcheidende. Entfcheidend ift, daß
der Künftler kraft feiner perfönlichen
Empfindung denGegenftand bewußt umfchmilzt, bis er feinem Ausdruckswillen gefügig wird.
3wei Beifpiele mögen das noch näher vor Augen füllen. Lehmbruck erlebt die
3artt)eit eines Mädchenkörpers, und diefes Erlebnis läßt ißn die Proportionen über
das natürliche Maß hinaus ziehen (Abb. 20). Aus langen, fchräg aufklimmenden Beinen,
deren Linienfluß durch ein Gewandftück noch verhüllt wird, fteigt nackt und frei der
fchlanke Rumpf in die Höhe, bis endlich das fchmale Haupt in befcljeidener Beugung
die Bewegung zur Erde zurückleitet.
Im Gegenfatje dazu erlebt Barlach die Kielt laftend wie einen Albdruck und preßt
darum die Formen gewaltfam zufammen. Er hat einmal einen einfamen Mann gefördert,
der zu nächtlicher Stunde, die Kerze in der Hand, mißtrauifd) umherfchleid)t (Abb. 21).
Äbb.21. Barlad). Der Einfame.
Mit Genehmigung des Verlags Paul Caffirer, Berlin.
Der Cicerone, XI. Jahrg., Heft 21.
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