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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 14.1900

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19. Heft
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Bethusy-Huc, Valeska: Wanderndes Volk, [5]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22226#0463

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MODERNE KUNST.

301

Im Reichstage: Die Budget-Kommission.

-^Wanderndes Wölk.

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b ■ y> ,

Roman von Moritz von Reichenbach.

(Valeska Gräfin Bethusy-Huc.)

r [Fortsetzung.] [Nachdruck verboten.]

tir jungen Mädchen sind Deiner Schwägerin unbequem," sagte Liska »Wie kannst Du denn die Freizügigkeit aufheben wollen bei einem Volk,
eines Tages zu Jutta, „sie hat es lieber, wenn nur junge Frauen da das sich so rapide vermehrt wie das unsre," rief Hasso Settier dazwischen.
Q^f^ sind, und für Redensarten wie „garde aux enfants" oder „to-day we are „Wenn eine Scholle die Leute nicht mehr ernährt, ist es natürlich, dass sie sich
in the nursery", wie sie sie neulich in unserer Gegenwart den Herren zurief, einen anderen Nährboden suchen müssen, das ist eine uralte Folgeerscheinung
dafür fühle ich mich denn doch zu erwachsen." des Kampfes ums Dasein — früher vollzog sie sich in Massen, heute in
So kam es, dass die beiden Mädchen viel unter sich verkehrten und Jutta gemässigterer Form durch all die Sicherheitsventile, die der moderne Staat den
sehr oft nach Rochtitz hinunterradelte. Dort war alles unverändert, nur dass unwiderstehlichen Srömungen öffnet und öffnen muss, um Katastrophen vor-
Herr von Doltau sich immer mehr in seine philanthropischen Ideen verrannte, zubeugen. Die Freizügigkeit ist so ein Ventil, sie ist heutzutage eine Not-
was ihn in immer schärferen Gegensatz mit seinem Schwiegersohn brachte. wendigkeit und deshalb müssen wir damit rechnen!"

„Wenn Ina doch ein bischen vermitteln wollte," klagte Jutta, „aber die „Na Du siehst doch aber das Resultat vor Dir," erwiederte Herr von Doltau,

amüsiert sich bei Ellinor und kümmert sich um nichts. Und Papa wird mir „ein hübsches, blühendes Mädel wie die Sefla — elend zu Grunde gegangen

ganz trübsinnig über dem ewigen Streit mit Hasso!" an den Folgen des Herumvagabundierens" —

Um ihrem Vater eine Abwechslung zu verschaffen, hatte sie eine Gesang- „Nicht daran, sondern an ihrer eigenen Haltlosigkeit oder schlechter Kon-
lehrerin eingeladen, und wenn Herr von Doltau verärgert am Abend aus der stitution, oder wie Du es sonst nennen willst," behauptete Hasso Settier. „Wir
Wirtschaft kam, erwartete ihn ein kleines Konzert, über dem er dann seine leben eben nicht in einer Zeit der Treibhauspflanzen — schwache Individuen
trüben Gedanken vergass. gehen freilich leichter unter, wenn sie sich in den Strudel stürzen, aber starke
Eines Nachmittags fand Jutta, als sie nach Rochtitz kam, die Gesanglehrerin, lernen ihre Kräfte gebrauchen und behaupten sich — das war das Schicksal
Fräulein Armand, allein auf der Veranda, während durch die offenen Fenster ganzer Völker zu Zeiten der Hordenwanderungen und das ist das Schicksal der
von Herrn von Doltaus Zimmer, das an die Veranda stiess, die lauten Stimmen einzelnen in den modernen Völkerwanderungserscheinungen. Aber die Allge-
des alten Herrn und seines Schwiegersohnes Hasso Settier klangen. meinheit hat nichts verloren an den schwachen Völkern und verliert nichts an
„Wo ist Liska?" fragte Jutta. den schwachen Individuen" — —

Fräulein Armand wies nach den offenen Fenstern hin: „Sie ist drin, die „Das ist eine Philosophie des Egoismus und der Gemeinheit," brauste

Herren streiten wieder." Herr von Doltau auf, „da thue ich nicht mit" — —

„Was hat es denn gegeben?" fragte Jutta. „Dann kommst Du eben unter die Räder" — Liskas Stimme legte sich

Fräulein Armand erzählte, dass, gerade als Graf Settier gekommen sei, auch bittend, beschwichtigend dazwischen.

Liska von einem Krankenbesuch im Dorf heimgekehrt wäre. „Ich will ihr zu Hülfe kommen," rief Jutta, „es wird die beiden doch

„Die Kranke war gestorben," sagte Fräulein Armand, „und Liska war genieren, sich in meiner Gegenwart so weiter zu zanken."

traurig, denn sie hatte die Arme von Kindheit an gekannt, und sie war noch Und in der That unterbrach Juttas Eintritt das erregte Gespräch,

ganz jung, eine Sachsengängerin, die ein Unglück gehabt hatte — eine Liebes- Zu dem gewohnten musikalischen Tagesschluss kam es aber heute nicht,

geschichte, wissen Sie, Comtesse, der Mann hatte sie im Stich gelassen und nun Als Piasso Settier sich verabschiedete, erklärte Herr von Doltau Rechnungen

kehrte sie krank und elend nach Hause zurück. Vorige Woche hatte sie ein machen zu müssen, und Liska und Fräulein Armand begleiteten Jutta, die heut

Kind — und nun ist sie tot, die arme Sefla." — zu Fuss gekommen war, ein Stück Weges nach Tannwald.

„Wie, die Sefla vom alten Schmied?" rief Jutta — „mein Gott, wie leid An dem Birnbaum auf der Hälfte des Weges verabschiedeten sie sich,

thut mir das!" — Sie hielt inne, weil Herrn von Doltaus Stimme so besonders „Weisst Du noch, Liska, hier sprachen wir die beiden Sachsengängerinnen

laut und grollend zu ihr herausklang. vor einem Jahre," sagte Jutta, stehen bleibend, „und nun ist die eine tot und

„Das kommt von der Freizügigkeit," rief er, „kein Zusammenhang mehr die Planka — weisst Du, was aus der wurde?"

in den Familien, die Regierung ist schuld an dem Unglück, was dabei heraus- „Ja, sie haben es mir erzählt. Die ist in Sachsen geblieben, aber nicht

kommt, und wer es gut mit der Jugend meirK, müsste das Gesetz aufheben." — als Feldarbeiterin, sie ist llausmagd in einem Gasthaus auf dem Lande, ihre

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