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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 14.1900

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8. Heft
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Revel, ...: Madame Réjane im Königl. Schauspielhause zu Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.22226#0188

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Madame Kejane im König!. Schauspielfiause zu Berlin

n---- ■ [Nachdruck verboten.]

fs ist ein herrliches und würdiges Zeichen unserer Zeit, des dämmernden Die Duse aber weiss es nicht. Es braucht nicht erst bewiesen zu werden, dass
Erwachens eines neuen Jahrhunderts, dass an einem und demselben Tage eine Vollblutitalienerin nie den oberflächlichen Charakter einer Pariserin treffen
in Frankreich die deutsche und in Deutschland die französische Kunst einen wird. Und so versagen auch einer Duse die ersten Akte einer Cameliendame,
durchschlagenden Sieg errungen haben, in denen das Grisettentum betont werden
und was vor einiger Zeit der Pariser ■HnHEflflHHHHflHHI^HHHMRHHNi^^HHHHHiM^H^H^Hflfll allerdings in den beiden letzten
Dirigent Colonne sagte: „Es ist nicht nur I Akten findet die Duse keine Rivalin. Wo
Recht, sondern eine heilige Pflicht dieser 1 sie zum ernsten Drama heranreift, ist
beiden grössten Nationen, Frankreich H die Duse unerreicht. Die Rejane hütet
und Deutschland, Hand in Hand zu gehen, | sich sorglich vor diesen Momenten, weil
vor allem auf künstlerischem Gebiet" — j sie genau fühlt, dass ihr da die seelische
wurde durch die Gleichzeitigkeit dieser i Tiefe fehlt. Die Charaktertiefe ist ein-
Kunstereignisse zur Wahrheit: In Paris j & lägipNeüSpSk §3&£ > I mal nicht Sache der Französin. Und
hatte der deutsche Geist eines Richard j HH^H '* es hat sehr Wunder genommen, dass
Wagners gesiegt und die deutscheste ^VflBBi %5<8j ? »'"" V * *' * sich die ReJane der Darstellung einer
(.'•per „Tristan und Isolde'' von den Madame Lavalette angenommen hat, die
Franzosen mit Begeisterung aufnehmen i ihr nicht besonders zu liegen scheint,
lassen; in Berlin hatte der ritterliche, | BBBHk'*"^^ am - ' ''iS ,'• j Der letzte Akt versöhnt allerdings
erhabene Kunst-Tin Kaiser Wilhelms IL j .. wieder vollkommen mit ihr; durch eine
endgiltig über alle Vorurteile den Sieg j WflP Bewegung kommt dann wieder, sobald
errungen und der grössten französischen I . . '* , sie -ich und den Gatten gerettet, die
Darstellerin, Gab Helle Rejane, mit Gefahr verschwunden sieht, der Ueber-
ihrer Truppe des Vaudeville gestattet, ,¥/' //. „•" ^^jgjHHHB \ mut, die Schalkhaftigkeit, das angeborene
vor dem Hof und der ersten Gesellschaft Komödiantentum der Französin zum
Berlins auf den geheiligten Brettern des #Sir£ * s' •' Durchbruch und wir haben unsere
patriotischen königlichen Schauspiel- « ELir I Rejane wieder.

hauses zweimal zn spielen, eine That, ,•*» i Damit soll aber nicht etwa gesagt

A _l «Pf« V i

würdig eines grossdenkenden, ki'uet j sein, dass die Rejane nicht tiefer Em-

lerisch feinfühlenden, echten Fürsten. HHHHL JHk -SH pfindungen fähig wäre; ihre Empfindun

Und in der That: die Wahl des *<-3f_V | gen sind eben relativ tief, d. h. sie gehen

Kaisers kunnte keine Würdigere ireifen, j «pH» nicht so tief wie bei uns, wie bei den

als Frau Rejane, welche patriotischer war j _Sr^3Kl_r Italienern. Ihre Tiefe ist nichts weiter

als Mail. Sarah Bernhardt, die nicht kiinM [ als eine Laune, während welcher sie

leriseh genug i.-t, einzusehen, das- ,|;,. [ ■ _ sieh wirklich einbildet, tief zu sein.

Kunst ein kosmopolitisches Gut ist, — Sie ist der Typus der Französin,

und es vorzieht, mit einem bereits ver- } *>/.' -| P&üJ' ^m ^as ^esen unc^ ^ie Eigenart der

alteten Germanenhass zu posieren. Rejane kennen zu lernen, muss man

Es ist stets gefehlt, bei der Be- HBHgg oJUBBt, >hre »ma cousine" und ihre. Leistung

urteilung einer Künstlerindividualität Ver- jLjPSP y'V'tai' 111 Henri Beeques geistreicher Komödie

gleiche mit anderen zu ziehen, weil man ^HPSEBHE -. "' - | -;l' 'arisienne" gesellen haben. Die listige

dadurch schon dem betreffenden Künstler Tugend, das Kokettieren mit der Sünde,

seine Individualität a priori nehmen HHBBHHH|B' ' I Jß" die oft gaininartig zum Durchbrach

würde. Doch wir finden bei vielen unserer f , kommende Ausgelassenheit, — das ewig

grössten Künstlerinnen, dass sie an- dem | B ' . - nervöse Suchen nach Zerstreuung und

Rahmen ihrer Individualität herausgehen \ , Abwechslung, — darin liegt ihre Eigen-

und sich, aus Ehrgeiz, alles spielen zu art, und namentlich darin, wie sie die

wollen, ohne es naturgemäss zu können, i J Sünden der Frau, das Vergnügen an

dadurch künstlerisch nur schädigen. Frau H^hF i dem Verbotenen als ganz natürlich und

Rejane wird dies niemals thim. Sie \ , i selbstverständlich hinstellt. Die ganze

verzichtet auf eine Wiedergabe idealer I IffiMRw/fc ' ' grosse Wahrheit ihrer Darstellung birgt

dichterischer Gestalten, verzichtet auf j '^^V/;. ! eine kostbare Satire in sich, die ihr

deklamatorische Verse, verzichtet auf die \rj keine lebende Künstlerin nachzuahmen

Darstellung unwahrer Bühnengestalten, imstande ist.

die lediglich noch durch Bühneneffekte , . . . JP } Sie beschränkt sich meist auf jene

ihre Wirkung finden. ' <'^g^^MHHHHHH|H Rollen, aus denen wir die Sonnenseite

Die Rejane bleibt dabei, die echte <®* JP " MWnmfm!' des menschlichen Lebens herausfinden

Pariserin mit ihrem Stich in das Kokotten- können, während dieDuse jene Charaktere

tum m allen ihren möglichen und un- \ iijnw J ■B_k. darzustellen liebt, die mehr oder weniger

möglichen Situationen auszubeuten, und ^•fljpr^s'' jr MM mv* i. "JfMmr^mw übermenschlich sind. Die von der Rejane

wenn sie auch öfters etwas übertreibt, Jr MF J ■ dai'gestellteu Personen glauben wir alle

so thut sie es doch nur derart, dass man , JfF zu kennen; wir glauben es nicht nur,

sich jedesmal sagt: „Die echte Pariserin S Mm*. ■ sondern wir kennen sie wirklich, wir

in ihrer Ausgelassenheit kann es auch Jr^ ^Sfe, sind ihnen begegnet. Der Duse glauben

einmal so machen." Sie wird immer wir nur; diese Gestalten kennen wir

natürlich bleiben, mag sie die anständige \v v ."'m'. Ä , •* . *nicht. Dass sie uns möglich, wahrhafte

oder auf Abwege geratene Frau des >w ipP*^ Menschen erscheinen, das ermöglicht uns

Salons, mag sie ein Geschöpf der Kabarets, eben das eminent wahre Spiel der Duse.

mag sie die grande cocotte der Boule-___ _;__,__: -________ AI Wenn wir sie gesehen, verlassen wir stets

vards und chambres separees darstellen. ... gedrückt, in pessimistischer Stimmung

1 Madame Rejane. ° ' r °

Und das kann man nicht von jeder das Theater, — nach der Rejane aber stets
sagen. Die Duse wagt sich an eine Frou-Frou, ohne den Chic der Pariserin, angenehm erfrischt, wie nach Genuss eines Glases gut frappierten Sekts. Man
die Leichtigkeit der Causerie, den unverwüstlichen Leichtsinn, der in der Sterbe- kann leichter zehnmal hintereinander die Rejane, als zweimal hintereinander die
scene der armen Gilberte so unendlich rührend wirkt, zu besitzen. Die Duse Duse ungestraft sehen. — Schon das ganze Wesen der Rejane, ihre Toiletten,
bleibt immer Duse und wird nie zur Frou-Frou; die Rejane aber ist sie. Sie das Rauschen ihrer Jupons stellen sofort eine Verbindung zwischen ihr und
würde sich schwer hüten, einen echt italienischen Typus wie die Santuzza oder dem Publikum her, welche sich die Duse erst erkämpfen muss. Jedenfalls ist die

Locandiera wiederzugeben, weil sie weiss, dass sie ihn nicht darstellen könnte. Rejane die in sich abgeschlossenste, einheitlichste Künstlerindividualität. Revel.

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