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„Heidelberger Neuefie Nachrichlen" — „Heidekberger Anzeiger"
Dienstag 28. Iuli 1936
Nr. 174
SelnriK Rilkett gestorden.
Dieser Tage starb der bekannte Heidelberger Philo-
soph Geheimrat Professor Heinrich Rickert im Al-
ter von 73 Jahron. Ter Tod des Gelehrten, der län-
gere Zeit mit unserer Universität verbunden war, be-
deutet den Abbruch der großen Tradition eines Zwei-
ges der deutschen philosophischen Lehre, d?r unserem
Heimatland seinen besonderen Platz in der deutschen
Geistesgeschichte gibt. Denn Heinrich Rickert war der
berühmte Fübrer der „badsche-n Philoso-
phenschule , die von großer Bedeutung für die
Entwicklung des gesamten wissenschaftlichen Denkens
in Deutschland besonders in den Jahrzehnten seit der
Jahrhundertwende wurde.
Mancher seiner Hörer wird sich noch der Stunde
erinnern, in der Heinrich Rickert im Mai 1933 einen
ergreisenden Ueberblick über sein Leben gab. Er hatte
alle Stufen der deutschen Staatswerdung durchlebt.
Erlebnisse semer Kindheit waren dem 1863 in Danzig
geborenen Sohn eines bekannten Politikers Svmbol
für die unselige Zerspaltenheit unseres Volkes, der
Prozeß der Einigung des Reichs unter Bismarck be-
stimmte dann die Jahrzehnte seiner Jugend, und inr
Rückblick des Alters sah er glücklich die machtvolle poli-
tische Niederringung des materialistischon und marxi-
stischen Wesens, dessen Bekämpfung seine Geistesarbeit
gegolten hatte.
Unbeachtet seiner norddsutschen Abstammung
fühlte stch Heinrich Rickert bald mit der Lebenswelt
des deutschen Südens und besonders mit der Geistes-
wissenschaft in der Südwestmark des Reichs eng ver-
bunden Er hatte 1888 bei Wilhelm Windelband in
Straßburg promoviert mit einer Arbeit „Zur Lehre
von der Definition", die schon den Ramen des sungen
Gelehrten bekannt machte. Grundlegend für sei-n Phi-
losophieren wurde dann die Schrift über den „Gegen-
stand der Erkenntnis", mit der er stch 1892 in Freiburg
i. B. habilitiert hat. Schon 1896 wurde Rickert zum
ordentlichen Professor an der Freiburger Univer-
sttät ernannt, von wo aus sein philosophisches Werk
zu immer größerer Bedeutung sich steigerte. 1916
übernahm er dann den Heidelberger Lehrstuhl
als der Nachfolger seineZ Lehrers Wilhelm Windel-
band. Er war von diesem Jahr an nicht nur ein For-
scher, der durch seine Werke den Ruhm der Heidelber-
ger Hochschule weit über Deutschland hinaus vön neuem
mehrte, sondern auch ein Lehrer, dessen Kollegs zu den
wesentlichsten Anziehungskrästen unserer Hochschule
gehörton.
Studierende aus aller Welt lauschten diesem
Wtann, der jeden Mittag im gleichen, bänkezerschnitzten
Hörsaal der alten Univcrsität las. Jn seinen Worten
war eine klare Geschliffenheit des Denkens erkennbar,
und die Begrifse, die dieses Denken leiteten, waren in
ihrer Geformtheit Aauberschlüssel, die auch demjenigen
den Eintritt in Rickerts philosophisches Reich ermög-
lichten, der sich nicht mit seiner ganzen Kraft allein
dem Studium der Philosophie widmen konnte. Höhen
und Tiefen waren in diesem Denken Heinrich Rickerts
logisch verbunden, bei dem immer eine Grundströ-
mung erkenntlich war: das erregende Vielerlei des un-
mittelbar erfahrenen Lebens in die ordnende
Schau eines systematischen Denkens zu
fügen.
Dabei war immer eine tiefe Aneignung und Kennt-
nis der Geschichte der Philosophie spür-
bar, die zugleich für Rickert schon die Basis des bereits
Gedachten ergab und ihm das Weiterschreiten seines
philosophischen Denkens im strengen Gefttge der Tra-
dition ermöglichte. Jn seiner Klärung der gesamtwis-
senschastlichen Begriffswelt wurde seine Arbeit von
größter Bedeutung für die einzelnen Disziplinen des
wissenschaftlichen Denkens. Welche Anregungen z. B.
ein Geist wie Max Weber von Rickert gehabt hat, ist
weithin bekannt. Rickert schuf die erkenntnis-
theoretische U n 1 e r sche i du n g der Einzel-
w i ss e n scha f te n, die immer nur die Teilgebiete
des Lebens untersuchen können, und der Philosophie,
die als Wissenschaft vom All wirkt. Er kam
in seinem berühmten Werk über „Die Grenzen der na-
turwissenschaftlichen Begriffsbildung" zu der bestim-
menden Unterscheidung in generalisierende und indivi-
dualisierende Wissenschafton, die das Denken der fol-
genden Zeit grundlegend bestimmen. Im Wesentlichen
aber galt sein Denken dem Wert des Lebens, und
seine Lehre von der Stufung der Werte wurde zu einer
Weltanschauungslehre, die stch um Klarheit über den
Sinn des Lebens bemühte.
Eine tiefe Verbindug mit der deutfchon Geschichte
und den großen Gestaltungen des deutschen Geistes
war bei Rickert immer zu fühlen. Goethes
,Faust" hat ihn tief und unaufhörlich beschäftigt.
Jn den Worten des Dichters bemühte sich der Gelehrte
oft, den eigenen Gedanken Gültigkeit zu verleihen.
War schon sein durch Alter bedingter Verzicht auf
Vorlcsungen ein spürbarer Verlust, so wird es jetzt
durch den Tod dieses feinen und kultivierten Gelehrten
still um eine Tradition deutscher Philosophie, die er
durch Jahrzehnte geführt hat.
Mignon bei dev Roviantikern.
Die Stunde der Hausmusik im Romantikersaal der
Heidelberg-Ausstellung bürgert sich immer
mehr ein. So wohnten am Samstag zahlreiche Zu-
hörer der Veranstaltung „Frau Minne" bei. Am heu-
tigen Dienstag, 17.30 Uhr, findet bereits die
Ächte Hausmusik unter dem Motto „Mignon" statt.
Zwei Ausschnitte aus Goethes Dichtung „Wilhelm
Meister", vorgetragen von unserer Heidelberger Mit-
bürgerin Frau Frma Derwein-V. Drygalski,
werde-n von Liedern von Robert Schumann und Franz
Schubert umrahmt sein. Paula Schneider singt
die Mignonlieder „Heiß mich nicht reden", „So laßt
mich scheinen", „Kennst du das Land?" von Schumann
und die von dem gleichen Meister vertonten Dichtungen
von Eichendorff „Aus der Heimat" und „Jch kann
wohl manchmal singen". Auch Schuberts „Nur wer die
Sehnsucht kennt" wird in diesem Programm nicht feh-
len. Die Klavierbegleitung hat Heinrich Sieben-
haar übernommcn.
Die Neunte Hausmusik am Samstag, den
8. August, trägt den Namen „Schlaf und Tod".
Borausstchtliche Witteruna für Baden, Württembera
uud Hohenzollern bis Mittwoch abend:
Jn der Richtung wechselnde, vorwiegend südwestliche
bis westliche Winde. Vielfach bewölkt, Regenfälle, zum
Teil gewittriger Art. Gelegentlich auch wieder aufheiternd.
Temperaturen schwankend. Mäßig warm und zeitweise
auch schwül.
Filmschav.
Capitol: „Der geheimnisvolle Mister"
Gloriallichtspiele: „Trenck"
Kammerlichtspiele: „Leichte Kavallerie"
Odeon: „Cin Mädcl aus guter Familie."
Schlotzlichtspiele: „Martha"
Heulige Verlmer Vorbörse.
An der Vorbörse scheint weiteres Abgabebedürfnis
vorzuliegen, so Laß man womöglich mit weiter zurück-
gehenden Kursen rechnen muß. Anderseits besteht aber
auch Jnteresse für Montanwerte. Am Valutenmarkt
wurde das englische Pfund allgemein etwas schwächer ge-
meldet. so daß sich eine Berliner Notiz von 12,47)4 er-
rechnete. Der Dollar war mit 2,486 unverändert. Von
den Goldvaluten zogen der schweizer Franken und der
holländische Gulden an.
Sleine Meldungen.
— König Lduard von England hat seine beabstch-
tigte Crholungsreise nach Südfrankreich aufgegeben.
— Der frühere abeflinische Postminister Kanyaz.
matsch Takle-Marcos hat nach italienischen Zeitungs-
meldungen aus Addis Abeba seine Anterwerfung unter
die italienische Oberhoheit erklärt.
Der Wrg drr «lWWchen Faürl.
Feierftmde in VelM.
Schwaben tragen die Fackel.
Velgrad, 27. Iuli. Die olympische Fackel
traf in Velgrad am Montag gegen 9 Uhr vormit-
tags ein. Auf dem größten Platz dcr Stadt, der Tera-
zija, fand cine eindrucksvolle olympischs Feier
statt. Die Hauptstraßen von Belgrad waren von Tau-
senden von Menschen ersüllt, die den Fackelläufer lebhaft
begrüßten. Der riesige Terazija-Plah war rings von
einsr vieltausendköpfigen Mengs umsäumt. Die Fenster
sämtlicher umliegenden Häuser waren dicht besetzt,
ebenso die Dächer. In der Mittc des Platzcs war ein
großer olympischcr Altar errichtet, dessen Spihe das Dek-
ken für das olympische Feuer trug. Gegenüber dem Al-
tar hatten aus einer Tribüne die Chrengäste Platz ge-
nommen: der Vertreter des Königs, Gardeoberst Kokolj,
der Minister für körperliche Crtüchtigung Dr. Rogitsch,
der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses Maritsch, der
Oberbürgermeister von Bclgrad Ilitsch, dsr deutsche Ge-
sandte von Heeren und dic diplomatischen Dcrtreter
sämtlicher Staaten, durch die die olympische Fackel gstra-
qen wird, Landesgruppenlciter Oberingenieur Neu -
hausen, der Vorsihendc des Belgrader Olympischcn
Komitees Dr. Schivkovitsch u. a.
Am Altar llbernahm Oberbürgermeister Ilitsch
die Fackcl und stieg mit ihr, in Vcgleitung des Vertrs-
ters des Königs und des Vorsihenden des Olympischen
Komitees, die Stusen des Altars hinan, um das olympi-
sche Feuer zu entzünden. Dic Militärkapelle spiclte dazu
die Olympische Hymne. Der Oberbürgermeister hielt von
der Redncrtribünc, die vor dsm Altar errichtet war,
eine Ansprache, in dcr er die olvmpische Idee dcr Völker-
verständigung feierte und der Verliner Olympiade im
Namen der Stadt Velgrad einen vollen Crfolg wünschte.
Nachdcm von der Musik die Staatshvmne gespielt
worden war, ergriff der Mimster für körperlichs Crtüch-
tiqung Dr. Nogitsch das Wort. Cr wllrdigte die
Berlmer Olympiade als das größte Sportereignis der
Welt und wics auf ihre Friedcnsmission bin. Als
Lehter sprach der Vorsthende dcs Bslgrader Olympi-
schen Komitees Dr. Schivkovitsch, worauf er unter
den Klängen der Olympischen Hymne den Altar in Ve-
gleitung eines Turners bestieg und dort die neue Fackel
entzündete, die er dem Turncr mit Händedruck und drei-
matigen Vruderkuß überreichte.
Anter bcgeistertcn Zurufen der Menge truq der Tur-
ner um 10.07 Khr die Fackel aus der Stadt hinaus. Die
Feier machts auf alle Anwesendsn einen tiesen Cindruck.
Vor Semlin bsi Belgrad wurds die Olympia-
flamme durch dis fruchtbare syrmische Cbene nach
der Schwabenstedlung in Indisa getragen, wo von 15 000
Cinwohnern 10 000 Deutsche sind.
Durch Indija trugen Schwaben die olympische
Fackel, die sich dann den Frankenbergern zuwandten, wo
einst die letzten Vorposten Karls des Großen gegen die
Avaren standen. Im glühenden Sonncnlicht erscheint bald
darauf ein malerischer Ort: Syrmisch-Karlo-
wih, die frühere Residenz dcr serbischen Patriarchen.
Dann kam Poterwardein in Sickst. Die olympischs Fak-
kel durchquerte hier einen geschichtlich weltbekannten
Ort. Peterwardcin mit der alten Festung ist berühmt
als Kampfstätts ciner Türkenschlacht, die Prinz Lugen
schlug. Von hier ginq es dann nach Neusah, das der
Sih deutscher Organisation ist.
Die olympische Fackel zwischen Neusah und der
ungarischen Grenze.
In Nsusah wicderholten sich beim Cintrsffen der
olympischsn Fackel die Vegrüßungsfeiern.
In den Gaffen, die fähnsngeschmückt tvaren, bildete
eine aroße Menschenmenge Spalicr.
Auf dem Sportplatz war cin Altar errichtet, aus dem
mit dem Fcuer dcr Olympiafackel die Flamms entzündet
wurde. Die Nationalhymne ertönte und es wurden Re-
den gehalten, in denen die völkervcrbindende Bedeutung
des Stafettenlaufes unterstrichen wurde.
Nach Vsendigung der Feier führten Turner Frei-
übungen und Ilebungen an Gsräten vor, die großen Bei-
fall fanden.
Dann wurde die Olympiafackel entzündet. Ilnter be-
geisterten Zurufen der Menge sstzte der neus Läufer den
Weg nach Norden fort. Der Stafettenlauf führt nun
durch die Batschka, wo es wieder große Schwaben
siedlungen zwischen Donau und Theiß gibt.
Km 3.35 Khr nachmittags hatte die Fackel dw MG
slawisch-ungarische Grenze Subotiha, das eheman
Maria-Theresiopel, erreicht. Die Kebergabe an dre -rn
garn erfolgte aber erst um 6 Khr morgens.
M We« dnch Uilipirn.
Feierliche Uebergabe an der Grenze.
Szeged, 38. Juli. (Eig. Funkmeldung.) Von Neusg«
bis zur Grenze durcheilte die O I y m p i a f l a g g e w>e-
der viele deutsche Dörfer, wo sie überall mit begeisterten
Heilrufen beqrüßt wird. Die Bewohner stehen gsdutow
stundenlang an der Dorfstratze, um den Augenblick oes
Durchlaufs nicht zu versäumen. Es dunkelt, die Schatwi
der Nacht senken sich langsam heralb. Die Dörfer sind hwr
sehr lang gezogen. Kilometerlang reiht sich Haus un
Haus, immer an der Straße entlang. Jn jedem der un
zähligen Fenster flimmert eine Kerze. Durch disses leucys
tende Spalisr geht die Olympiaflamme nach dem meisten?
von llngarn bewohnten Subotica. Der Ort, der sonst zes
tig schlafen geht, ist bis zum Morgengrauen auf den Bei'
nen, denn zwischen 2 und 3 Uhr nachts findet die Weiho'
stunde statt, bei der kein Einwohner fehlt.
Schon früh, kurz vor 6 Uhr, begegnen uns hinter Hor
gos die letzten jugoslawischen Läufer. Noch ein letzcer
Fackelwechsel, und die Grenze ist erreicht. Auf beiden
Seiten der Grenzlinie ist ein mit Kränzen und Blurneu
umwundenes fahnengeschmücktes olympisches Tor errichtel-
1500 ungari'sche Radfahrer, darunter viele Frauen, erwgr-
ten den Ablauf des ersten ungarischen Läufers. Die LgU-
fer machen Halt. Der Vertreter der Jugoslawen hält eine
kurze Ansprache. Ungarn und Jugoslawen kreuzen die Fad'
nen. Der stellvertretende Bürgermeister von «s-zeged, B e l a
Toth, übernimmt das olympische Feuer im Namen öes
Königreichs Ungarn. Nach seiner von leidenschaftliaiew
Patrwtismus erfüllten Ansprache singt die Szegeder Lie
dertafel dis ungarische Nationalhymne. Es ist ein tiesoe-
wegender Augenblick, wie diese Männer die begeisternden
Verse in den Morgen singen. Die Grenzwache salutieri
und alle stehen entblötzten Hauptes.
Die erste Etappe bis Budapest ist 1600 Kilometer lang-
203 Läufer wirken mit, meistens erstklasstge Sportslente,
darunter Dr. Hernadi, der die ungarische Marathon-
meisterschaft mehrmals errang.
Um 7.15 Uhr erreichte das olhmpische Feuer das Stadl-
hausZier königlichen Freistadt S z e g e d, wo es im Namsn
der Stadt von Obergespan Dr. Georg Jmecs empfangen
wird. Hier findet eine kurze Feisr statt. Der olhmpilchs
Altar ist ein riesiger Stamm. Jn einem uralten ungari-
schen Kelch brennt das olhmpische Feuer. An den vwr
Ecken des Alters stehen in Nationaltracht Darsteller det
alten ungarischen Gewerlbe. _
5406-/ kiobk un6 lcksrmcinn IkimiA
in „Osr gsksimniLvoüs däirksr X".
Die ganze Kaissrin-Augusta-Straße schlenderte sis
fcheinbar sorglos entlang, so lang sie in dem Sehbe-
reich von Dore Danners kleinem Balkon war. Dann
rannte sie, als gings um ihr Leben.
Am Prinzesstnnengarten prallte sie mit Profeflor
Freitag zusammen. Er lüftete verblüfft den Hut und
rief ihr etwas nach. Sie hörte nicht darauf. Sie
rannte verstört zum Philosophenweg hinauf und
nahm in dem stillen Haus ihrer Großmutter immer
drei Stufen auf s'nmal. Jn ihrem Zimmer riß sie un-
gestüm den kleinen Schreibtisch auf, entnahm ihm die Ab-
schrift des Gedichtes, öfsncte die Ofentür und strtch ein
Zündholz an. Sie setzte sich vor den Osen und sah mit
harten, glänzenden Augen zu, wie das Papier erst in
Flammen stand und dann langsam verkohlte. Sie schürte
das Häufchen Asche durch den Rost und stand auf: Fer-
tig!
Dann ging sie hinunter in den Salon.
Die Geheime Iustizrätin Müller saß auf der brei-
ten, gedeckten Veranda und klöppelte mit ihren gepflegten
Damenhänden eine wunderfeine Spihe. Sie wär in dem
schwarzen Seidenkleid mit dem Häubchen auf dem schnee-
weißen Haar eine vornehme Crscheinung, und ihre aus-
geglichene Ruhe übertrug fich wohltuend aus ihre llm-
gebung.
Nur nicht . . . und zwar zu ihrem heimlichcn Kum-
mer... auf ihre einzige Cnkelin, die mit ihrem wortlosen
Trotz gegen jede geheiligte Tradition Front machte und
auch jetzt wieder mit sinsteren Augen die Veranda betrat.
Die Gcheime Iustizrätin klöppelte eifrig weiter und
fragte, ohne aufzublicken: „Wo warst du . . . mein Kind?"
„Vei Dore Danner . . . um Abschied zu nchmcn!"
„Abschied? Verreist sie denn?"
„Sie nicht . . aber ich!"
Nun ließ die Geheimrätin doch ihre Arbeit sinken:
„Mitten im Semester? Du hast doch morgen Referat!"
„Das ist mir gleichgültig! Ich sahre nach Heidel-
berg zu Tante Rittmeister!"
Die Geheimrätin betrachtete mit strsngen Augen das
blafle Mädchen: „Wenn du so mit deinen akademischcn
Aufgaben rumspringst, wirst du nis dazu kommen, den
Doktor zu machen!"
„Das werd ich sogar bestimmt nicht . . . Großmama!
Darauf geb ich dir Vrief und Siegel!"
Die Geheimrätin schnappte nach Luft. Doch das
rabiate Mädchcn hob abwehrend die Hand: „Du bereitest
setzt eine lange Rede vor . . . Großmama! Vitte, erspar
sie uns beiden . . . sie wärs vollkommen sür die Katz. Ich
bin mündig und weiß ganz genau, was iH will!"
„So!" Die Geheimrätin hob ironiich die Augen-
brauen: „llnd was willst du... wenn ich mir die Frage
erlauben dars?"
„Ich will diesem Drohnenleben ein Cnde machen! Ich
will nühliche Arbeit leisten und andern Menschen tragen
helfsn!"
„Knd das glaubst du ausgerechnet in Heidelberg zu
können? Wo deine Tante knapp ihrs süns Gören satt be-
kommt, willst du den sechsten Vrotefler machen?"
„Ich steuere natürlich zum Haushalt bsi. Ilnd dann
wird sofort der kostspielige Hauslehrer entlaffen. Dasür
büsfele ich mit Hans Gcorg zum Schlußexamen. Du weißt.
Originslromsn von Llss Spsrwasssr
04sevckru<:I< vsrdotsn) _
lZ
wenn der lanae Cssl das Abitur nicht besteht, ist die Kata-
strophe fertig!"
„So! Gesetzt den Fall. . . dir gelingt das Wunder.
Was dann?"
„Dann sind noch vier Söhne da, die stch an der Ma-
thematik den Schädel cinrennen!"
„Käthe!" sagte die Geheimrätin kopfschüttelnd: „Du
bist verrückt!"
„Vitte, drück dtch ruhig aus, wie es dir beliebt . . .
Großmamal Ich weiß, dir lst die Schwester meiner Mut-
ter vollkommen gleichgültig. Das wird mich aber nicht ab-
halten, jetzt dort einnial nächdrücklich nach dem Rechten zu
sehen und dafür zu sorgen, daß die von den vielen Gebur-
ten erschöpfte Frau endlich mal nach Nauheim geht. . .
wenn nicht anders . . . daim auf meine Kosten!"
Die Geheimrätin erhob sich mit unnachahmlicher Vor-
nehmheit: „O . . . bitte, liebes Kind . . . ich will deinen
Samariterdiensten durchaus keinen Stein in den Weg
legen. Wann reisest du?"
„Morgen früh! Ich gch jeht gleich ans Packen und
gebe noch ein Telegramm auf!"
„So... na! Hier ist übrigens ein Brief für dich
von deiner neugsbackenen Stiesmutter!"
Käths Müller ergriff den Vrief mit einem Wider-
streben, als sei er eine glühends Herdplatte. Vor ihrem
kleinen Schreibtisch saß sie noch eine Weile unschlüssig,
ehe ste das Schreiben öffnete.
„Liebes Mädchen!" stand da in einer klaren, sauberen
Handschrist: „Ich bin mcin Lebtag nicht für lange Vriese
und schöne Worte gewesen und werde mich auch diesmal
kurz saffen. Die seltenen Vriefe, die du deinem Vater
schreibst, sind erfüllt von einer friedlosen, zersehenden
Selbstironie, die mir schwer zu denken gibt. Du bist nicht
glücklich! Ich werds dich nie danach fragen, wieso und
warum, wenn du nicht selbst dcin Herz vor mir öffnest.
Aber willst du nicht lieber nach Hause kommen? Sieh . . .
es tut mir weh, daß ich dich vielleicht hinausgedrängt
habs . . . und daß du in der Fremde vislleicht nicht Wur-
zel schlagen kannst. Ich habe gestern lange am Grab dei-
ner Mütter geseflen und an dich gedacht. Ilnd ich trage
dir jetzt meine Freundschaft an . . . weise sie bitte nicht
zurück!
Ich bin unsäglich glücklich geworden! klnd ich möchte
dich mit in dieses Glück eingeschloflen wisien. . "
Mit einem bösen, kalten Lächeln sah Käthe Müller
über den Brief hinweg ins Leere. Diese Zumutung, den
Vater stündlich als balzenden Auerhahn zu genießen . . .
und diese sremde, bräutliche Person im Salon herrschen
zu sehsn, in dem einst dis tote Mutter ihre Gäste emp-
fing . . . diese unerträgliche Zumutung. . .!
Sie zerriß dcn Vrief, ohne ihn zu Cnde gelesen zu
haben, und warf ihn in den Papierkorb. Dann'wurde ste
nachdenklich: Vielleicht hatte es diessr warmherzige
Freundschastsantrag nicht verdient, so erlcdigt zu wer-
den?
Ach was, . . . nur ja keine Gefühlsduselei! Cs waren
schon ganz andere Vriefe verachtet und belächelt in den
Papierkorb geflogen! Das war nun mal so! Damit hatte
man sich abzüsinden!
-k-
Als Male nun endlich. . . nach langen, inneren
KLmpfen und angstvoll die Klinik betrat, legte sich der
Krankenhausgeruch wie ein Alp auf ihrs Brüst, und die
sanften Pflegerinnen mit ihren weißen Flügelhauben ka-
men ihr vor wie Torwächterinnen des Todes. Sie war
in ihrem Leben noch nicht ernsthaft krank gewesen, und
ihre gesunde Iugend sträubte sich mit wildem Grausen
aegen alles, was mit Tod und Verqänglichkeit zusammen-
bing. So ging sie mit angstvoll slatterndem Herzschlag
durch die weiten, hellen Wandelgänge, warf einen flehen-
den Blick cmpor zu dsm großen K'ruzifix an der Wand
und kämpftc mit Aufbietung aller Kraft gegen die aufstei-
gende Uebelkeit, von der ste seit Wochen täglich ein paar-
mal befallen wurde.
Sic lauerte aus Fritz Berthold mit dem leidenschaft-
lich verbiffenen Vorsatz, nicht eher dieses Haus zu verlas-
sen, als bis sie ihn gesprochen habe.
Cs war mittaqs um zwölf Ahr. An den Stations-
küchen wurde die Suppe verteilt. Der Geruch von Fleisch-
brühe rief in dem Magen der Male eine Revolution her-
vor, daß ste sich mit geschloffenen Augen an die Wand
lehnte und nicht zu atmen wagte, um der schrecklichen
Uebelkeit Herr zu werden.
„Sind Sic krank?" sragte eine teilnehmende Stinime
neben ihr.
„Schwester!" wich Male unsicher den sanften Augen
der Pslegerin aus: „Ach bitte . . . könnte ich nicht den
Herrn Doktor Berthold sprechen?"
„Da haben Sie aber Glück, liebes Fräulein! Sonst
siht der Herr Doktor jede freie Minute im Laboratorium
und darf nicht gsstört werden. Aber jeht ist er grad auf
Station zwölf. Cr muß jeden Augenblick hier vorbeikom-
men. Wollen Sie stch nicht so lang ins Sprechzimmer
setzen?"
„Danke vielmals . . ." lächeltc Male mühsam: „Mir
ist schon wieder beflcr. Ich werde hier draußcn warten!"
Cin Glockenzeichen schrillte, die Pflcgerin sah nach
dcr aufleuchtenden Nummer an dem Signalbrett und
eilte ihrer Pflicht nach. Male ging zu dem großsn Kruzi-
fix an der Wand und umklainmerte den sterbenden Lhri-
stus mit beschwörendem Vlick: „Du mußt mir jetzt helsen,
du darfst mich jeht auf gar keinen Fall rm Stich laflcn . .
ach liebcr . . . lieber Gott . . . laß alles gut ausgehen."
Ihr war, als hätte der Christus am Kreuz' lcise ge'lächelt.
Das gab ihr Mut. Sie lehnte an dsr Fensterbrüstung
und schaute aus die grünen Bäume hinaus. Cs regnete
wie feine Vindfädcn vom trüben Himmel, und irgendwie
wirkte der Garten draußen herbstlich, obwohl es erst An°
fang September war.
Vom Cnde des langen Wandelganges dröhnten rasche
Schritte heran. Male wandte sich'nicht um. Sie sühltc
mit der Hellhörigkeit der Liebe, daß es nicht Frih Vert-
hold war, der da kam. Sie sah im Sehwinkel einen wei-
ßen, wshcnden Mantcl an sich vorüberstreifen, drehte scheu
und vorsichtig den Kopf und erkannte den hellblondcn,
peinlich frisiertsn Schops Cberhards, der gleich daraus in
oincm Separatzimmer verschwand.
Und wieder starrts sie auf den verregneten Garten
hinaus. Hinter ihrem Rücken klirrte leise das leere Ge-
schirr zur Stationsküche zurück. Cndlich wurde auf Sta-
tion zwölf eine Tür zugcklappt, und cins warme, dunkle
Männerstimme rief: „Schwester!"
Cilfertige, leise Schritte liefen dem Rufenden ent-
gegen: „Vitic . . Herr Doktor?"
Male hielt mit eiskalten, zitternden Händen das
Fensterkreuz umklammert, und das Herz schlug ihr bis
zur Kehle hinauf. Ihr Vlick hing glasig an dem verreg-
neten Garten... ihre erregten Siüne erfaßten kaum did
Weisungen, die Doktor Fri'tz Verthold der Pflegerin gav-
Dann hörte sie ihn herankommen ... tap . .1 tap - - '
es war, als trete er mit jedsm Schritt aus ihr slattern'
des, geängstigtes Herz. Nun wandte sie sich um und sah
ihm mit trüben Augen entgegen.
Cr stuhte zuerst, und ein peinvolles Unbehagen gi"?
über sein strasfes, ernstes Gesicht. Dann war er mit zw^
langen Sähen bsi ihr und streckte ihr die Hand entgege"'
„Male . . . du?"
Auf ihrer Stirn standen seine, kalte Schweißtropfew
Sie suchte nach Worten, und rhr siel kein einziges ein vo"
dcm, was sie sagen wollte. Sein Blick ging fächlich pr"'
fend über ihr schmalgewordenes Gcstcht mit den tiefui"'
schattsnden Augen: „Bist du krank . . . Male?"
„Ia!" wür'gte sie heraus: „llnd du mußt mir helfe"!
Cr schob sie ohnc vicl Ilmstände in ein kleines, leeres
Sprechzimmer, drückte ste auf den Stuhl neben dc>"
Schreibtisch und sehte sich dicht vor fte hin: „Also - - '
wo fehl's?"
Sie schwieg mit geschloflenen Augen und erdfahlew
Gesicht. Da klopste er leise und gütig äus ihre verkramp.!'
ten Hände: „Na . . . na . . . kleine Male. . . ich frE
dich doch nicht!"
Ilnd wieder keine Antwort.. nur cin zittcrndes
zen. Cr streichelte bcruhigend ihr blasses Gesicht: „Avrr
Male . . . dummss Mädel . . . was hast du denn n»r -
Sie rührte sich nicht. Sie saß mit geschlosserw"
Augen und sagte tonlos: „Ich bekomme ein Kind!"
Wie von eincr Natter gebiffen, sprang er auf tzw
betrachtete sie in faffungsloscr Bestürzung, Sie strru -
mit kurzsm Vlick sein Gesicht und lächelte bitter:
unbesorgt. . . Frih . . . du bist nicht der Vater!" ^
Dieses bittcre Lächeln tras ihn wie ein Schlag
Gesicht, und er schämte sich vor ihr bis in die ticfste Sce
hinein. Da klammerte sic flehend seinen Arm: „Ich
kein Kind gebrauchen . . . Fritz . . . du mußt mir
fen . . ." ...
Und er darauf . . . leise ... mit tödlichcm
„Nicht. . . und wenn du meine leibeigene Schwcw
wärst!"
Sie wurde weiß wic ein Leintuch vor diesem cntschr
denden Spruch: „Dann geh ich in die Saale. . - 3'^^
so wahr mir Gott helfc!"
Cr sah finstcr auf sie nieder: „Wer ist der Dater-
Sie lächelte trüb: „Das weißt du doch ganz gc""
wer es außer dir nur sein kann!"
„Heinrich Cckert?"
„Heinrich Cckert! Cr hat mir alles verziehen!" ^
Fritz Verthold ging mit langen Schritten i" ^ ,
kleincn Raum aus und nieder: ^,Weiß er deinen -a
stand?"
„Cr wciß ihn!"
„Na. . . und wie stellt er sich dazu?" .
„Ach . . . der möchte mir am liebsten gleich stüi ^
abnehmen, um es vor mir zu beschützen!"' .. so
Frih Berthold blieb stehen: „Dann werdet M
schncll wie möglich heiraten!" ..
Und wieder ihr bitteres Lächcln: „Glaubst
wenn das so einfach wäre. . . ich wäre jemals hw ^
gekommen?" , >
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„Heidelberger Neuefie Nachrichlen" — „Heidekberger Anzeiger"
Dienstag 28. Iuli 1936
Nr. 174
SelnriK Rilkett gestorden.
Dieser Tage starb der bekannte Heidelberger Philo-
soph Geheimrat Professor Heinrich Rickert im Al-
ter von 73 Jahron. Ter Tod des Gelehrten, der län-
gere Zeit mit unserer Universität verbunden war, be-
deutet den Abbruch der großen Tradition eines Zwei-
ges der deutschen philosophischen Lehre, d?r unserem
Heimatland seinen besonderen Platz in der deutschen
Geistesgeschichte gibt. Denn Heinrich Rickert war der
berühmte Fübrer der „badsche-n Philoso-
phenschule , die von großer Bedeutung für die
Entwicklung des gesamten wissenschaftlichen Denkens
in Deutschland besonders in den Jahrzehnten seit der
Jahrhundertwende wurde.
Mancher seiner Hörer wird sich noch der Stunde
erinnern, in der Heinrich Rickert im Mai 1933 einen
ergreisenden Ueberblick über sein Leben gab. Er hatte
alle Stufen der deutschen Staatswerdung durchlebt.
Erlebnisse semer Kindheit waren dem 1863 in Danzig
geborenen Sohn eines bekannten Politikers Svmbol
für die unselige Zerspaltenheit unseres Volkes, der
Prozeß der Einigung des Reichs unter Bismarck be-
stimmte dann die Jahrzehnte seiner Jugend, und inr
Rückblick des Alters sah er glücklich die machtvolle poli-
tische Niederringung des materialistischon und marxi-
stischen Wesens, dessen Bekämpfung seine Geistesarbeit
gegolten hatte.
Unbeachtet seiner norddsutschen Abstammung
fühlte stch Heinrich Rickert bald mit der Lebenswelt
des deutschen Südens und besonders mit der Geistes-
wissenschaft in der Südwestmark des Reichs eng ver-
bunden Er hatte 1888 bei Wilhelm Windelband in
Straßburg promoviert mit einer Arbeit „Zur Lehre
von der Definition", die schon den Ramen des sungen
Gelehrten bekannt machte. Grundlegend für sei-n Phi-
losophieren wurde dann die Schrift über den „Gegen-
stand der Erkenntnis", mit der er stch 1892 in Freiburg
i. B. habilitiert hat. Schon 1896 wurde Rickert zum
ordentlichen Professor an der Freiburger Univer-
sttät ernannt, von wo aus sein philosophisches Werk
zu immer größerer Bedeutung sich steigerte. 1916
übernahm er dann den Heidelberger Lehrstuhl
als der Nachfolger seineZ Lehrers Wilhelm Windel-
band. Er war von diesem Jahr an nicht nur ein For-
scher, der durch seine Werke den Ruhm der Heidelber-
ger Hochschule weit über Deutschland hinaus vön neuem
mehrte, sondern auch ein Lehrer, dessen Kollegs zu den
wesentlichsten Anziehungskrästen unserer Hochschule
gehörton.
Studierende aus aller Welt lauschten diesem
Wtann, der jeden Mittag im gleichen, bänkezerschnitzten
Hörsaal der alten Univcrsität las. Jn seinen Worten
war eine klare Geschliffenheit des Denkens erkennbar,
und die Begrifse, die dieses Denken leiteten, waren in
ihrer Geformtheit Aauberschlüssel, die auch demjenigen
den Eintritt in Rickerts philosophisches Reich ermög-
lichten, der sich nicht mit seiner ganzen Kraft allein
dem Studium der Philosophie widmen konnte. Höhen
und Tiefen waren in diesem Denken Heinrich Rickerts
logisch verbunden, bei dem immer eine Grundströ-
mung erkenntlich war: das erregende Vielerlei des un-
mittelbar erfahrenen Lebens in die ordnende
Schau eines systematischen Denkens zu
fügen.
Dabei war immer eine tiefe Aneignung und Kennt-
nis der Geschichte der Philosophie spür-
bar, die zugleich für Rickert schon die Basis des bereits
Gedachten ergab und ihm das Weiterschreiten seines
philosophischen Denkens im strengen Gefttge der Tra-
dition ermöglichte. Jn seiner Klärung der gesamtwis-
senschastlichen Begriffswelt wurde seine Arbeit von
größter Bedeutung für die einzelnen Disziplinen des
wissenschaftlichen Denkens. Welche Anregungen z. B.
ein Geist wie Max Weber von Rickert gehabt hat, ist
weithin bekannt. Rickert schuf die erkenntnis-
theoretische U n 1 e r sche i du n g der Einzel-
w i ss e n scha f te n, die immer nur die Teilgebiete
des Lebens untersuchen können, und der Philosophie,
die als Wissenschaft vom All wirkt. Er kam
in seinem berühmten Werk über „Die Grenzen der na-
turwissenschaftlichen Begriffsbildung" zu der bestim-
menden Unterscheidung in generalisierende und indivi-
dualisierende Wissenschafton, die das Denken der fol-
genden Zeit grundlegend bestimmen. Im Wesentlichen
aber galt sein Denken dem Wert des Lebens, und
seine Lehre von der Stufung der Werte wurde zu einer
Weltanschauungslehre, die stch um Klarheit über den
Sinn des Lebens bemühte.
Eine tiefe Verbindug mit der deutfchon Geschichte
und den großen Gestaltungen des deutschen Geistes
war bei Rickert immer zu fühlen. Goethes
,Faust" hat ihn tief und unaufhörlich beschäftigt.
Jn den Worten des Dichters bemühte sich der Gelehrte
oft, den eigenen Gedanken Gültigkeit zu verleihen.
War schon sein durch Alter bedingter Verzicht auf
Vorlcsungen ein spürbarer Verlust, so wird es jetzt
durch den Tod dieses feinen und kultivierten Gelehrten
still um eine Tradition deutscher Philosophie, die er
durch Jahrzehnte geführt hat.
Mignon bei dev Roviantikern.
Die Stunde der Hausmusik im Romantikersaal der
Heidelberg-Ausstellung bürgert sich immer
mehr ein. So wohnten am Samstag zahlreiche Zu-
hörer der Veranstaltung „Frau Minne" bei. Am heu-
tigen Dienstag, 17.30 Uhr, findet bereits die
Ächte Hausmusik unter dem Motto „Mignon" statt.
Zwei Ausschnitte aus Goethes Dichtung „Wilhelm
Meister", vorgetragen von unserer Heidelberger Mit-
bürgerin Frau Frma Derwein-V. Drygalski,
werde-n von Liedern von Robert Schumann und Franz
Schubert umrahmt sein. Paula Schneider singt
die Mignonlieder „Heiß mich nicht reden", „So laßt
mich scheinen", „Kennst du das Land?" von Schumann
und die von dem gleichen Meister vertonten Dichtungen
von Eichendorff „Aus der Heimat" und „Jch kann
wohl manchmal singen". Auch Schuberts „Nur wer die
Sehnsucht kennt" wird in diesem Programm nicht feh-
len. Die Klavierbegleitung hat Heinrich Sieben-
haar übernommcn.
Die Neunte Hausmusik am Samstag, den
8. August, trägt den Namen „Schlaf und Tod".
Borausstchtliche Witteruna für Baden, Württembera
uud Hohenzollern bis Mittwoch abend:
Jn der Richtung wechselnde, vorwiegend südwestliche
bis westliche Winde. Vielfach bewölkt, Regenfälle, zum
Teil gewittriger Art. Gelegentlich auch wieder aufheiternd.
Temperaturen schwankend. Mäßig warm und zeitweise
auch schwül.
Filmschav.
Capitol: „Der geheimnisvolle Mister"
Gloriallichtspiele: „Trenck"
Kammerlichtspiele: „Leichte Kavallerie"
Odeon: „Cin Mädcl aus guter Familie."
Schlotzlichtspiele: „Martha"
Heulige Verlmer Vorbörse.
An der Vorbörse scheint weiteres Abgabebedürfnis
vorzuliegen, so Laß man womöglich mit weiter zurück-
gehenden Kursen rechnen muß. Anderseits besteht aber
auch Jnteresse für Montanwerte. Am Valutenmarkt
wurde das englische Pfund allgemein etwas schwächer ge-
meldet. so daß sich eine Berliner Notiz von 12,47)4 er-
rechnete. Der Dollar war mit 2,486 unverändert. Von
den Goldvaluten zogen der schweizer Franken und der
holländische Gulden an.
Sleine Meldungen.
— König Lduard von England hat seine beabstch-
tigte Crholungsreise nach Südfrankreich aufgegeben.
— Der frühere abeflinische Postminister Kanyaz.
matsch Takle-Marcos hat nach italienischen Zeitungs-
meldungen aus Addis Abeba seine Anterwerfung unter
die italienische Oberhoheit erklärt.
Der Wrg drr «lWWchen Faürl.
Feierftmde in VelM.
Schwaben tragen die Fackel.
Velgrad, 27. Iuli. Die olympische Fackel
traf in Velgrad am Montag gegen 9 Uhr vormit-
tags ein. Auf dem größten Platz dcr Stadt, der Tera-
zija, fand cine eindrucksvolle olympischs Feier
statt. Die Hauptstraßen von Belgrad waren von Tau-
senden von Menschen ersüllt, die den Fackelläufer lebhaft
begrüßten. Der riesige Terazija-Plah war rings von
einsr vieltausendköpfigen Mengs umsäumt. Die Fenster
sämtlicher umliegenden Häuser waren dicht besetzt,
ebenso die Dächer. In der Mittc des Platzcs war ein
großer olympischcr Altar errichtet, dessen Spihe das Dek-
ken für das olympische Feuer trug. Gegenüber dem Al-
tar hatten aus einer Tribüne die Chrengäste Platz ge-
nommen: der Vertreter des Königs, Gardeoberst Kokolj,
der Minister für körperliche Crtüchtigung Dr. Rogitsch,
der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses Maritsch, der
Oberbürgermeister von Bclgrad Ilitsch, dsr deutsche Ge-
sandte von Heeren und dic diplomatischen Dcrtreter
sämtlicher Staaten, durch die die olympische Fackel gstra-
qen wird, Landesgruppenlciter Oberingenieur Neu -
hausen, der Vorsihendc des Belgrader Olympischcn
Komitees Dr. Schivkovitsch u. a.
Am Altar llbernahm Oberbürgermeister Ilitsch
die Fackcl und stieg mit ihr, in Vcgleitung des Vertrs-
ters des Königs und des Vorsihenden des Olympischen
Komitees, die Stusen des Altars hinan, um das olympi-
sche Feuer zu entzünden. Dic Militärkapelle spiclte dazu
die Olympische Hymne. Der Oberbürgermeister hielt von
der Redncrtribünc, die vor dsm Altar errichtet war,
eine Ansprache, in dcr er die olvmpische Idee dcr Völker-
verständigung feierte und der Verliner Olympiade im
Namen der Stadt Velgrad einen vollen Crfolg wünschte.
Nachdcm von der Musik die Staatshvmne gespielt
worden war, ergriff der Mimster für körperlichs Crtüch-
tiqung Dr. Nogitsch das Wort. Cr wllrdigte die
Berlmer Olympiade als das größte Sportereignis der
Welt und wics auf ihre Friedcnsmission bin. Als
Lehter sprach der Vorsthende dcs Bslgrader Olympi-
schen Komitees Dr. Schivkovitsch, worauf er unter
den Klängen der Olympischen Hymne den Altar in Ve-
gleitung eines Turners bestieg und dort die neue Fackel
entzündete, die er dem Turncr mit Händedruck und drei-
matigen Vruderkuß überreichte.
Anter bcgeistertcn Zurufen der Menge truq der Tur-
ner um 10.07 Khr die Fackel aus der Stadt hinaus. Die
Feier machts auf alle Anwesendsn einen tiesen Cindruck.
Vor Semlin bsi Belgrad wurds die Olympia-
flamme durch dis fruchtbare syrmische Cbene nach
der Schwabenstedlung in Indisa getragen, wo von 15 000
Cinwohnern 10 000 Deutsche sind.
Durch Indija trugen Schwaben die olympische
Fackel, die sich dann den Frankenbergern zuwandten, wo
einst die letzten Vorposten Karls des Großen gegen die
Avaren standen. Im glühenden Sonncnlicht erscheint bald
darauf ein malerischer Ort: Syrmisch-Karlo-
wih, die frühere Residenz dcr serbischen Patriarchen.
Dann kam Poterwardein in Sickst. Die olympischs Fak-
kel durchquerte hier einen geschichtlich weltbekannten
Ort. Peterwardcin mit der alten Festung ist berühmt
als Kampfstätts ciner Türkenschlacht, die Prinz Lugen
schlug. Von hier ginq es dann nach Neusah, das der
Sih deutscher Organisation ist.
Die olympische Fackel zwischen Neusah und der
ungarischen Grenze.
In Nsusah wicderholten sich beim Cintrsffen der
olympischsn Fackel die Vegrüßungsfeiern.
In den Gaffen, die fähnsngeschmückt tvaren, bildete
eine aroße Menschenmenge Spalicr.
Auf dem Sportplatz war cin Altar errichtet, aus dem
mit dem Fcuer dcr Olympiafackel die Flamms entzündet
wurde. Die Nationalhymne ertönte und es wurden Re-
den gehalten, in denen die völkervcrbindende Bedeutung
des Stafettenlaufes unterstrichen wurde.
Nach Vsendigung der Feier führten Turner Frei-
übungen und Ilebungen an Gsräten vor, die großen Bei-
fall fanden.
Dann wurde die Olympiafackel entzündet. Ilnter be-
geisterten Zurufen der Menge sstzte der neus Läufer den
Weg nach Norden fort. Der Stafettenlauf führt nun
durch die Batschka, wo es wieder große Schwaben
siedlungen zwischen Donau und Theiß gibt.
Km 3.35 Khr nachmittags hatte die Fackel dw MG
slawisch-ungarische Grenze Subotiha, das eheman
Maria-Theresiopel, erreicht. Die Kebergabe an dre -rn
garn erfolgte aber erst um 6 Khr morgens.
M We« dnch Uilipirn.
Feierliche Uebergabe an der Grenze.
Szeged, 38. Juli. (Eig. Funkmeldung.) Von Neusg«
bis zur Grenze durcheilte die O I y m p i a f l a g g e w>e-
der viele deutsche Dörfer, wo sie überall mit begeisterten
Heilrufen beqrüßt wird. Die Bewohner stehen gsdutow
stundenlang an der Dorfstratze, um den Augenblick oes
Durchlaufs nicht zu versäumen. Es dunkelt, die Schatwi
der Nacht senken sich langsam heralb. Die Dörfer sind hwr
sehr lang gezogen. Kilometerlang reiht sich Haus un
Haus, immer an der Straße entlang. Jn jedem der un
zähligen Fenster flimmert eine Kerze. Durch disses leucys
tende Spalisr geht die Olympiaflamme nach dem meisten?
von llngarn bewohnten Subotica. Der Ort, der sonst zes
tig schlafen geht, ist bis zum Morgengrauen auf den Bei'
nen, denn zwischen 2 und 3 Uhr nachts findet die Weiho'
stunde statt, bei der kein Einwohner fehlt.
Schon früh, kurz vor 6 Uhr, begegnen uns hinter Hor
gos die letzten jugoslawischen Läufer. Noch ein letzcer
Fackelwechsel, und die Grenze ist erreicht. Auf beiden
Seiten der Grenzlinie ist ein mit Kränzen und Blurneu
umwundenes fahnengeschmücktes olympisches Tor errichtel-
1500 ungari'sche Radfahrer, darunter viele Frauen, erwgr-
ten den Ablauf des ersten ungarischen Läufers. Die LgU-
fer machen Halt. Der Vertreter der Jugoslawen hält eine
kurze Ansprache. Ungarn und Jugoslawen kreuzen die Fad'
nen. Der stellvertretende Bürgermeister von «s-zeged, B e l a
Toth, übernimmt das olympische Feuer im Namen öes
Königreichs Ungarn. Nach seiner von leidenschaftliaiew
Patrwtismus erfüllten Ansprache singt die Szegeder Lie
dertafel dis ungarische Nationalhymne. Es ist ein tiesoe-
wegender Augenblick, wie diese Männer die begeisternden
Verse in den Morgen singen. Die Grenzwache salutieri
und alle stehen entblötzten Hauptes.
Die erste Etappe bis Budapest ist 1600 Kilometer lang-
203 Läufer wirken mit, meistens erstklasstge Sportslente,
darunter Dr. Hernadi, der die ungarische Marathon-
meisterschaft mehrmals errang.
Um 7.15 Uhr erreichte das olhmpische Feuer das Stadl-
hausZier königlichen Freistadt S z e g e d, wo es im Namsn
der Stadt von Obergespan Dr. Georg Jmecs empfangen
wird. Hier findet eine kurze Feisr statt. Der olhmpilchs
Altar ist ein riesiger Stamm. Jn einem uralten ungari-
schen Kelch brennt das olhmpische Feuer. An den vwr
Ecken des Alters stehen in Nationaltracht Darsteller det
alten ungarischen Gewerlbe. _
5406-/ kiobk un6 lcksrmcinn IkimiA
in „Osr gsksimniLvoüs däirksr X".
Die ganze Kaissrin-Augusta-Straße schlenderte sis
fcheinbar sorglos entlang, so lang sie in dem Sehbe-
reich von Dore Danners kleinem Balkon war. Dann
rannte sie, als gings um ihr Leben.
Am Prinzesstnnengarten prallte sie mit Profeflor
Freitag zusammen. Er lüftete verblüfft den Hut und
rief ihr etwas nach. Sie hörte nicht darauf. Sie
rannte verstört zum Philosophenweg hinauf und
nahm in dem stillen Haus ihrer Großmutter immer
drei Stufen auf s'nmal. Jn ihrem Zimmer riß sie un-
gestüm den kleinen Schreibtisch auf, entnahm ihm die Ab-
schrift des Gedichtes, öfsncte die Ofentür und strtch ein
Zündholz an. Sie setzte sich vor den Osen und sah mit
harten, glänzenden Augen zu, wie das Papier erst in
Flammen stand und dann langsam verkohlte. Sie schürte
das Häufchen Asche durch den Rost und stand auf: Fer-
tig!
Dann ging sie hinunter in den Salon.
Die Geheime Iustizrätin Müller saß auf der brei-
ten, gedeckten Veranda und klöppelte mit ihren gepflegten
Damenhänden eine wunderfeine Spihe. Sie wär in dem
schwarzen Seidenkleid mit dem Häubchen auf dem schnee-
weißen Haar eine vornehme Crscheinung, und ihre aus-
geglichene Ruhe übertrug fich wohltuend aus ihre llm-
gebung.
Nur nicht . . . und zwar zu ihrem heimlichcn Kum-
mer... auf ihre einzige Cnkelin, die mit ihrem wortlosen
Trotz gegen jede geheiligte Tradition Front machte und
auch jetzt wieder mit sinsteren Augen die Veranda betrat.
Die Gcheime Iustizrätin klöppelte eifrig weiter und
fragte, ohne aufzublicken: „Wo warst du . . . mein Kind?"
„Vei Dore Danner . . . um Abschied zu nchmcn!"
„Abschied? Verreist sie denn?"
„Sie nicht . . aber ich!"
Nun ließ die Geheimrätin doch ihre Arbeit sinken:
„Mitten im Semester? Du hast doch morgen Referat!"
„Das ist mir gleichgültig! Ich sahre nach Heidel-
berg zu Tante Rittmeister!"
Die Geheimrätin betrachtete mit strsngen Augen das
blafle Mädchen: „Wenn du so mit deinen akademischcn
Aufgaben rumspringst, wirst du nis dazu kommen, den
Doktor zu machen!"
„Das werd ich sogar bestimmt nicht . . . Großmama!
Darauf geb ich dir Vrief und Siegel!"
Die Geheimrätin schnappte nach Luft. Doch das
rabiate Mädchcn hob abwehrend die Hand: „Du bereitest
setzt eine lange Rede vor . . . Großmama! Vitte, erspar
sie uns beiden . . . sie wärs vollkommen sür die Katz. Ich
bin mündig und weiß ganz genau, was iH will!"
„So!" Die Geheimrätin hob ironiich die Augen-
brauen: „llnd was willst du... wenn ich mir die Frage
erlauben dars?"
„Ich will diesem Drohnenleben ein Cnde machen! Ich
will nühliche Arbeit leisten und andern Menschen tragen
helfsn!"
„Knd das glaubst du ausgerechnet in Heidelberg zu
können? Wo deine Tante knapp ihrs süns Gören satt be-
kommt, willst du den sechsten Vrotefler machen?"
„Ich steuere natürlich zum Haushalt bsi. Ilnd dann
wird sofort der kostspielige Hauslehrer entlaffen. Dasür
büsfele ich mit Hans Gcorg zum Schlußexamen. Du weißt.
Originslromsn von Llss Spsrwasssr
04sevckru<:I< vsrdotsn) _
lZ
wenn der lanae Cssl das Abitur nicht besteht, ist die Kata-
strophe fertig!"
„So! Gesetzt den Fall. . . dir gelingt das Wunder.
Was dann?"
„Dann sind noch vier Söhne da, die stch an der Ma-
thematik den Schädel cinrennen!"
„Käthe!" sagte die Geheimrätin kopfschüttelnd: „Du
bist verrückt!"
„Vitte, drück dtch ruhig aus, wie es dir beliebt . . .
Großmamal Ich weiß, dir lst die Schwester meiner Mut-
ter vollkommen gleichgültig. Das wird mich aber nicht ab-
halten, jetzt dort einnial nächdrücklich nach dem Rechten zu
sehen und dafür zu sorgen, daß die von den vielen Gebur-
ten erschöpfte Frau endlich mal nach Nauheim geht. . .
wenn nicht anders . . . daim auf meine Kosten!"
Die Geheimrätin erhob sich mit unnachahmlicher Vor-
nehmheit: „O . . . bitte, liebes Kind . . . ich will deinen
Samariterdiensten durchaus keinen Stein in den Weg
legen. Wann reisest du?"
„Morgen früh! Ich gch jeht gleich ans Packen und
gebe noch ein Telegramm auf!"
„So... na! Hier ist übrigens ein Brief für dich
von deiner neugsbackenen Stiesmutter!"
Käths Müller ergriff den Vrief mit einem Wider-
streben, als sei er eine glühends Herdplatte. Vor ihrem
kleinen Schreibtisch saß sie noch eine Weile unschlüssig,
ehe ste das Schreiben öffnete.
„Liebes Mädchen!" stand da in einer klaren, sauberen
Handschrist: „Ich bin mcin Lebtag nicht für lange Vriese
und schöne Worte gewesen und werde mich auch diesmal
kurz saffen. Die seltenen Vriefe, die du deinem Vater
schreibst, sind erfüllt von einer friedlosen, zersehenden
Selbstironie, die mir schwer zu denken gibt. Du bist nicht
glücklich! Ich werds dich nie danach fragen, wieso und
warum, wenn du nicht selbst dcin Herz vor mir öffnest.
Aber willst du nicht lieber nach Hause kommen? Sieh . . .
es tut mir weh, daß ich dich vielleicht hinausgedrängt
habs . . . und daß du in der Fremde vislleicht nicht Wur-
zel schlagen kannst. Ich habe gestern lange am Grab dei-
ner Mütter geseflen und an dich gedacht. Ilnd ich trage
dir jetzt meine Freundschaft an . . . weise sie bitte nicht
zurück!
Ich bin unsäglich glücklich geworden! klnd ich möchte
dich mit in dieses Glück eingeschloflen wisien. . "
Mit einem bösen, kalten Lächeln sah Käthe Müller
über den Brief hinweg ins Leere. Diese Zumutung, den
Vater stündlich als balzenden Auerhahn zu genießen . . .
und diese sremde, bräutliche Person im Salon herrschen
zu sehsn, in dem einst dis tote Mutter ihre Gäste emp-
fing . . . diese unerträgliche Zumutung. . .!
Sie zerriß dcn Vrief, ohne ihn zu Cnde gelesen zu
haben, und warf ihn in den Papierkorb. Dann'wurde ste
nachdenklich: Vielleicht hatte es diessr warmherzige
Freundschastsantrag nicht verdient, so erlcdigt zu wer-
den?
Ach was, . . . nur ja keine Gefühlsduselei! Cs waren
schon ganz andere Vriefe verachtet und belächelt in den
Papierkorb geflogen! Das war nun mal so! Damit hatte
man sich abzüsinden!
-k-
Als Male nun endlich. . . nach langen, inneren
KLmpfen und angstvoll die Klinik betrat, legte sich der
Krankenhausgeruch wie ein Alp auf ihrs Brüst, und die
sanften Pflegerinnen mit ihren weißen Flügelhauben ka-
men ihr vor wie Torwächterinnen des Todes. Sie war
in ihrem Leben noch nicht ernsthaft krank gewesen, und
ihre gesunde Iugend sträubte sich mit wildem Grausen
aegen alles, was mit Tod und Verqänglichkeit zusammen-
bing. So ging sie mit angstvoll slatterndem Herzschlag
durch die weiten, hellen Wandelgänge, warf einen flehen-
den Blick cmpor zu dsm großen K'ruzifix an der Wand
und kämpftc mit Aufbietung aller Kraft gegen die aufstei-
gende Uebelkeit, von der ste seit Wochen täglich ein paar-
mal befallen wurde.
Sic lauerte aus Fritz Berthold mit dem leidenschaft-
lich verbiffenen Vorsatz, nicht eher dieses Haus zu verlas-
sen, als bis sie ihn gesprochen habe.
Cs war mittaqs um zwölf Ahr. An den Stations-
küchen wurde die Suppe verteilt. Der Geruch von Fleisch-
brühe rief in dem Magen der Male eine Revolution her-
vor, daß ste sich mit geschloffenen Augen an die Wand
lehnte und nicht zu atmen wagte, um der schrecklichen
Uebelkeit Herr zu werden.
„Sind Sic krank?" sragte eine teilnehmende Stinime
neben ihr.
„Schwester!" wich Male unsicher den sanften Augen
der Pslegerin aus: „Ach bitte . . . könnte ich nicht den
Herrn Doktor Berthold sprechen?"
„Da haben Sie aber Glück, liebes Fräulein! Sonst
siht der Herr Doktor jede freie Minute im Laboratorium
und darf nicht gsstört werden. Aber jeht ist er grad auf
Station zwölf. Cr muß jeden Augenblick hier vorbeikom-
men. Wollen Sie stch nicht so lang ins Sprechzimmer
setzen?"
„Danke vielmals . . ." lächeltc Male mühsam: „Mir
ist schon wieder beflcr. Ich werde hier draußcn warten!"
Cin Glockenzeichen schrillte, die Pflcgerin sah nach
dcr aufleuchtenden Nummer an dem Signalbrett und
eilte ihrer Pflicht nach. Male ging zu dem großsn Kruzi-
fix an der Wand und umklainmerte den sterbenden Lhri-
stus mit beschwörendem Vlick: „Du mußt mir jetzt helsen,
du darfst mich jeht auf gar keinen Fall rm Stich laflcn . .
ach liebcr . . . lieber Gott . . . laß alles gut ausgehen."
Ihr war, als hätte der Christus am Kreuz' lcise ge'lächelt.
Das gab ihr Mut. Sie lehnte an dsr Fensterbrüstung
und schaute aus die grünen Bäume hinaus. Cs regnete
wie feine Vindfädcn vom trüben Himmel, und irgendwie
wirkte der Garten draußen herbstlich, obwohl es erst An°
fang September war.
Vom Cnde des langen Wandelganges dröhnten rasche
Schritte heran. Male wandte sich'nicht um. Sie sühltc
mit der Hellhörigkeit der Liebe, daß es nicht Frih Vert-
hold war, der da kam. Sie sah im Sehwinkel einen wei-
ßen, wshcnden Mantcl an sich vorüberstreifen, drehte scheu
und vorsichtig den Kopf und erkannte den hellblondcn,
peinlich frisiertsn Schops Cberhards, der gleich daraus in
oincm Separatzimmer verschwand.
Und wieder starrts sie auf den verregneten Garten
hinaus. Hinter ihrem Rücken klirrte leise das leere Ge-
schirr zur Stationsküche zurück. Cndlich wurde auf Sta-
tion zwölf eine Tür zugcklappt, und cins warme, dunkle
Männerstimme rief: „Schwester!"
Cilfertige, leise Schritte liefen dem Rufenden ent-
gegen: „Vitic . . Herr Doktor?"
Male hielt mit eiskalten, zitternden Händen das
Fensterkreuz umklammert, und das Herz schlug ihr bis
zur Kehle hinauf. Ihr Vlick hing glasig an dem verreg-
neten Garten... ihre erregten Siüne erfaßten kaum did
Weisungen, die Doktor Fri'tz Verthold der Pflegerin gav-
Dann hörte sie ihn herankommen ... tap . .1 tap - - '
es war, als trete er mit jedsm Schritt aus ihr slattern'
des, geängstigtes Herz. Nun wandte sie sich um und sah
ihm mit trüben Augen entgegen.
Cr stuhte zuerst, und ein peinvolles Unbehagen gi"?
über sein strasfes, ernstes Gesicht. Dann war er mit zw^
langen Sähen bsi ihr und streckte ihr die Hand entgege"'
„Male . . . du?"
Auf ihrer Stirn standen seine, kalte Schweißtropfew
Sie suchte nach Worten, und rhr siel kein einziges ein vo"
dcm, was sie sagen wollte. Sein Blick ging fächlich pr"'
fend über ihr schmalgewordenes Gcstcht mit den tiefui"'
schattsnden Augen: „Bist du krank . . . Male?"
„Ia!" wür'gte sie heraus: „llnd du mußt mir helfe"!
Cr schob sie ohnc vicl Ilmstände in ein kleines, leeres
Sprechzimmer, drückte ste auf den Stuhl neben dc>"
Schreibtisch und sehte sich dicht vor fte hin: „Also - - '
wo fehl's?"
Sie schwieg mit geschloflenen Augen und erdfahlew
Gesicht. Da klopste er leise und gütig äus ihre verkramp.!'
ten Hände: „Na . . . na . . . kleine Male. . . ich frE
dich doch nicht!"
Ilnd wieder keine Antwort.. nur cin zittcrndes
zen. Cr streichelte bcruhigend ihr blasses Gesicht: „Avrr
Male . . . dummss Mädel . . . was hast du denn n»r -
Sie rührte sich nicht. Sie saß mit geschlosserw"
Augen und sagte tonlos: „Ich bekomme ein Kind!"
Wie von eincr Natter gebiffen, sprang er auf tzw
betrachtete sie in faffungsloscr Bestürzung, Sie strru -
mit kurzsm Vlick sein Gesicht und lächelte bitter:
unbesorgt. . . Frih . . . du bist nicht der Vater!" ^
Dieses bittcre Lächeln tras ihn wie ein Schlag
Gesicht, und er schämte sich vor ihr bis in die ticfste Sce
hinein. Da klammerte sic flehend seinen Arm: „Ich
kein Kind gebrauchen . . . Fritz . . . du mußt mir
fen . . ." ...
Und er darauf . . . leise ... mit tödlichcm
„Nicht. . . und wenn du meine leibeigene Schwcw
wärst!"
Sie wurde weiß wic ein Leintuch vor diesem cntschr
denden Spruch: „Dann geh ich in die Saale. . - 3'^^
so wahr mir Gott helfc!"
Cr sah finstcr auf sie nieder: „Wer ist der Dater-
Sie lächelte trüb: „Das weißt du doch ganz gc""
wer es außer dir nur sein kann!"
„Heinrich Cckert?"
„Heinrich Cckert! Cr hat mir alles verziehen!" ^
Fritz Verthold ging mit langen Schritten i" ^ ,
kleincn Raum aus und nieder: ^,Weiß er deinen -a
stand?"
„Cr wciß ihn!"
„Na. . . und wie stellt er sich dazu?" .
„Ach . . . der möchte mir am liebsten gleich stüi ^
abnehmen, um es vor mir zu beschützen!"' .. so
Frih Berthold blieb stehen: „Dann werdet M
schncll wie möglich heiraten!" ..
Und wieder ihr bitteres Lächcln: „Glaubst
wenn das so einfach wäre. . . ich wäre jemals hw ^
gekommen?" , >
kFortsetzung -
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