DOI Heft:
Heft 4
DOI Artikel:Brieger, Lothar: Ludwig Meidner
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.21394#0093
Ludwig Meidner
unaufhörlich und zäh,
bald voller Verzweif-
lung der Vergeblich-
keit,bald mit der Freude
kommender Überwin-
düng zu kämpfen. Durch
diefe leidenfchaftliche
Änftrengung gewinnt
fein ganzes Schaffen
diefe immer ruhelofe
auffällige Erregtheit,
diefe — man möchte
fagen — fortwährende
feelifche Muskelanfpan-
nung. Und gerade diefe
Erregtheit wird dann
zu dem, was an feiner
Kunft neuer Udert ift
und neue Möglichkeit,
diefe Erregtheit wird
zur Sprache feiner Per-
fönlichkeit.
* *
*
Es gibt vielleicht
bisher im Deutfchland
des zwanzigften Jahr-
hunderts keine ßildniffe,
in denen derMaler allen
Äußerungen des Gei-
ftigen mit einem fo wachen Spürfinn, mit einer fo beinahe pedantifchen Äufmerkfamkeit
nachgegangen ift, wie das Ludwig Meidner in feinen Bildniffen tut. Äls man 1918 den Saal
bei Caffirer in Berlin betrat, in dem er zum erften Male in größerem Umfange ausftelUe,
empfand man faft ein Grauen vor der ungewohnten Schamlofigkeit, mit der hier an allen
Uländen die Seele bloßgelegt wurde. Einzelheiten der Geßd)tsbildung, die einer
früheren Kunft nur Ueilerfcheinung bedeuteten, gewannen eine ganz neue Stellung und
Überlegenheit gegenüber der anderen Malfläche durch die Hartnäckigkeit, mit der [ich
eine beftimmte Individualität gerade \)ier konzentrierte. Man fühlte ordentlich, wie das
Geficht in der Ulirklichkeit und in der Kunft gerade von hier aus neu gefchaffen wurde, und
man empfing einen zwingenden Eindruck geißtiger Befonderheiten, deffen fuggeftiver Stärke
man [ich nicht entziehen konnte. Ein Naturalift war urfprünglich an das Modell herangetreten,
aber dann war in dem Naturaliften der Vifionär ftärker geworden. Älle diefe Bilder bedeuten
nichts anderes, als den Kampf zwifchen dem Naturaliften und dem Vifionär, einen Kampf,
der hart auf hart geht und Form und Farbe mit feiner feffellofen Leidenfchaftlichkeit auf und
umwühlt. Älle diefe Menfchen mit den großen Äugen und den in jede Fiber angefpannten
Geficßtszügen bekommen etwas Horchendes, in [ich hinein Horchendes, nicht weil fie das
tun, fondern weil der Maler es tut, und weil er fein Horchen in fie l)ineinverlegt.
Ludwig Meidner, Im Kaffee. Handzeicbnung-
Befitser: Graptjifdjes Kabinett Neumann, Berlin.
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unaufhörlich und zäh,
bald voller Verzweif-
lung der Vergeblich-
keit,bald mit der Freude
kommender Überwin-
düng zu kämpfen. Durch
diefe leidenfchaftliche
Änftrengung gewinnt
fein ganzes Schaffen
diefe immer ruhelofe
auffällige Erregtheit,
diefe — man möchte
fagen — fortwährende
feelifche Muskelanfpan-
nung. Und gerade diefe
Erregtheit wird dann
zu dem, was an feiner
Kunft neuer Udert ift
und neue Möglichkeit,
diefe Erregtheit wird
zur Sprache feiner Per-
fönlichkeit.
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Es gibt vielleicht
bisher im Deutfchland
des zwanzigften Jahr-
hunderts keine ßildniffe,
in denen derMaler allen
Äußerungen des Gei-
ftigen mit einem fo wachen Spürfinn, mit einer fo beinahe pedantifchen Äufmerkfamkeit
nachgegangen ift, wie das Ludwig Meidner in feinen Bildniffen tut. Äls man 1918 den Saal
bei Caffirer in Berlin betrat, in dem er zum erften Male in größerem Umfange ausftelUe,
empfand man faft ein Grauen vor der ungewohnten Schamlofigkeit, mit der hier an allen
Uländen die Seele bloßgelegt wurde. Einzelheiten der Geßd)tsbildung, die einer
früheren Kunft nur Ueilerfcheinung bedeuteten, gewannen eine ganz neue Stellung und
Überlegenheit gegenüber der anderen Malfläche durch die Hartnäckigkeit, mit der [ich
eine beftimmte Individualität gerade \)ier konzentrierte. Man fühlte ordentlich, wie das
Geficht in der Ulirklichkeit und in der Kunft gerade von hier aus neu gefchaffen wurde, und
man empfing einen zwingenden Eindruck geißtiger Befonderheiten, deffen fuggeftiver Stärke
man [ich nicht entziehen konnte. Ein Naturalift war urfprünglich an das Modell herangetreten,
aber dann war in dem Naturaliften der Vifionär ftärker geworden. Älle diefe Bilder bedeuten
nichts anderes, als den Kampf zwifchen dem Naturaliften und dem Vifionär, einen Kampf,
der hart auf hart geht und Form und Farbe mit feiner feffellofen Leidenfchaftlichkeit auf und
umwühlt. Älle diefe Menfchen mit den großen Äugen und den in jede Fiber angefpannten
Geficßtszügen bekommen etwas Horchendes, in [ich hinein Horchendes, nicht weil fie das
tun, fondern weil der Maler es tut, und weil er fein Horchen in fie l)ineinverlegt.
Ludwig Meidner, Im Kaffee. Handzeicbnung-
Befitser: Graptjifdjes Kabinett Neumann, Berlin.
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